Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann.

Fundstücke

1) If Russia Can’t Defeat Ukraine, Then Could The Soviet Union Have Conquered Europe?

Did our game answer the question of whether the Soviet Union could have conquered Western Europe? The answer is a definitive...maybe. If you believe that the Soviet military of the late 1980s was powerful and competent – as NATO itself feared – then The Third World War offers a plausible simulation of how a Soviet invasion of Western Europe might have transpired. However, if you believe that the fumbling Russian military in Ukraine faithfully reflects its Soviet ancestor, then the game was a fable. A fantasy based on Kremlin propaganda, and the fears of Western hawks eager to justify larger defense budgets. Instead of crossing the Rhine, those Soviet tank columns would have barely crossed the West German border before they ran out of gas. Though to be fair, we can’t be sure how well many of the NATO armies would have performed in a full-scale war. In the end, my crystal ball is no better than yours. A guess – and no more than a guess for such a vast counterfactual – is that the truth falls somewhere between these two extremes. Today’s Russian military inherited the failings of its Soviet progenitor. But the Soviet Union could also put 200 divisions and 50,000 tanks into the field in 1989, before the post-Soviet cuts decimated the armed forces. Even if the Soviet military suffered the same flaws now seen on the battlefields of Ukraine, it might have had enough mass to compensate. Does this have implications for the current Ukraine war? Again, the answer is maybe. Our World War III game featured a Soviet invasion big on mass and short on time. Russia’s invasion of Ukraine is short on mass, but potentially long on time if Russia – or Ukraine — opts to prolong the war in hopes of wearing down the enemy and securing better peace terms. Nonetheless, there is a common denominator to both our fictional World War III and the real-life Ukraine conflict: the Russian war machine is less than the sum of its parts. The bear is fierce, but it can be tamed. (Michael Peck, Forbes)

Für mich als Brettspiel-Nerd ist Pecks Ansatz natürlich besonders spannend. Diese Cosims (Kurzform von "Conflict Simulator", das Genre, in dem das beschriebene Spiel funktioniert) sind ja nicht so mein Ding; ich habe zwar anderthalb davon (Falling Skies und Twilight Struggle), aber ich bin nie recht damit warm geworden. Aber gerade der Detailgrad der Regeln und die unbedingte historische Verortung, die die Dinger für mich eher unattraktiv machen - zu sehr Simulation, zu wenig Spiel - machen sie natürlich für solche Planspiele interessant. Das US-Militär setzt die in Offizierskursen auch immer wieder ein. Das ist, nebenbei bemerkt, eine deutsche Tradition: "Kriegsspiele" (im Englischen immer noch "war gaming", im Deutschen aus Gründen leicht aus der Mode gekommen) wurden im preußischen Generalsstab im 19. Jahrhundert erfunden.

Aber zum Artikel selbst: ich erinnere mich noch an ein Buch aus den 1980er Jahren über den maroden Zustand der Roten Armee, das ich einmal gelesen habe. Bereits damals waren professionelle Beobachtende sehr skeptisch gegenüber den angeblichen Fähigkeiten dieser Armee. Es zeigt sich ein grundsätzliches Problem jeder Armee, das wir vor einigen Ausgaben auch mal für China und Taiwan diskutiert haben: eine Armee, die jahrzehntelang nicht im Einsatz stand, kann unmöglich wissen, wie sie im Ernstfall performt. Und wie der Artikel das ja auch darstellt, gilt dasselbe für die NATO. Ich glaube, die einzige Armee, die im Ernstfall überperformen würde, ist die Bundeswehr. Aber auch nur, weil die Erwartungen an sie dermaßen niedrig sind, dass sie sie kaum reißen kann.

