Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann.
Fundstücke
1) Berlin vor dem Klima-Volksentscheid: Ein guter Plan, der nicht gelingen kann
Erfolgreiche Volksentscheide ohne wirklichen Effekt scheinen sich in Berlin zur Tradition zu entwickeln: Nach dem Votum zum Weiterbetrieb des Flughafens TXL 2017 schäumten FDP und CDU, weil der rot-rot-grüne Senat den Wählerwillen ignorierte. Seit dem klaren Ja zur Enteignung großer Wohnungskonzerne wiederholt sich das Schauspiel mit veränderten Rollen: Diesmal warnen FDP, CDU und Teile der SPD davor, dem Votum der Bürger zu folgen. Das Resultat ist hier wie da Verdruss. Nun folgt der Entscheid zur Klimaneutralität bis 2030. Der nächste, der nach politischer Präferenz befolgt oder ignoriert werden wird? [...] Was Berlin kann, ist Vorbild sein und Leuchtturm werden. Ein Ja beim Volksentscheid kann maximalen Druck aufbauen und klimaschädliche Politik erschweren. Damit wäre schon viel gewonnen. Ein künftiger Senat, der bei einer globalen Überlebensfrage andere Prioritäten setzt als die vom Volk bestimmten, käme zurecht in Erklärungsnot. (Stefan Jacobs, Tagesspiegel)
Ich habe mich an dieser Stelle schon oft gegen Volksentscheide geäußert, aber auch das hier ist mal wieder ein super Beispiel dafür, warum die Dinger nicht besonders gut sind und die in sie gesteckten Erwartungen von demokratischer Teilhabe einfach nicht erfüllen können. Politik ist super komplex und lässt sich nicht einfach auf Ja-Nein-Fragen herunterdampfen, schon gar nicht bei eher technischen Themen, für die es eine Fülle von Expertise braucht. Was weiß ich denn, wie realistisch Klimaneutralität für Berlin 2030 ist? Wäre 2033 besser? 2040? Geht es schon 2025? How the fuck should I know? Es ist völlig absurd, das in einen Volksentscheid zu stellen. Da kann nur Mist dabei rauskommen.
Braucht es mehr Druck für Klimaschutz, wie Jacobs hier schreibt? Unbedingt. Aber der Volksentscheid steht in einem rechtlichen Niemandsland, schafft eine diffuse Erwartung, dass die Kraft des Plebiszits politische Realität schaffen möge. Und das geht einfach nicht, das kann nicht gehen. Jeder Volksentscheid stellt aufs Neue Erwartungen auf, die er nicht erfüllen kann. Im besten Fall bleibt das einfach folgenlos, im schlimmsten Fall kommt ein Brexit-Votum raus. Man sollte den Unfug einfach endlich bleiben lassen und stattdessen die eigenen Abgeordneten stärker zur Verantwortung ziehen. Aber das ist halt wesentlich anstrengender als "Ja" oder "Nein" anzukreuzen.
2) Bundesfinanzminister Lindner verschiebt Vorlage der Etat-Eckwerte
Ursprünglich wollte der FDP-Politiker die Etatpläne am kommenden Mittwoch dem Kabinett präsentieren. Lindner habe nun entschieden, den Termin zu verschieben, „da die Vorstellungen der Ressorts insgesamt nochmal gründlich nach unten korrigiert werden müssen“, hieß es in Regierungskreisen. [...] All diese Wünsche stellen Lindner vor ein Problem. Er will auch im nächsten Jahr die in der Verfassung verankerte Schuldenbremse einhalten. Lindner hat immer wieder klargemacht, unter allen Umständen einen „verfassungskonformen Haushalt“ vorlegen zu wollen. [...] Dafür müssten Prioritäten gesetzt werden, weil nicht alles gleichzeitig finanzierbar sei. Genau diese Erfahrung machen gerade auch Lindners Kabinettskollegen. (Martin Greive/Jan Hildebrand, Handelsblatt)
Man muss es der FDP lassen, sie ist super im Framing dieser Umstände. Diese "Engpässe" und "Realitäten" sind ja alle politisch konstruiert. Das ist, wie wenn ich meinen Kindern sage, dass sie nur eine Süßigkeit am Abend bekommen, und wenn sie mehr wollen, verweise ich traurig auf die Realitäten der bestehenden Regeln. Geht halt leider nicht anders. Aber das ist Quatsch, diese Regel habe ich ja selbst aufgestellt. Die Regel mag auch sinnvoll sein - zu viele Süßigkeiten für Kinder, die naturgemäß keine gute Selbstkontrolle haben, sind schlecht - aber es sind Regeln, die ich geschaffen habe, die ich auch so kommunizieren und die ich gegebenenfalls rechtfertigen muss. Zumindest, wenn ich ein gutes Elternteil sein will und nicht nur mit der "weil ich es so sage"-Keule kommen will. Wenn eine politische Regel gut ist, dann kann man das euch rechtfertigen und muss sich nicht darauf zurückziehen, dass es eine naturgesetzähnliche Regelung sei, die nun mal letztgültig ist.
