Dieser Drang nach dem Leben. Ist unstillbar.

Oh Gott, wie ich es liebe, jeden Morgen aus dem Bett zu springen und als erstes aus dem Fenster zu blicken. Manchmal ist es stockduster. Manchmal geht die Sonne gerade zwischen den Bäumen auf und wenn ich Glück habe, sehe ich noch die Katze, wie sie auf einem Grabstein sitzt und sich putzt, bevor sie sich auf den Weg zu ihren Menschen macht.

Ich liebe jeden verdammten Morgen. Ich liebe es, die Augen aufzuschlagen und die Welt zu erblicken. Meine Welt. Sie ist nicht groß und da ist ein Zaun drum: ich bewege mich zwischen Küche und Bad und anderen Räumen, einer alten Fabrikhalle, in der sich mein Schreibtisch und mein Spind und jede Menge Post befindet und dann auf bestimmten Straßen, in denen bestimmte Menschen wohnen, denen ich die später sortierte Post und bestimmte Pakete bringe. Später bewege ich mich wieder zwischen Küche und Bad und Balkon. Meine Welt ist klein. Und begrenzt. Aber mein gedanklicher Horizont hat keine Zäune und keine Schranken, wenn ich auf Fantasiereisen gehe und vor mich hin träume.

Das Leben ist oft hart und fühlt sich (auch ohne Alkohol) durchzecht an. Probleme hier und Berge voller Angst dort. Zeitdruck und Stress. Manchmal habe ich Magenschmerzen. „Entspannen Sie sich!“ sagt der Arzt und gibt mir ein Rezept für komische Medizin mit komischen Namen, mit denen ich beim Scrabble gewinnen würde. Aber ich bin nie entspannt. War ich auch noch nie. Selbst beim Yoga rattert mein Kopf. Nicht, weil ich Angst hätte, etwas zu verpassen. In meiner Welt gibt es dieses Gefühl nicht. Das Sofa und die Laufstrecke und das Yogakissen und die Kollegen und alles weitere sind ja immerfort da.  Es ist wegen des Zaunes. Nichts kann raus. Aus meiner kleinen Welt. Ich KANN also gar nichts verpassen. Aber ich brauche immer mehr und mehr und mehr und mehr Input und Bewegung. Und mein Kopf hat auch diesen Zaun, der so engmaschig ist, dass vieles nicht durchkann. Meine Filter versagen.

Stell es dir so vor wie ein Gewächshaus. Nur ein winziger Spalt eines Fensters ist offen. Im Gewächshaus sind ein Bienenschwarm und Pflanzen, die wuchern und ihre grünen Zweige nach draußen strecken wollen und die Sonne strahlt hinein und erhitzt alles. Die Erde dampft und riecht und die Tomaten sondern ätherische Öle ab und da liegen Werkzeuge und Handschuhe und ein Vogel macht Geräusche auf dem Glasdach und dann sind da Spinnen und der Wind lässt alles klappern und unter den Sohlen ist Sand und ich fühle die Sonne und den Sand und fühle auch die Tomatenpflanze, die rauswachsen will und den Vogel der rein will und den Wind, der stören will und ich stehe einfach nur mit weit aufgerissenen Augen inmitten den Gewächshauses. Das Fenster ist zu klein, um alles rauszulassen. Die Geräusche und Gerüche und Wärme. Darum bleibt alles da, wo es ist und im Laufe des Tages wird es mehr: die Ameisenstrasse kommt dazu, die neuen Keimlinge im Topf, die zu trockene Erde reißt auf und die Gießkanne schwappt über….

Das Gewächshaus ist mein Kopf. Ich mag es. Wenn es sprießt. Aber ich mag auch Stille rundherum. Weil mein Kopf oft laut ist.

Er wird leiser, wenn ich:

Treppenstufen zähle und Vögel am Himmel und wenn ein Hund einmal bellt, sage ich laut in Gedanken 1: weil der Hund auch gerade zählt. Es wird leiser, wenn ich auf den Sekundenzeiger schaue, der mir einen Rahmen vorgibt und sich in seinem umzäunten Gehäuse bewegt.

Wenn die Sonne aufgeht, bin ich glücklich. Wenn sie untergeht, bin ich zufrieden. Dazwischen erfasst mich Freude. Weil ich lebendig bin und das Fass nie voll zu sein scheint.