2) Nicht auf Höhe der Zeit

Wie also könnte die FDP auf die Höhe der Zeit kommen? Sie müsste die neuen Notwendigkeiten auf innovative und kreative Weise mit ihren alten Überzeugungen verschränken, sie bräuchte einen nachhaltigen Liberalismus. Wenn man beispielsweise nicht so viel Staat will, wie es die FDP ständig behauptet, dann muss man halt auch etwas dafür tun. Wenn etwa der Liberale in sein Auto steigt und ohne Tempolimit die Autobahn langbrettert, dann lachen sich Mohammed bin Salman und Wladimir Putin eins und erhöhen via OPEC die Ölpreise, die der Staat dann wieder deckeln oder entlasten muss, wofür er was aufnimmt? Genau: Schulden. Ja, das klingt ungewohnt, aber so hängen die Dinge nun mal zusammen: keine Schuldenbremse ohne Tempolimit. Wer weniger Staat will, muss weniger Auto fahren, fliegen, Fleisch essen, weniger Klamotten kaufen und nicht so viel Golf spielen, sonst rationiert der Staat bald in jedem zweiten Sommer das Wasser, jeder Notstand stärkt den Staat, so einfach ist das. Die Botschaft einer erneuerten FDP an ihre Wähler müsste lauten: Nehmt euer Geld und kauft euch eine teure Geige oder einen Gesangslehrer oder ein Gemälde oder einen Plattenspieler von Bang & Olufsen, irgendwo muss die Kohle ja hin. Aber hört auf, Nebenwirkungen zu erzeugen, die immer noch mehr Staat nötig machen, um darüber anschließend wieder rumzujammern. Ihr wohlhabenden FDP-Wähler seid es, die den Staat fett machen, so ist die Lage. (Bernd Ulrich, ZEIT)

Ich bin überhaupt nicht überzeugt von diesem Genre "Die Partei, die ich eh nie wählen werde, muss machen, was ich gut finde, um wieder Erfolg zu haben". Würde ich eine FDP entlang der von Ulrich gezeichneten Linien begrüßen? Absolut. Würde ich sie wählen? Vermutlich nicht. Ich sehe einfach nicht, wie Leute, die grundsätzlich in das Wählendenreservoir der FDP fallen, eine noch so liberal formulierte Degrowth-Policy stützen würden. Das erinnert mich an all die tollen Ratschläge an die SPD, doch bitte die Reformpolitik weiterzutreiben und zu verschärfen, die sie in den 2000er Jahren bekommen hat.

3) „Es geht um Transformation, nicht nur um Digitalisierung“ (Interview mit Saskia Esken)

Frau Esken, schon wieder eine Kommission, die sich mit digitaler Bildung befasst. Warum braucht die Nation so etwas?

Wenn Sie genau hinschauen, dann sehen Sie, dass das Digitale nur ein Aspekt der Arbeit der Kommission für „Bildung in der Transformation“ ist. Unter dem Dach der Gesamterzählung „Gestaltung der Transformation“ ist die Digitalisierung natürlich ein wichtiger Aspekt. Weitere Treiber der Transformation sind unser Ziel, so bald wie möglich klimaneutral zu wirtschaften und zu leben, aber auch der demografische Wandel und nicht zuletzt die geopolitische Zeitenwende. Was aber sind die Grundlagen, damit Mensch und Gesellschaft diese Veränderungen nicht scheuen, auch nicht nur ertragen, sondern im Idealfall aktiv mitgestalten? Da ist Bildung als Mittel zur Emanzipation des Menschen ein ganz wichtiger Schlüssel. Deshalb diese Kommission. [...]

Als das neue futuristische KMK-Papier zu digitalem Lernen vorgestellt wurde, fiel ihm dazu ein, dass Präsenz das Nonplusultra von Schule ist.

Ich finde es richtig, zu sagen, dass dieser Distanzunterricht, den wir jetzt wegen Corona erleben mussten, nicht unsere Idee von digitaler Bildung ist. Wir sind nicht in Australien, wo wir im Outback Schüler nur über digitale Verbindungen in die Schule bringen können. Es kann und darf kein Dauerzustand sein, dass die Schüler allein zu Hause sitzen. Auch die Bildungsgerechtigkeit hat darunter gelitten.

Sondern?