Was mir in dem Zusammenhang auch immer wieder auffällt - auch, weil letzthin in den Kommentaren hier harsche Kritik an Lindners Performance im Ministerium gemessen an den ordoliberalen Vorstellungen geübt wurde - ist die Rolle des Finanzministeriums. In den Händen bürgerlicher Politiker*innen dient das Ding vorrangig als Verhinderungsministerium, während Progressive es mittlerweile als Ermöglichungsministerium begreifen (weswegen die Grünen es ja auch sehr gerne haben würden). Es geht darum, knappe Ressourcen zu verteilen (und sie gegebenenfalls künstlich weiter zu verknappen oder auszuweiten, je nachdem auf welcher Seite des Spektrums man steht). Aber es ist natürlich eine schwierige Wahlkampfbotschaft zu sagen "ich habe Pläne verhindert", das ist nie so toll wie irgendetwas geschafft zu haben. Ich glaube, an diesem Paradox leidet die FDP gerade auch ein wenig.
3) Linken-Chef Schirdewan fordert Privatjet-Verbot
Linken-Parteichef Martin Schirdewan fordert ein Verbot von Privatjets, um CO2-Emissionen zu senken. "Die Klimakatastrophe ist real, und wir müssen uns den politischen Antworten stellen", sagte er dem ZDF. "Diese Antworten werden drastisch sein müssen und auch radikal." Allein die Strecke Hamburg - Sylt sei im vergangenen Jahr 508 Mal geflogen worden, kritisierte Schirdewan. "Das ist eine Strecke, die man locker mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurücklegen kann." Die Strecke werde deshalb besonders oft geflogen, "weil Sylt eben auch ein beliebter Ausflugsort von Prominenten und von Superreichen ist", sagte Schirdewan. "Diese Strecke steht für mich symbolisch dafür, dass wir generell etwas ändern müssen, wenn wir Klimaschutz effektiv voranbringen wollen." Allein in Deutschland würden 134 Milliardärinnen und Milliardäre in einem Jahr mehr als die Hälfte aller Emissionen erzeugen, behauptet der Linken-Politiker. Laut Umweltbundesamt haben den größten Anteil an CO2-Emissionen die Energieversorgung (2021 waren es 34,9 Prozent), Gewerbe und Industrie (zusammen 24,9 Prozent) und danach folgt der Verkehr (21,8 Prozent). (ntv)
Alter Schwede, was für ein Schmarrn. Ich wäre ernsthaft überrascht, Milliardär*innen auf Sylt zu finden. Das Ding ist dafür viel zu kommerzialisiert. Das ist was für die oberen 10%, nicht für die oberen 0,0001%. Das ist Punkt 1. Punkt 2 ist, dass "die Hälfte allen CO2" so offensichtlich kompletter Unfug ist, dass ich mich echt frage, wie irgendjemand das raushauen kann, ohne sofort vor Scham im Boden zu versinken. Selbst mit dem Argument, dass Milliardär*innen irgendwie die Wirtschaft kontrollierten haut das nicht hin, und don't get me wrong, das wäre auch ein Scheiß-Argument.
Für mich ist das ein Superbeispiel dafür, wenn Leute einfach nur das Thema de jour nehmen, um ihre eigenen Vorlieben abzuladen. Genauso, wie die FDP in ALLEM einen Grund für Steuersenkungen finden wird (Klimawandel? Steuern senken! Schulden? Steuern senken! Wirtschaftskrise? Steuern senken! usw.), genauso wir die LINKE in allem einen Grund für Strafmaßnahmen gegen "Reiche", "Milliardäre" oder was auch immer das tagesaktuelle Bullshitbingo ausgespuckt hat finden. Als ob es Schirdewan auch nur eine Sekunde um Klimaschutz gehen würde. Das ist einfach nur Reflex.
