Alle Schattierungen von Grün umgaben sie. Hellgrün, dunkelgrün bis hin zum erdigen grau und braun der Erde. Sie sah sich um. Eine Fototapete, die nahtlos ins Draußen überging, das durch das große Panoramafenster zu sehen war: Das wuchernde Waldgrün eines regenreichen Sommers. Ihre Glieder fühlten sich zerschunden an. Schlaglichtartig kamen die Erinnerungen: Ein inoffizieller Marathonwettkampf in Gruppen durch die Berge. Sie hatte eisern trainiert in den letzten Wochen neben all dem Stress im Job. Und dann? Sie erinnerte sich klar an Vincent und Doreen, ihre Laufpartner, erinnerte sich an die Ankunft, an den ersten Tag. Doch was war dann passiert? Und wo war sie gelandet?
Sie klappte die Decke zurück, kariert und flauschig und sah den sauberen und straff gewickelten Verband, der an ihrem linken Knöchel prangte. Beim Versuch sich aufzusetzen stachen Kopfschmerzen zu und ihr wurde übel. Speiübel. Mit Mühe atmete sie ein und aus bis die Übelkeit nachließ. Vorsichtig rückte sie etwas zurück, um sich an der Wand anzulehnen und tastete an ihrem Kopf ein Pflaster an der Schläfe. Sie trug noch die kurze Hose und das T-Shirt. Auf dem rechten Bein waren Matschflecken zu sehen. Ihre Hände ... ein Bild von ihren Händen tauchte vor ihrem geistigen Auge auf: Voller Matsch, die Fingernägel eingerissen und schmutzig. Jetzt waren sie saubergewaschen. Hatte sie ihre Hände angesehen, als sie gestürzt war?
Ein Poltern riss sie aus ihren Versuchen sich zu erinnern. Die Tür öffnete sich und herein kam ein Mann mittleren Alters mit einem Hund. "Da sind Sie ja wach!", sagte er auf deutsch mit starkem tchechischem Akzent und trat schnell einen Schritt auf sie zu. Blaugraue Augen musterten sie eingehend. "Sie sahen ganz übel aus. Tut mir leid." Er hatte ihr Zurückweichen bemerkt und hob beschwichtigend die Hände. Dann strich er sich durch sein zerzaustes schwarzes Haar, das mit grauen Strähnen durchzogen war.
"Was ist passiert?", fragte sie schnell und streichelte geistesabwesend den schwarz - weißen großen Hund, der sich neben ihr Bett gesetzt hatte.
"Sie sind gestürzt, gefallen, sagt man so?"
Sie nickte. Ihr Blick fiel auf seine in selbstgestrickten Socken steckenden Füße. ´
"Fido hat sie gefunden – jetzt wissen Sie wie mein Hund heißt. Ich heiße Gregor. Sie sind?" Er sah sie wachsam an.
"Meda Schmitt."
"Mit dem Unwetter haben sie nicht gerechnet. Oder sie haben es unterschätzt, wie viele Wanderer auch. Doch es ist gefährlich und hier ist es einsam. Letztes Jahr gab es einen Rutsch der Erde. " Er knöpfte jetzt seine Jacke auf und zog mit Schwung den einzigen Stuhl des Raums neben ihr Bett. "Brauchen Sie etwas? Sie sind bestimmt hungrig."
Sie schwieg mit gerunzelter Stirn.
"Ich mache jetzt Kaffee und Brote", stellte er fest, erhob sich und verschwand in der Küche.
Sie lauschte den Geräuschen. Auch Fido hatte sich erhoben und war Gregor gefolgt. Was war nur passiert? Wo waren die anderen? Die Kopfschmerzen stachen abermals zu und sie drückte ihre Hand auf ihren Magen. Speichel sammelte sich in ihrem Mund, als sie den Kopf drehte.