Wir müssen digitales Lernen und Präsenz zusammen denken. Es hat nichts mit digitaler Bildung zu tun, als Schüler von zu Hause Videounterricht mit dem Lehrer anzuhören. Schülerinnen und Schülern müssen viel mehr lernen, wie sie sich über digitale Methoden neues Wissen, aber auch neue Kompetenzen erschließen. (Christian Füller, TableBildung)

Saskia Esken hat in diesem Bereich eine unbestreitbare Kompetenz. Von daher bin ich ganz froh, sie dabei zu sehen. Ich halte sie ohnehin für ziemlich unterschätzt, was wohl auch an ihrer nicht ganz unumstrittenen SPD-Führung liegt. Aber gerade bei Digitalisierung und Bildung ist sie eine Koryphäe (was sicher auch an der niedrigen Messlatte im Bundestag bei dem Thema liegt). Was für mich auffällig ist ist, wie wenig parteipolitisch dieses Thema ist. Wenn ich mir etwa ihre Antworten oben ansehe, dann könnten die genauso aus einem Interview mit Stark-Watzinger stehen. Das öffnet viele Möglichkeiten für Kooperation, sobald die politischen Ressourcen dafür mal vorhanden sind (was angesichts der aktuellen Krisenlage nicht sehr wahrscheinlich ist, leider).

Inhaltlich gibt es glaube ich auch wenig allzu Kontroverses hier. Dass der Fernunterricht im Sinne eines "Streaming von Normalunterricht" nicht gerade super ist, ist glaube ich unstrittig. Ebenso gilt, dass Digitales ganzheitlich betrachtet werden muss, dass da Kompetenzen erlernt werden müssen und dass das in einem größeren Kontext von Transformation gedacht werden muss. Das Schlimme ist eigentlich, dass das als Forderung für eine unbestimmte Zukunft ausgesprochen werden muss und nicht längst in Gange ist.

4) Ein anderes Russland ist möglich

Russland steht an einer historischen Weggabelung. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um den Abschied vom Imperium, eine zweite Phase der De-Kolonisierung nach der Implosion der UdSSR. Weshalb sollte Russland nicht zumutbar sein, was Deutschland, das Habsburger Reich, Frankreich und Großbritannien hinnehmen mussten – am Ende zu ihrem Glück? Der Kreml muss seinen Machtanspruch über den postsowjetischen Raum aufgeben. Erst dann kann Russland zu einem guten Nachbarn werden. Wieweit der Prozess der De-Kolonisierung auch die innere Peripherie des Landes – etwa den Nordkaukasus – erfassen wird, ist eine offene Frage. Die Alternative wäre ein Abgleiten in noch schrilleren Großmacht-Chauvinismus, begleitet von einer aggressiven Paranoia: alle gegen uns, wir gegen alle, insbesondere den Westen. Der Überfall auf die Ukraine liegt auf dieser Linie. Solange Russland am imperialen Wahn festhält, gibt es keinen stabilen Frieden in Europa – und keine Chance auf Demokratisierung nach innen. Eine Niederlage Russlands in der Ukraine ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für eine Erneuerung. Dazu braucht es auch die schmerzhafte Auseinandersetzung mit der eigenen Gewaltgeschichte nach innen und außen, die Entwicklung eines staatsbürgerlichen Bewusstseins von Rechten und Pflichten, die Achtung des Rechts sowie tief greifende Reformen des Gefängnissystems und der Armee als Brutstätten der Gewalt. Dieser Prozess wird dauern, und er ist von außen nur bedingt beeinflussbar. [...] Gegenwärtig scheinen die Aussichten für eine politisch-moralische Erneuerung Russlands eher düster. Es gehört allerdings zum Wesen autokratischer Systeme, dass Veränderungen eher abrupt als linear ablaufen. Militärische Niederlagen waren seit jeher die Mutter von Reformen und Revolutionen in Russland. (Ralf Fücks, SpiegelOnline)

Für mich schließt sich dieses Thema sehr gut an die Aufarbeitungs-Debatte aus dem letzten Vermischten an. Genauso wie im Falle des UK und Frankreichs wäre für Russland eine Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit - die ja, wenn überhaupt, erst 1991 endete! - dringend geboten. Aber nicht nur weigert sich Russland hier; Putin bietet ja seit seinem Amtsantritt stattdessen ein gegenläufiges Narrativ alter kolonialer Größe an, das sich in Sachen chauvinistischer Überheblichkeit nichts von einem britischen "Was wollen diese Wilden aus Kenia?" nehmen lassen muss.