Und schade! Denn diese Privatflüge SIND Irrsinn, klimapolitisch betrachtet. Nach Sylt zu fliegen ist gleich dreimal Unsinn, und das Ausmaß von Flügen auf die Insel ist völlig bekloppt. Ich war ja vergangenen Sommer erst da; ich hab in dreieinhalb Stunden Strand dreizehn Flieger über mir gezählt (Starts und Landungen, klar, aber trotzdem). Am schlimmsten fand ich den Golfplatz auf Föhr, der damit Werbung gemacht hat, dass die Leute von Sylt mit dem Privathubschrauber rüberjetten, weil sie da unter sich sind. Fuck these people. Aber bitte mit einem Mindestmaß von Hirn an.
Der Gedanke war so tröstlich: Wenn die Reichen schon mehr Geld haben, glücklicher sind sie dann doch nicht. Irgendwo zwischen 60.000 und 90.000 Euro Jahreseinkommen sei eine Grenze, so ging die Weisheit: Danach mache mehr Geld nicht mehr glücklicher. Entsprechend oft wurde das Forschungsergebnis auf der Welt rumerzählt: in Sonntagsreden, in Motivationsworkshops, bei Degrowth-Demonstrationen. Doch es ist falsch. Der zentrale Wissenschaftler hat sich korrigiert und sagt jetzt: Glück kann man doch kaufen. [...] Jetzt sind sich beide einig: Die viel beschworene Grenze des Glücks gibt es gar nicht. Es ist sogar noch drastischer: Für die glücklichsten Leute wächst ihr Hochgefühl oberhalb von 100.000 Dollar sogar noch schneller an als bei den niedrigeren Einkommen. Umgekehrt scheint es für die unglücklichsten Leute tatsächlich eine Grenze in der Region von 100.000 Dollar zu geben. Das traurigste Siebtel der Leute, dem hilft mehr Geld tatsächlich nicht mehr. Es sind die harten Schicksale des Lebens, wie beide Forscher vermuten: Herzschmerz, Trauer und Depression – das sind die Schicksale, gegen die auch großer Reichtum nicht ankommt. Auch körperliche Schmerzen schlagen aufs Glück, so viel weiß die Wissenschaft schon lange. Jedenfalls folgern die beiden Forscher: Dass Geld Unglück lindern kann, diese Fähigkeit ist irgendwann ausgeschöpft – dann geht da nichts mehr. Dass Geld das Glück steigern kann, diese Fähigkeit kennt dagegen kein Ende. (Patrick Bernau, FAZ)
Diese Ergebnisse wundern mich nicht. Ich erinnere mich, Anfang der 2000er ein Buch zur Glücksforschung gelesen zu haben, in dem dieses Argument auch drin war. Damals fand ich das total überzeugend (und auch bis vor relativ Kurzem, fürchte ich). Die Attraktivität dieser These scheint mir in einer gewissen Sozialromantik zu liegen, einer Verklärung von Armut. Daher kommt ja dann auch der Unfug, dass Menschen in in Slums von Bangladesch genauso glücklich oder noch glücklicher seien als wir hier. Klar, einerseits vergleichen sich Slumbewohner*innen untereinander, weswegen das relativ nicht so schlimm ist, und Freundschaften machen glücklich, auch wenn man im Dreck lebt.
Aber niemand kann mir erzählen, dass existenzielle Not dieselbe Lebenszufriedenheit erlaubt wie die abgesicherten Verhältnisse in Deutschland. Zwar sind Bürgergeldempfangende in Deutschland natürlich relativ zum Rest der Gesellschaft schlecht gestellt und bekommen das, anders als die Slumbewohnenden, ständig gespiegelt. Aber sie sind nicht existenziell bedroht. Sind sie krank, können sie zum Arzt. Sie können sicher sein, satt zu werden und ein Dach über dem Kopf zu haben. Alles nicht geil, aber man kann mir nicht erzählen, dass ich unter der ständigen Bedrohung der nackten Existenz ebenso "glücklich" sein kann wie ohne.
Ich glaube, das hängt viel mit primitiver Kapitalismuskritik zusammen. Es hat einfach was, gegen Geld und materiellen Besitz als Maßstab zu argumentieren, ganz besonders dann, wenn man Geld und materiellen Wohlstand in einem gewissen Maß genießt. Aber Konsum macht glücklich, ganz egal, was Konsumverächter*innen sagen. Entsprechend macht es auch Sinn, dass höhere Einkommen Lebenszufriedenheit generieren.