An Tagen, an denen ich abends voll Kummer einschlafe oder weine, weil die Reizüberflutungen des Gewächshauses sich einen Weg bahnen, bin ich trotzdem irgendwie glücklich, auch wenn ich es in genau diesem Moment nicht spüre: weil ich jedes Gefühl schätze. Die Angst und die Sorge. Die Wut und die Selbstüberschätzung. Die Erhabenheit und das Gefühl, nicht genug zu sein. Vor einigen Tagen habe ich 2h und 47 Minuten geweint. Ich weiß das, weil ich jederzeit immer alle Zeiten weiß, bis ich sie irgendwann vergesse, weil die Zeiten von anderen Zeiten überschrieben werden (heute um 9:11 Uhr habe ich fast einen herrenlosen Hund überfahren und um 12:01 Uhr eine Urkunde vom Gerichtsvollzieher an jemanden überreicht.). 2h 47 ist schon ziemlich lange. Aber ich glaube, für genau diese Zeitspanne hatte ich einen Vorrat an Tränen und Traurigkeit und als ich dann nur noch ein bisschen geschluchzt habe, dachte ich: „Scheiss drauf. Morgen wird dafür ein richtig GUTER Tag. Und ja, ich blicke den Tatsachen ins Gesicht, die sich in meiner Welt befinden. Immer. Und ja, solange die Tatsachen sich innerhalb meiner Welt bewegen, kann ich damit umgehen. Aber manchmal schwappt dann so ein bisschen Weltschmerz mit einer Flutwelle über meinen schönen frisch gestrichenen Holzzaun und reißt mich mit sich.

Ich denke im Alltag oft rational und verknüpfe Dinge mit Logikschaltplänen und mathematischen Wahrheitstabelken aus meiner alten Formelsammlung. A1-0 A2-1 E(?)-1. Ich lebe nach to-do-Listen, die zeitlich aufgebaut sind. Ohne diese wäre ich wahrscheinlich gar nicht fähig zu leben.

Oft agiere ich wie eine Maschine und bewege mich auch so. „Du fährst so konzentriert Auto, als hättest du einen Stock im Arsch.“ Hat mir heute jemand gesagt. „Ja. Hab ich dann auch x)“

Aber wenn ich nicht konzentriert bin, weil die Arbeit beendet und die to-do-Liste abgearbeitet ist und ich einfach nur „bin“, fällt das rationale wie ein Kartenhaus zusammen und ich rette Mücken und schreibe mich beim Briefe schreiben um den Verstand und schaue Wolken nach und spreche zum Abendstern, der mir zuhört und funkelt oder sitze bei Kerzenschein auf dem Küchenfliesenfußboden und versuche zu fühlen, wie es sich anfühlt, wenn man wieder 16 ist. Ich rieche an vertrockneten Blumen, um ihren Geruch besser kennenzulernen und mein Magen zieht sich zusammen, wenn ich Streit aus der Nachbarwohnung höre. Ich fasse im Vorbeigehen Dinge an und lächle, weil mich die Haptik überrascht und gehe kurz vor dem Gewitter laufen, um das Petrichor zu riechen und zu inhalieren und manchmal, weil ich hoffe, vom Blitz getroffen zu werden, der mir alle zukünftigen Entscheidungen abnimmt.

Entweder ich bin voll da oder ich bin: überhaupt nicht da. Und ich sage euch ehrlich und direkt: das ich 100 Jahre alt werden möchte. Falls mich nicht der Blitz trifft. Und bis an mein Lebensende jeden Tag die Augen aufschlagen werde, als erstes aus dem Fenster schaue und dann lächelnd aufstehe, um meinen Drang nach leben und Gefühlen jeder Art nachgehen zu können.

Ps: meine Kollegen waren vorhin zugegen, wie ich einem potentiellen neuen Kollegen eine Rede gehalten habe, wie das Leben in diesem Job sich so gestaltet. Sie meinten: ich müsste ein Werbevideo aufnehmen. Vielleicht mache ich das. Nicht für die Firma. Sondern für das Leben an sich.

Was ich sagen will, ist: jeder trägt eine Menge Widersprüche in sich. Jeder ist seines Glückes Schmied. Es ist gut, lebendig zu sein. Das Leben ist für jeden ein Experiment. Es gibt daher Milliarden Experimente, die nebeneinander herlaufen und sich gegenseitig ergänzen. Vielleicht geht es nur darum. Und darum, dass ich gestern eine Einhornwolke gesehen habe, die mir sagt: dem Glücklichen schlägt keine Stunde, folglich müsste ich unglücklich sein. Bin ich aber nicht, trotz unglücklicher Momente in meinem eigenen umzäunten Experiment. Es ist nur so: ich hab morgen frei! Weil Sonntag ist. Und werde jetzt laut Musik hören und tanzen und mich gut und unwichtig und lebendig und schön fühlen. Und über meinen Zaun spähen, der mir sagt:

„Entspann dich, auch wenn du dich nicht entspannen kannst, weil dieses Gefühl dir oft fremd ist. Du verpasst nichts. Du verpasst nie etwas. Weil dir wiederum dieses Gefühl fremd ist. Und herrje, hör auf dich um Kopf und Kragen zu schreiben, in dem es um nichts geht, außer um das aneinanderreihen von Wörtern . Mach endlich die Musik an. Laut. Und nerv niemanden mehr.“ „Ok. Danke für den Tipp.“ „Gern geschehen, Kerstin.“

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