Was die Möglichkeit eines Regimewechsels angeht: ich denke Fücks hat vor allem Recht damit, dass dieser sich im Zweifel plötzlich vollzieht - und vermutlich für alle Beteiligten überraschend. Könnten die Teilnehmenden einer Talkshowrunde in Deutschland ein akkurates Bild der Lage im russischen Machtzentrum abgeben und einen Regimewechsel vorhersagen, dann können wir uns sicher sein, dass Putin das auch könnte und entsprechende Schritte ergriffe. Er würde von so etwas also im Zweifel genauso überraschend getroffen wie wir; anders ist ein solcher Umsturz ja auch kaum vorstellbar.

5) Elon Musk will nicht mehr für Ukraine-Internet zahlen: Ging Melnyk am Ende zu weit?

Elon Musks Raumfahrtfirma SpaceX will die Kosten für den kriegswichtigen Betrieb seines Satelliten-Internetdienstes Starlink in der Ukraine nicht mehr übernehmen. Einem US-Medienbericht zufolge schlug die Firma vor, das Pentagon solle einspringen. Am Freitagmorgen deutscher Zeit äußerte Elon Musk sich auch persönlich zu dem Vorgang und begründete die Entscheidung mit den „Empfehlungen“ des scheidenden ukrainischen Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk. er hatte auf Musks Friedensplan für die Ukraine kürzlich sehr aggressiv reagiert. Musk solle „sich verpissen“ („fuck off“), ließ Melnyk wissen. Jetzt hat der amerikanische Multi-Milliardär erklärt, beim Ende der Finanzierung von Starlink in der Ukraine würde man einfach dieser „Empfehlung“ des Ukrainers folgen. Ein Ende der Unterstützung durch Starlink hätte dramatische Auswirkungen auf die Fähigkeit der Ukraine, militärische Aufklärung im Kriegsgebiet zu leisten. Sollte Musk nicht nur die Zahlungen einstellen, sondern auch den Service einschränken, selbst wenn andere Geldgeber gefunden würden, dürfte das den Kriegsverlauf zu Ungunsten der Ukraine beeinflussen. (horn/dpa, Berliner Zeitung)

Die ganze Episode um Starlink bestätigt alle meine Kritik an der Existenz von Milliardär*innen. Nicht nur ist es einfach eine dystopische Vollkatastrophe, dass lebenswichtige Infrastruktur in den Händen von Milliardären sein könnte (aktuell kein Grund zu gendern). Die Mentalität, die Musk zumindest nach außen hin zur Schau stellt (und ich glaube, dass das genau seine reale Haltung wiederspiegelt) - also die eines beleidigten Halbgotts, der seine Gunst nach Belieben erteilen und entziehen kann - ist ein Desaster. Sollen geopolitische Entwicklungen davon abhängig sein, ob sich ein Kleinkind im Körper eines erwachsenen Mannes beleidigt fühlt? Das kann doch nicht der Ernst sein. Genau aus dem Grund haben wir demokratische Legitimationen und Kontrolle. Nicht, dass die perfekt wären, aber ein einzelner, allmächtiger Egomane ist mit Demokratie grundsätzlich unvereinbar. Dem muss ein Riegel vorgeschoben werden. Dazu kommt noch, dass es alles gelogen ist - wie immer bei Musk. Der Mann hat noch keinen müden Dollar verdient, ohne dass nicht irgendwie Steuermillionen dahinterstanden. Die Ukraine bezahlt für Starlink! Sie hat von Anfang an dafür bezahlt.

6) How Far Would a Republican Majority Go?

That starts with the debt ceiling. An anachronistic policy necessity, used only by Denmark and the U.S., raising the debt ceiling requires periodic action by Congress to maintain the full faith and credit of the United States; the failure to do so when the ceiling is reached would mean a default. Although both parties have played partisan games with the debt ceiling, they have always made it through, even if we came dangerously close during the Obama presidency. In 2011, McConnell said, “I think some of our members may have thought the default issue was a hostage you might take a chance at shooting. Most of us didn’t think that. What we did learn is this: It’s a hostage worth ransoming.” McConnell and his House counterpart Boehner did use the debt ceiling threat to get some concessions on spending. The concessions demanded by the new MAGA extremist radicals will be non-negotiable. And this time, if Republicans win, a lot more members will be ready to push us over the cliff—and the speaker, McCarthy, with no ability or willingness to stop their juggernaut. Of course, other major disruptions could occur, including government shutdowns and costly investigations. But it is the tangible threat of default that looms largest. (Norm Ornstein, The Atlantic)

Die Frage in der Überschrift kann keine ernsthafte sein. Wir wissen, wie weit sie gehen würden. Hätten die Republicans die Chance - und aller Wahrscheinlichkeit nach kriegen sie die im November - würden sie ohne zu zögern die Wirtschaft zerstören und Millionen Existenzen vernichten, um bei den nächsten Wahlen bessere Chancen zu haben. Sie haben es 2009 getan, 2011 und 2013. Warum um Gottes Willen sollten sie es 2023 nicht wieder tun? Sie sagen es ja sogar offen. Das ist keinerlei Mysterium. Diese Leute sind Extremisten.

7) Die Täter schweigen nicht

In ihrem 2020 erschienenen Buch „Die Einwilligung“ beschreibt Vanessa Springora den sexuellen und emotionalen Missbrauch durch einen 50jährigen Mann, den sie als 13jährige kennenlernte und mit dem sie jahrelang wie in einer erwachsenen Beziehung in aller Öffentlichkeit zusammenlebte. Der Mann, der in Frankreich zu den literarischen Größen des Landes gehörte, hatte in seinen Büchern vollkommen unverstellt von seiner kriminellen Liebe zu minderjährigen Mädchen geschrieben. Alle wussten es und behandelten die beiden als gewöhnliches Paar. Selbst als das Mädchen sich in ihrer Not an gemeinsame Freunde wendet, wird ihr nicht geholfen. Stattdessen wird sie zu ihm zurückgeschickt und man rät ihr, ihn so zu akzeptieren, wie er ist. Das Buch hat in Frankreich eine Debatte um den Autor ausgelöst und ihn schließlich zu einer persona non grata gemacht, deren Bücher nicht mehr verlegt werden. Die Empörung ist gerechtfertigt, aber es bleibt die Frage, warum es für diese Reaktion erst Springoras Buch brauchte. [...] Offenbar auch nicht abhängig von einem bestimmten Milieu. Dieser Missbrauch passiert unter aller Augen, mit aller Einverständnis. Die Täter schweigen gar nicht. Sie verheimlichen nichts. Sie überrumpeln ihr Gegenüber, indem sie die Grenzen, die für selbstverständlich gehalten werden und die durch Gesetze festgeschrieben sind, einfach ignorieren. Das lässt sie mutig und besonders erscheinen. Sie sprechen von Liebe und sind offenbar bereit, dafür alles aufs Spiel zu setzen, ihre Reputation, ihren Job. Dabei wissen sie, dass sie nichts zu befürchten haben. Die Schweigenden schützen sie. Vielleicht weil sie selbst Täter sind, vielleicht weil die Täter ihnen einen Platz geben, den sie sonst nur schwer finden. Sie bekommen Bedeutung durch das Geheimnis und die Täter tun viel dafür, dass die verschworene Gemeinschaft sich nicht auflöst. So ist es in Schulen, in Sportvereinen, in Kirchen, in Familien und in Ferienlagern. Die Beispiele sind nicht mehr zu zählen. Jedes Jahr kommen neue dazu, werden neue Systeme aufgedeckt, die alle ähnlich funktionieren. (Anne Rabe, 54Books)