"Hier, essen Sie." Er stellte ein Plastiktablett, das mit Blumen bemalt war auf das altmodische Nachttischchen. Beides stammte aus den 70-ern schätzte Meda. Eine Scheibe dunkles, körniges Brot lag auf einem dunkelblauen irdenen Teller. Beides sah selbstgemacht aus. Rustikal, etwas urtümlich, aber schön. Das Brot war mit Butter bestrichen und verströmte einen kräftigen Duft. Ihre Hände zitterten, als sie danach griff. Er schien es nicht zu bemerken und tätschelte dem Hund den Kopf und sprach mit ihm leise auf tchechisch.
Meda glaubte, nie etwas Köstlicheres gegessen zu haben. Mit jedem Bissen fühlte sie etwas Kraft in sich strömen. Die dick gestrichene Butter schmolz in ihrem Mund, das Brot schmeckte kräftig säuerlich und war mit Kümmel gewürzt. Sie kaute und schluckte. Einige Minuten herrschte Stille. In diesem Moment war ihr egal, was passiert war, wenn sie nur ihren Hunger stillen konnte, die Schmerzen vergingen und ihre Kraft wiederkehrte.
Er saß mit seiner Kaffeetasse, die aus dem gleichen Material bestand, wie der Teller und fing ihren Blick auf.
"Wissen denn die anderen Bescheid?" Sie nahm einen großen Schluck Wasser, stellte das Glas ab und griff nach ihrer Tasse, in der schwarzer, starker Kaffee dampfte.
"Da waren keine anderen. Sie lagen ganz allein da. Fido hat gebellt wie verrückt, so habe ich Dich entdeckt." Er hatte ins Du gewechselt, was sie bemerkte, aber nicht störte. "Du warst ohne Bewusstsein", fügte er hinzu.
Meda fasste sich an die Schläfe und verzog das Gesicht.
Er griff nach ihrer Hand, die sich warm und bestimmt um ihre schloss. "Vorsicht. Ich habe die Wunde versorgt – auch den Knöchel. Kann sein, dass sie eine Gehirnerschütterung haben. Wahrscheinlich sogar. Seit zwei Tagen ..."
"Seit zwei Tagen bin ich hier?"
"Sie haben geschlafen, waren völlig erschöpft, aber ich habe immer wieder ihre Pupillen untersucht ... und bin sicher, dass es nichts Ernstes ist." Als er ihren entsetzten Blick bemerkte, fügte er hinzu: "Ich bin Arzt. Das ist das Jagdhaus von meinem Großvater. Eher Hütte." Er lächelte.
Für einen Moment machte sich Erleichterung in ihr breit. Im nächsten Moment kamen die Fragen. Wo waren die anderen? "Da war sonst niemand?", fragte sie nochmal. Wo waren Vincent und Doreen. Und die anderen Teams? Die mussten doch auch hier in der Nähe vorbeigekommen sein? "Sie haben sonst niemanden hier gesehen? Keine anderen Läufer?"
"Doch ... da waren einige, ich sah welche, aber ein Tal weiter. Und seit einigen Tagen niemand mehr. Vielleicht haben sie wegen des unbeständigen Wetters abgebrochen?"
Ein Gedanke sickerte langsam wie Regen in die schon feuchte Erde in ihr Bewusstsein. Die große, undenkbare Frage formierte sich in ihr, baute sich wie eine Person vor ihrem inneren Auge auf. Kleine Begebenheiten, winzige Szenen und Reaktionen der beiden kamen ihr auf einmal in den Sinn und versuchten sich zu einem Bild zusammenzufügen, das sie noch nicht bereit war anzusehen. "Hat denn niemand nach mir gesucht?" Die Frage hallte nach.
Er schüttelte mit gerunzelter Stirn den Kopf, streichelte dem Hund noch immer über den Kopf. "Nein. Aber das Wetter war auch sehr schlecht. Kein Netz hier außerdem. Nicht einmal ein Hubschrauber kann fliegen bei dem Wetter."
Sie schämte sich augenblicklich für die Vermutung, dass die beiden hätten sie loswerden wollen. Warum auch. Es stimmte wohl, dass sie überempfindlich und paranoid war. Das hatte Doreen ihr einmal an den Kopf geworfen. Wenn den beiden etwas passiert war? Mitten in den Bergen. Und sie saß hier und verdächtigte sie. Meda schüttelte den Kopf.
Stefanie D. Seiler
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