Oft kommt als Ergänzung der Vorwurf, dass die Linken früher noch in der konkreten Lebensrealität des einfachen Volkes verwurzelt waren, ihnen heute aber „von oben“ mit dem Zeigefinger kommen. Nun wollten Sozialisten, Sozialdemokraten und alle anderen Linken schon früher die arbeitenden Klassen einerseits ermächtigen, aber andererseits immer auch verändern. Weltverbesserung und Selbstverbesserung waren stets untrennbar miteinander verbunden. Der Ursprung der Arbeiterbewegung lag oft in Arbeiterbildungsvereinen. Die Idee dahinter war, dass man den ungebildeten, analphabetischen Arbeitern Wissen vermittelt, denn, so hieß die Parole, „Wissen ist Macht“. Mit dem Wissen, Lesen und Schreiben wurden auch Werte vermittelt, die an die Vernunftvorstellungen der Aufklärung angelehnt waren. Die Anführer der Sozialisten legten beispielsweise den männlichen Arbeitern nahe, ihren Wochenlohn nicht prompt am Samstagabend zu versaufen, sie ermahnten sie, ihre Frauen anständig zu behandeln, sie propagierten neue Partnerschaftsmodelle, sie hatten sogar die Frechheit, die Männer aufzufordern, sich gelegentlich um die Kinder zu kümmern, damit die Frauen auch in Parteiversammlungen gehen könnten. Ärger noch: Man erklärte ihnen die Vorteile von Sanitärinstallationen, die Sozialisten druckten in ihren Zeitungen Anleitungen, wie man sich die Zähne putzt, und dass man die Wohnungen nicht nur fegen solle, sondern auch feucht mit dem Mopp wischen. Mit einem Wort: Man hat die Menschen verändern wollen, und niemand wäre damals auf die Idee gekommen, dass daran etwas schlecht sein könnte.[...] Skurril ist der Vorwurf der Rechten, weil ihnen gar nicht auffällt, dass auch sie selbst die Menschen ummontieren wollen. (Robert Misik, taz)
So korrekt die historische Einordnung ist, so irrelevant scheint sie mir. Wir haben völlig gewandelte gesellschaftliche Normen, die Misik ironischerweise zwar als Erfolg der Umerziehungspolitik anerkennt, aber für ihre jetztige Unpopularität völlig ignoriert. Letztlich haben die Umerziehungserfolge dazu geführt, eine wesentlich souveränere Bevölkerung zu schaffen, die von weiteren Umerziehungsversuchen weniger wissen will. Wir wurden als Gesellschaft unglaublich viel liberaler, geben den individuellen Rechten und Souveränität und Unverletzlichkeit des Individuums inzwischen wahnsinnig viel mehr Raum als vor 100 oder 150 Jahren. Entsprechend wollen die Leute keine Umerziehung mehr, zumindest nicht in dem Sinne, wie die Sozialisten das früher gemacht haben. Das gilt auch nicht nur für Linke; diese Art der Umerziehung, der pädagogische Zeigefinger, war ja lagerübergreifend einfach wesentlich stärker ausgeprägt. Das Ausmaß, mit dem sich etwa Kirchen, Vereine etc. noch in den 1970er und 1980er Jahren routinemäßig in das Alltagsleben der Menschen einmischten, wäre heute völlig unvorstellbar. The times, they are a-changing.
Resterampe
a) Spannender Artikel zur Funktionsweise der griechischen Polis.
b) Differenzierter Blick auf die Frage, ob die Midterm Elections eigentlich eine gute Idee sind.
c) Korrekter Take bezüglich alternativer Weimarer Geschichtsverläufe, die sich um Gustav Stresemann drehen.
d) Informative Aufstellung der Aufgaben von Artillerie.
e) Kein besonders schöner Einblick in die Abgründe mancher "Historiker".
f) Rudi Bachmann hat auch noch was zu "Technologieoffenheit". Aber "Offenheit" ist eh so ein FDP-Ding ;)
h) Zum Thema Lehrkräftemangel. Kann ich alles bestätigen.
i) Die FDP kriegt sogar von anderen liberalen Parteien im EP Ärger wegen der Sabotage des Brenner-Aus.
Dir gefällt, was Stefan Sasse schreibt?
Dann unterstütze Stefan Sasse jetzt direkt: