Mit Ideen, Gemeinschaftsgeist und dem Engagement seiner Bewohner trotzen Dörfer erfolgreich der Abwanderung. Ein Beispiel aus der ostwestfälischen Provinz.

von Robert B. Fishman

Viele träumen vom Landleben. Doch nur wenige ziehen aufs Dorf. Viele Orte abseits der Ballungsräume sterben aus. Erst schließt der Bäcker, dann der Fleischer, die Post und die Bank. Der Arzt ist in Rente gegangen. Zurück bleiben die Alten in verfallenden Häusern. Der letzte macht das Licht aus.

Reint E. Gropp, Leiter des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung in Halle/Saale hat vorgeschlagen, das Geld für die Wirtschaftsförderung in die Städte zu stecken. Den Menschen in abgelegenen Orten solle man „Umsiedlungsprämien“ bezahlen statt das Leben in sich leerenden Dörfern zu subventionieren. Während Politiker „entsetzt“ reagieren legte eine Regierungskommission im Sommer 2019 erste Vorschlägen für die Schaffung „gleichwertiger Lebensverhältnisse“ in ganz Deutschland vor:  Sie empfiehlt zum Beispiel „eine moderne digitale Infrastruktur in der Fläche und eine Befähigung der Menschen, diese zu nutzen“, also Dörfer ans Netz und den Landmenschen erklären, wie das Internet funktioniert. Während unser Digital- und Heimatminister Milliarden für die 5G-Lizenzen kassiert, warten die Landbewohner auf Anschluss. Ovenhausen in Ostwestfalen hat seit 2019 schnelles Internet. Dorf-Digitalexperten erklären den alten Leuten, das Internet und den Nutzen der Digitalisierung. Gerade rechtzeitig vor der Corona-Pandemie ist das Dorfleben mit Kirche, Vereinen und Initiativen online gegangen.

Dorfstraße in Ovenhausen, Foto: Robert B. Fishman

Selbstwirksamkeit motiviert

An einer Durchgangsstraße reihen sich Fachwerkhäuser und Bauten der 60er Jahre. Ein paar Stümpfe erinnern an die alten Bäume, die verschwinden mussten, weil sie zu viele Blätter abgeworfen haben: ein verschlafenes Dorf wie die meisten im südlichen Ostwestfalen. Es sieht kaum anders aus, als das benachbarte Bosselborn mit seinem „Horror-Haus“. Dort hat ein psychopathisches Ehepaar über Jahre Frauen gefangen gehalten und gefoltert. Wohnen möchte dort niemand mehr. Der Ort leidet wie viel unter Abwanderung, während Ovenhausen blüht und gedeiht. Aus dem ehemaligen Pfarrhaus, einer 1930 erbauten Villa, strahlt das warme Licht eines Kronleuchters in die Dämmerung. „Bücher, Kaffee und selbst gebackenen Kuchen“ verspricht ein Schild in einem Glaskästchen, das auf dem Torpfeiler vor dem ehemaligen Pfarrhaus dem Regen trotzt.

Ob Heimatverein, Karnevalsclub oder freiwillige Feuerwehr. Niemand klagt in Ovenhausen über Nachwuchsmangel. Die Kinder der Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak kicken im Sportverein mit den Einheimischen und Dorfbewohner erklären den alten Leuten das Internet. Im Pfarrheim nebenan treffen sich zum Beispiel Bibelkreis, zwei Blaskapellen, Liturgiekreis und Leute, die Blutspenden organisieren.

Computerkurs im Dorfgemeinschaftshaus in Ovenhausen, Foto: Robert B. Fishman

„Digitalisierung beginnt zwischen den Ohren.“

„Wenn die Menschen das Gefühl von Selbstwirksamkeit erleben, bringen sie sich ein und motivieren andere“, weiß Hans-Werner Gorzolka. Der 68-jährige Rentner arbeitet für die neue Geschäftsstelle Ehrenamt Kreis Höxter, ist im Vorstand der katholischen Kirchengemeinde, ehrenamtlicher Kreisheimatpfleger und holt laufend neue Projekte in den Ort.

„Entscheidend sind die Köpfe vor Ort“, weiß Dr. Daniel Dettling, der sich am Zukunftsinstitut in Frankfurt und Berlin seit langem mit der Entwicklung des ländlichen Raums beschäftigt. Florierende Dörfer haben „Akteure, die sagen, wie ihr Ort in zehn oder 20 Jahren aussehen soll.“ Menschen, die andere begeistern und mitreißen, Leute wie Hans-Werner Gorzolka, der als pensionierter Bauamtsleiter der Kreisverwaltung auch weiß, wo man für welche Projekte Fördergelder beantragen kann.

Klönstube im Dorfgemeinschaftshaus Ovenhausen, Foto: Robert B. Fishman

„Einige müssen den Karren ziehen“, ergänzt Hans-Werner Gorzolka eher beiläufig. Um die Menschen zum Mitmachen zu bewegen, gehe er auch „Klinken putzen“, rede immer wieder mit den Leuten bis er sie überzeugt hat. Das kann der kräftige Mann mit der Stimme, die irgendwie beruhigend wirkt. Der Pfarrgemeinderat und der Kirchenvorstand stehen hinter ihm.

Schlaue Dörfer: Smart Country Side

Viele reagierten skeptisch, als er mit ein paar Mitstreitern das frei gewordene Pfarrhaus zum Dorfzentrum aufwerten wollte. Die örtliche Caritas-Konferenz suchte Räume für ein Klöncafé mit öffentlicher Bibliothek. Die Kirche überließ ihr dafür einen Teil des ehemaligen Pfarrhauses. 2015 erhielt das Projekt den  Pauline-von-Mallinckrodt-Preis. Im selben Jahr richtete die Caritas im Haus kostenloses WLAN für alle ein. Aus Fördergeldern des „Smart-Country-Side“-Projekts richteten die Ovenhausener*innen im ehemaligen Pfarrhaus eine Medienecke mit Laptops und Tablets ein. Die Kirche hat die neue Dorfmitte mit einem offenen Bücherschrank, einer Boulebahn und Holzhütten im Garten ausgestattet. Hier treffen sich Jugendliche und übernachten Pilger. Ein Jakobsweg führt mitten durchs Dorf.

Tablets für alle in Ovenhausen, Foto: Robert B. Fishman

Nächstenliebe 4.0

Hans-Werner Gorzolka vermietete die obere Etage des Pfarrhauses an eine Familie, um Einnahmen für die Kirchengemeinde zu generieren und griff zu, als das Land Nordrhein-Westfalen das Förderprogramm „Smart Country Side“ auflegte. Damit lassen sich Ehrenamtliche zu Dorf-Digitalexperten ausbilden, damit sie ihren Nachbarn das Netz erschließen: Onlinebanking, IT-Sicherheit, Datenschutz, Skypen, online Einkaufen und Arbeit suchen, „Soziale Medien“ oder Telemedizin. Insgesamt 12 Ovenhäuser*innen geben ihr Wissen weiter. Das Nachfolgeprojekt „Dorf/Zukunft/Digital“ finanziert den Ovenhausener*innen die Ausbildung von Digitallotsen.

Den teilnehmenden Orten programmiert das Frauenhofer IESE die App „Dorffunk“, über die sich inzwischen 627 der 1050 Dorfbewohner*innen vernetzen: Nächstenliebe 4.0. Auf der neuen Webseite des Ortes hat die Kirchengemeinde unter dem Stichwort „Sorgendes Dorf“ einen Dorfhilferuf eingerichtet. Hier finden die Nutzer*innen Mitfahrgelegenheiten, Kinderbetreuung und Angebote zur gemeinsamen Nutzung von Werkzeug.

Hahn im Korb

Zwischen den vielen Frauen und wenigen Männer an der Kaffeetafel im ehemaligen Wohnzimmer des Pfarrers sitzt Hans-Werner wie der Hahn im Korb - hört zu, erklärt, gibt Tipps und sortiert die vielen Ideen.

Weil so viele Frauen im Dorf das Stricken lernen wollten haben Elisabeth Wöstefeld und Marlene Wollesen, beide Mitte 70, einen Strickclub gegründet. Jetzt stricken jede Winterwoche rund 13 Frauen im Pfarrheim Schals und Mützen, erst für ihre Kinder, und Enkel, dann für die Spendenaktion „Weihnachten im Schuhkarton“. Inzwischen wärmen an die 200 Schals und Mützen aus Ovenhausen Kinderohren und -hälse in Moldawien, Weißrussland und anderen osteuropäischen Ländern.


Vertrauensvolle Beziehungen sind für Gorzolka der Kitt für das Zusammengehörigkeits- und Heimatgefühl. Sein Name, sagt er, bedeutet auf Polnisch „Schnäpschen“. Sein Vater sei 1946 als Flüchtling entwurzelt und mittellos im benachbarten Nieheim gestrandet. Schon deshalb wünscht sich der Sohn eine weltoffene, einladende Heimat.

Pfarrhaus in Ovenhausen, Foto: Robert B. Fishman

Helfen statt Angst


Als vor fünf Jahren 60 Flüchtlinge in die leer stehende Ovenhäuser Grundschule einquartiert wurden, versammelten sich die Dorfbewohner. Manche hatten Angst, dass nun die Frauen nicht mehr alleine auf die Straße gehen könnten. Andere wollten helfen und steckten ihre Nachbarn mit ihrem Engagement an. Menschen, die an sich und ihren Ort glauben, ihn gestalten und dabei aufblühen haben weniger Angst, dass ihnen Fremde etwas „wegnehmen“ könnten. Elisabeth Hofbauer, Mutter von vier Kindern und ehemalige Großhandelskauffrau, macht am liebsten „Dinge, die anderen nutzen“. Sie bot den Ankömmlingen mit weiteren Frauen Deutschunterricht an und sammelte mit Nachbarn Sachen für die Flüchtlinge: Kleidung, Möbel, Bettwäsche, Töpfe Geschirr. „Am Anfang mussten wir ihnen alles erklären“, erinnert sich die Rentnerin, „Waschmaschine, Elektroherd…“. Viele konnten weder lesen noch schreiben, geschweige denn, sich Termine aufschreiben.

Geflüchtete aus Syrien in Ovenhausen unter dem Weihnachtsbaum, Foto: Robert B. Fishman

In den Klassenräumen wohnten Ende 2018 noch zwei Familien. Nada und ihr Mann Nasha aus dem Irak saßen mit ihren beiden Kindern in einem fast leeren Klassenraum auf einem der gespendeten alten Sofas unter einem Plastik-Weihnachtsbaum, an dem bunte Reklame-Kugeln hängen. Die Kinder gehen in den Sportverein und in den Kindergarten. Zuhause spielen sie mit den Dingen, die ihnen die Dorfbewohner gebracht haben: Spielzeugautos und ein Bob, der Baumeister, der batteriebetrieben im Takt eines Presslufthammers vibriert. „Papa“, sagt der zweieinhalbjährige Talal und zeigt auf sein Spielzeug. Sein Vater Nasha hat über eine der Helferinnen einen Job in einer örtlichen Baufirma gefunden. „Harte Arbeit aber gut“, sagt der 34-jährige und schaut etwas müde lächelnd zu seinem Sohn. Mutter Nada antwortete Ende 2018 ohne Zögern auf die Frage, ob sie lieber in einer großen Stadt leben würde: „Nein, wir wollen in Ovenhausen bleiben.“ Die Leute, ergänzt Nasha, „helfen immer und laden uns zu all ihren Festen ein.“ Seit 2019 hat die Familie eine eigene Wohnung im Dorf.

Ovenhausen: Die Kirche bleibt im Dorf. - Foto: Robert B. Fishman

Hans-Werner Gorzolka glaubt an eine Renaissance der Dörfer, wenn es diesen gelingt, junge Leute zu halten und Familien eine Heimat zu bieten. Dafür braucht es neben der Infrastruktur eine lebendige Dorfgemeinschaft, die Neuankömmlinge freundlich aufnimmt, sie in die örtlichen Vereine einlädt und Raum zum Mitmachen bietet. In Ovenhausen hat die Kirche Land als Baugrund zur Verfügung gestellt. Dort entstehen 15 Häuser. Der Quadratmeter kostet inklusive Erschließung 40 Euro. Acht junge Familien haben sich inzwischen angesiedelt. Nur noch ein Grundstück ist frei.  „Die Zukunft“, zitiert der Macher von Ovenhausen den Bundespräsidenten, „müssen wir nicht erleiden. Wir können sie gestalten.“


Zeichen des Jakobs-Pilgerwegs in Ovenhausen - Foto: Robert B. Fishman

Info:

Internetseite des Dorfes Ovenhausen

Dorffunk – kostenlos im Google Play Store und dem Apple IOS Appstore

Die Caritas-Konferenz Ovenhausen hat sich mit dem Projekt „Das digital-analoge Erzählcafé“  hat sich 2020 erfolgreich beim 1. Deutschen Digital-Tag in diesem Jahr beworben. Die Erzählgeschichten der Bewohner sind per Video festgehalten worden. Im Juni sprach  Bundespräsident Steinmeier online mit den Ovenhäuser*innen in der Klönstube über „Einsamkeit und digitales Dorf“. Die Konrad-Adenauer Stiftung verlieh dem Ort für das Engagement seiner Bewohner*innen den Preis „Integrative Kommune“.

Smart Countryside, Blog über die Digitalisierung der Dörfer und Projektinfo

Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen

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