Alle Punkte, die in diesem kurzen Ausschnitt genannt werden, sind hochgradig relevant. Ich will eine historisch-ergänzende Einordnung zum Stichpunkt Milieu machen: Wir hatten ja vor ein paar Jahren diesen mittleren Skandal um die Aufarbeitung der Gutheißung von Pädophilie in der alternative Szene der 1980er Jahre. Daniel Cohn-Bendit und diverse andere Früh-Grüne waren da ja ziemlich heftig dabei. Das ist in meinen Augen ein Topp-Beispiel für die beschriebenen Mechanismen. Die Täter haben damals ja sogar Bücher geschrieben, in denen sie ihre Taten über den grünen Klee gelobt haben, weil sie in ihrem Milieu keinerlei Unrechtsbewusstsein besaßen (und, das muss man ja leider auch sagen, im Rest der Gesellschaft diesbezüglich auch kein großes Echo hervorriefen). Deswegen ist es ja so wichtig, dass die Gesellschaft das thematisiert und sich weiterentwickelt - Stichwort #MeToo.

8) Wieviel Reichtum ist genug?

Beim Limitarismus geht es darum, dass niemand übermäßig reich werden sollte. Der Grund hinter der Idee: Einzelne Superreiche würden der Gemeinschaft zu sehr schaden. Sie belasten mit ihrem Lebensstil das Klima unverhältnismäßig mehr als andere Menschen und sie können sich mit ihrem Geld zu viel politischen Einfluss erkaufen. Deswegen müsse es eine Grenze geben. Diese Obergrenze ist aber nicht als Bestrafung gedacht. Die Idee ist vielmehr, dass durch die Begrenzung des Reichtums - und somit die bessere Verteilung des Geldes - die Gesellschaft im Allgemeinen gefördert wird. Außerdem trägt Geld ab einem gewissen Punkt nicht mehr zu einem Mehr an Wohlbefinden bei, so die Begründerin der Idee, Ingrid Robeyns. [...] Der Limitarismus ist kein Sozialismus oder Kommunismus. Er lehnt nicht die Anhäufung von Reichtum, den Besitz von Privateigentum oder ein gewisses Maß an sozialer Ungleichheit ab. Er besagt lediglich, dass sehr viel zu haben, manchmal zu viel ist. Wo genau, dieses "zu viel" angesiedelt ist - bei zehn Millionen Dollar oder bei zwei - dazu hat sich Robeyns noch nicht geäußert. (Deutsche Welle)

Nachdem ich in Fundstück 5 gerade noch über Milliardär*innen geschimpft habe, muss ich hier doch widersprechen. Mag ja sein, dass die Leute glauben, dass das nicht als Bestrafung gemeint ist. Aber so wird es bei den Betroffenen nie ankommen. Wenn ich meinen Sohn zum Vokabellernen setze, sieht er das auch als Bestrafung und nicht zu seinem Besten, auch wenn das von mir so gemeint ist. Der größte Irrtum der Linken in diesem ganzen Diskurs aber liegt in meinen Augen in deiser irrigen Vorstellung, dass Geld ab irgendeinem Punkt nicht mehr zum Wohlbefinden beitrage und deswegen der Limitarismus die Lösung sei.

Auf der einen Seite ist es natürlich wissenschaftlich nachgewiesen, dass Lebenszufriedenheit und Geld einen ziemlich scharfen Grenznutzen haben. Allein, der liegt verdammt tief. Ich wäre mit meinem Einkommen bereits deutlich darüber. Dieses "Geld trägt nicht zum Wohlbefinden bei" ist eine reine Nebelkerze. Erstens arbeitet Jeff Bezos nicht, weil ihm noch ein paar Millionen für die sechste Yacht fehlen. Für diese Leute ist das Geld ein Benchmark. Das ist wie bei einem Bundesligaspiel zu sagen, dass mehr als ein Tor nicht nötig ist, um die Kompetenz eines Teams zu ermitteln. Klar, das mag schon sein, aber das ist nicht der Grund, warum die Leute 90 Minuten auf dem Rasen kicken. Dieses grundsätzliche Unverständnis gegenüber dem, warum wohlhabende Menschen überhaupt arbeiten ist einer der riesigen blinden Flecken der Linken, die mich rasend machen.

9) Still the End of History

Supporters of liberal democracy must not give in to a fatalism that tacitly accepts the Russian-Chinese line that such democracies are in inevitable decline. The long-term progress of modern institutions is neither linear nor automatic. Over the years, we have seen huge setbacks to the progress of liberal and democratic institutions, with the rise of fascism and communism in the 1930s, or the military coups and oil crises of the 1960s and ’70s. And yet, liberal democracy has endured and come back repeatedly, because the alternatives are so bad. People across varied cultures do not like living under dictatorship, and they value their individual freedom. No authoritarian government presents a society that is, in the long term, more attractive than liberal democracy, and could therefore be considered the goal or endpoint of historical progress. The millions of people voting with their feet—leaving poor, corrupt, or violent countries for life not in Russia, China, or Iran but in the liberal, democratic West—amply demonstrate this. [...] Celebrations of the rise of strong states and the decline of liberal democracy are thus very premature. Liberal democracy, precisely because it distributes power and relies on consent of the governed, is in much better shape globally than many people think. Despite recent gains by populist parties in Sweden and Italy, most countries in Europe still enjoy a strong degree of social consensus. (Francis Fukuyama, The Atlantic)

Francis Fukuyamas "Ende der Geschichte" ist glaube ich eine der meist-missverstandenen Thesen überhaupt. Er erklärt sie in aller Kürze im Artikel nochmal, aber ich denke der Punkt oben reicht eigentlich schon aus: die liberale Demokratie ist und bleibt das bestmögliche System, es gibt keine Alternative. Der Faschismus ist seit 1945 diskreditiert, und in den mittlerweile über 30 Jahren seit dem Untergang des Kommunismus' wetterleuchtet eine andere noch nicht mal am Horizont. Und das ist etwas, das hoffnungsfroh stimmt, finde ich.

10) Ohne jeden moralischen Kompass

Mitte der Siebzigerjahre stellte der Journalist Paul Johnson, damals auf seinem Wege der Konversion von Labour zu Margaret Thatchers Konservativen, fest, dass die Linksintellektuellen sich in die Arme der Gewerkschaftsbewegung geworfen haben. Wer Bedenken gegen diese Entwicklung anmelden wolle, setze sich dem Vorwurf des Elitarismus aus. „Elitär“ sei bei dieser syndikalistischen Linken zum bevorzugten Schimpfwort geworden, schrieb Johnson. Heute jedoch sind es die rechten Konservativen und fanatischen Brexit-Befürworter, die dem „liberalen Establishment“ (wie sie es bezeichnen) vorwerfen, elitär zu sein. Es war denn auch dieses „Establishment“, das Liz Truss im Visier hatte, als sie ihre Partei gegen jene „Antiwachstumskoalition“ aufzuwiegeln suchte, die im Taxi aus ihren Stadthäusern in Nordlondon ins BBC-Studio fahre, um von dort aus jeden anzugreifen, der den Status quo infrage stelle. Der politische Philosoph John Gray hat diese eifernde Haltung von Liz Truss und ihren Anhängern schon vor Jahren als „Maoismus der Rechten“ bezeichnet und bemängelt, dass die von Friedrich Hayek übernommene neoliberale Ideologie keine Vorstellung mehr habe vom traditionell konservativen Ideal der Bewahrung und Erneuerung einer Kultur. Gray und andere sprechen deshalb jetzt abfällig vom „Ersatz-Thatcherismus“ der Gerade-noch-Premierministerin Truss. (Gina Thompson)

Wie war das mit der Wiederholung der Geschichte als Farce? Die Implosion von Liz Truss ist in der an Farcen nicht eben armen Brexit-Entwicklung schon noch einmal ein besonderer Schlussstein. Der Radikalismus, mit dem Truss vorging, gepaart mit der völligen Empathielosigkeit und Ignoranz gegenüber politischen Gesetzmäßigkeiten, spricht sehr für eine völlige Abgeschottetheit von der breiten Realität. ls Truss gewählt wurde, gab es ja viel Kritik daran, dass nur ein winziger Teil der Parteibasis abstimmen konnte. Ich habe das damals als Kritik zurückgewiesen, weil Parteien grundsätzlich selbst ihre Leute aufstellen und nicht das Wahlvolk als Ganzes. Aber wenn die Partei darin versagt, die Attraktivität für die breite Bevölkerung im Auge zu behalten, dann kommt so etwas dabei heraus. Truss ist ein Versagen der kompletten konservativen Partei, der (vorläufige) logische Endpunkt einer Entwicklung, die bei Cameron begann und über May zu Johnson führte. Vielleicht wäre Labour etwas Ähnliches passiert, wenn Corbyn 2017 gewonnen hätte.

Resterampe

a) Sehr gute Ansprache vom Vorsitzenden des Städtetags.

b) Wenn sich mal wieder jemand über MMT ärgern will und einen Anlass sucht. ;)

c) Spannende Rezension zu einem Buch über Kinderkrippen in der DDR, das extrem problematische DDR-Bilder transportiert.

d) Guter Thread zu den 1,5-Grad, die mich an meinen entsprechenden Artikel erinnern.

e) Wohl wahr.

f) Russische oder republikanische Propaganda? Lässt sich nicht auseinanderhalten.

g) Neue Evaluation zu häuslicher Gewalt durch den Europarat.

h) Erneuerbare sind mittlerweile die mit Abstand effizienteste und profitabelste Energieform. Und Schwarz-Gelb hat den Standort dafür absichtlich zerstört.

i) Unglaublich spannendes Interview mit Adam Tooze über die aktuelle wirtschaftliche Lage.

j) Dieser schon etwas ältere Artikel über das "Great Awokening" ist eine gute Illustrierung dessen, was ich im letzten Vermischten zum Thema sagte.

k) Krasse Erkenntnisse.

l) Die Financial Times hat was zur europäischen Dimension des Gaspreisdeckels.

m) Ich sag's mal so: diese Koch-Mehrin/Kubicki-Episode bestätigt mich in all meinen Vorurteilen über Kubicki.

n) Schöner FAZ-Artikel zum Thema Spieltheorie und Gleichgewicht des Schreckens.

o) Dieses Buch von Precht und Welzer zieht einem echt die Schuhe aus.

p) Das Problem mit den Conni-Büchern. Ich hass die Dinger auch...

q) Erinnert ihr euch noch an meinen Artikel zur Selbstmarginalisierung von FFF? Jüngstes Beispiel.

r) Denis Yüzel zum Muezzin-Ruf in Köln.

s) Sehr entlarvende Kurz-Äußerung.

t) Spannende Analyse von Timothy Snyder in der NZZ zum Kriegsgeschehen in der Ukraine und der Gefahr eines Atomwaffeneinsatzes.

u) Weil wir oben schon Saskia Esken hatten: die Frau ist ihrer Partei weit voraus. Man kann über sie und ihre Fähigkeiten als SPD-Chefin sagen was man will, aber sie liegt nicht falsch.

v) Es ist und bleibt mir völlig unverständlich, dass es nicht wesentlich entschlossenere Schritte gibt, diesen Crypto-Schwachsinn unter Kontrolle zu kriegen.

w) Die FAZ hat vor 60 Jahren schon gegendert.

x) Die aktuelle Wahlumfrage aus Rheinland-Pfalz zeigt, kontrastiert mit der für den Bund, in meinen Augen eine für Deutschland immer noch starke Lokalisierung der Landtagswahlen.

y) Ein gutes Beispiel für die Zerrissenheit der CDU zwischen Polen, die wir im Podcast angesprochen haben und für die es keine offensichtliche Lösung gibt.

Dir gefällt, was Stefan Sasse schreibt?

Dann unterstütze Stefan Sasse jetzt direkt: