2009, Herbstregen, früher Abend, tiefes Neukölln. In einer  Seitenstraße der Sonnenallee, die noch nicht von linken  Gentrifizierungsgegnern erobert wurde. Eine ranzige Pommesbude –  großzügiger Raum zwar, aber abgenutzte Einrichtung, speckige  Oberflächen, Geruch von altem Frittierfett. In der Ecke drei oder vier  Besucher, die nur zum Biertrinken hier sind, debattieren über  Integration. Eine Frau in den Fünfzigern, helle Haare, rauchige Stimme,  vertritt als einzige in der Runde bürgerlich-linke Positionen. Aber sie  beherrscht die korrekten Sprachregelungen nicht. Sie spricht etwas  schnodderig von „Moslems“ statt respektvoll von „Muslimen“, redet von  „unseren ausländischen Mitbürgern“ und von „Asylanten“. Dabei ist sie  sehr bemüht und sagt inhaltlich nichts Anstößiges, aber ihr Vortrag  wirkt derb und irgendwie unglaubwürdig. Würde sie in dieser ungehobelten  Sprache etwas Kritisches sagen, zum Beispiel über den Islam oder über  erhöhte Kriminalitätsraten von Zugewanderten, sie würde sehr viel  authentischer wirken. Und rechtsradikal, so wie ihre Bekannten.

Laufend wird in die Sprache eingegriffen

Begriffe werden aussortiert, alte werden durch neue ersetzt. Wer sich  progressiv geben will, nutzt die neuen, wer zu lange die alten nutzt,  wirkt bald ewiggestrig. Ein Prozess, der schon lange kritisiert wird und  sich stetig verschärft. In den Neunzigern lautete der Titel einer groß  angelegten Kampagne nach den fremdenfeindlichen Ausschreitungen in  Rostock-Lichtenhagen „Mein Freund ist Ausländer“. Wer Menschen mit  Migrationsgeschichte heute noch Ausländer nennt, kann schon einpacken.  Und Fremdenfeindlichkeit sagt man auch nicht mehr, weil man damit hier  lebende Menschen aus einer normativ deutschen Perspektive heraus  sprachlich als Fremde markiert.

Dabei stehen hinter den scharfen Forderung nach Einhaltung solcher  Sprachregelungen oft ziemlich unscharfe Argumentationen. Menschen mit  dunkler Haut als Farbige zu bezeichnen gilt zum Beispiel als  rassistisch. Denn das sei die Wortwahl der Kolonialherren gewesen. Aber  mit dem Modewort People of Color praktisch dasselbe Wort ins Englische  zu übersetzen, gilt zur Zeit als Krone der politischen Korrektheit. Eine  kaum nachvollziehbare, feine Linie zwischen topkorrekter Rede und  Nazisprech. Zudem könnte man auch der aktuell korrekten Bezeichnung  People of Color schwere Vorwürfe machen. Grenzt sie nicht, ähnlich wie  der Begriff Fremdenfeindlichkeit, Einheimische als Fremde aus? Auch im  deutschsprachigen Raum alle Nichtweißen unter einer englischsprachigen  Sammelbezeichnung zusammenzufassen, klingt ja nicht gerade danach, dass  man „richtige Deutsche“ in ihnen sieht.

Dynamik der Neuregelungen macht die Gefahr unberechenbar

Die Inkonsistenz und die häufigen Änderungen machen die fehlerlose  politisch korrekte Rede zu einer anspruchsvollen und elitären  Angelegenheit. Wer sich mehr für Fußball als für den Feuilleton  interessiert, der bekommt viel von der Stimmung, aber nur wenig von den  oft kleinlichen Begründungen der immer neuen Sprachregelungen mit. Für  weniger Belesene wie die Frau im Imbiss muss es sein, als müsste man mit  verbundenen Augen durch einen abgedunkelten Raum laufen, in dem jemand  Fettnäpfchen hin und her schiebt. Oder sollte man besser von Tellerminen  reden? Man bekommt ja nicht nur schmutzige Füße – es werden Existenzen  vernichtet. Die unbedachte Verwendung eines umstrittenen Begriffs kann  reichen, um in der öffentlichen Wahrnehmung rechts im Abseits zu stehen.

Wie das Schiedsrichterteam bei einem Champions-League-Spiel im vergangenen Dezember etwa. Die Schiris wollten einen Mitarbeiter eines der Teams wegen eines  Regelverstoßes ermahnen und sagten zur Identifizierung „der Schwarze  dahinten“. Sie konnten noch vor Ort aufklären, dass das Wort „negru“,  das sie verwendeten auf ihrer Landessprache schlicht Schwarz bedeutet.  Aber das reichte nicht. Es wurde ihnen vorgeworfen, dass sie zur  Identifizierung eines Weißen niemals „der Weiße dahinten“ gesagt hätten,  dass sie damit den Schwarzen auf seine Hautfarbe reduzieren würden –  und dass das Rassismus sei. Dabei würde man selbstverständlich einen  Rothaarigen zwischen lauter Blonden, eine Frau zwischen lauter Männern  und sicher auch einen Weißen zwischen lauter Schwarzen genau mit diesen  Attributen beschreiben. Egal – die Spieler beider Teams verließen  beleidigt den Platz, das Spiel musste abgebrochen werden. Die Presse  jubelte und die Schiedsrichter haben vermutlich nie wieder ein Spiel auf  diesem Niveau gepfiffen.

Absurd, aber rigide

Wie soll man das der Frau im Bistro erklären? „Der Schwarze dahinten“  ist rassistisch? So schwer rassistisch sogar, dass dafür gleich ein  millionenteures Champions-League-Spiel abgebrochen wird? Das verstehen  vielleicht die Leser der Süddeutschen, aber für normale Menschen, gerade  für solche aus bildungsferneren Kreisen lautet die Botschaft nur: Ein  falsches Wort und du kriegst was auf die Schnauze! Besser gar nichts  sagen.

Man fühlt sich unwillkürlich an den Filmklassiker Life of Brian  erinnert. Eine aufgeheizte Meute, die nur darauf wartet, endlich mit der  Steinigung beginnen zu dürfen. Der Verurteilte steht halbnackt, in  Ketten, ohne jede Verteidigung vor dem Mob und versteht die ganze  Aufregung nicht. Er habe sich doch nur mit seiner Frau über das  wundervolle Abendessen unterhalten, das sogar gut genug für den  Allmächtigen gewesen wäre – dabei allerdings dessen verbotenen Namen  verwendet. Es entspannt sich eine aufgeregte Diskussion über das  Vergehen, in der die Beteiligten reihenweise ebenfalls versehentlich das  verbotene Wort wiederholen und alle gleich mit gesteinigt werden.  Jehova, Jehova!

Wir sind nicht weit davon entfernt. Man wird freilich nicht zum  physischen Tod verurteilt, aber es droht der soziale. Und man kann nie  sicher sein, welches Wort gerade verboten ist. Erwischt man eines, wird  man mit etwas Glück nur für ein bisschen abgehängt gehalten. Mit etwas  Pech verliert man seinen Job, seinen Ruf und wird öffentlich mit dem  Stigma des Rassisten versehen. Wie in der Filmszene kann die  versehentliche Nutzung eines einzelnen Wortes ausreichen. Ist sie mit  kritischen Inhalten verbunden, kann man sich der Verurteilung sicher  sein.

Richter gegen die eigenen Prinzipien

Entgegen den weitsichtigen Monty Python sind es heute kurioserweise  häufig Filmemacher, Journalisten, Schriftsteller, Künstler im weitesten  Sinne, die sich beim Canceln und Verurteilen besonders hervortun.  Menschen aus einem Milieu, in dem der Tabubruch, die Kritik, das  Hinterfragen von Konventionen und Denkverboten eigentlich immer  wesentlicher Teil des Selbstverständnisses war. Menschen, die sich für  progressiv halten und davon überzeugt sind, dass sie mit ihrer  Sprachhygiene etwas gegen Diskriminierung und Menschenfeindlichkeit tun.  Die denken, dass Begriffe aus undemokratischen Zeiten unterdrückt  werden müssten, um damit undemokratische Konzepte wie Rassismus zu  überwinden. Menschen, die sich hochtrabend „Kulturschaffende“ nennen und  sich dabei selbst mit einem Titel schmücken, den sich niemand anderes ausgedacht hat als die Nationalsozialisten.

Die Dame im Neuköllner Schnell-Restaurant – sie hat mittlerweile  sicher einen Umgang mit all dem gefunden. Bestimmt hat sie mit ihrer  ungehobelten Sprache des Öfteren mal einen Nazivorwurf einstecken  müssen. Oder sie hat mitgekriegt, wie andere aus heiterem Himmel  verurteilt wurden, weil sie dieselben Worte nutzten wie sie. Sicher hat  sie auch mal, so wie alle anderen Menschen auch, über Vorkommnisse aus  ihrem Alltag gemeckert – bei ihr in Neukölln dann vielleicht über in  zweiter Reihe parkende Luxusautos junger Männer mit Migrationsgeschichte  oder über vollverhüllte Mädchen, deren Brüder auf der Straße normal  gekleideten Mädchen Vulgärbegriffe hinterherwerfen. Dann ist der Vorwurf  des Rechtsradikalismus zweifelsfrei nicht Ungewöhnliches für sie.

Geprügelte Hunde werden nicht unbedingt netter

Aber welche Wahl sie wohl als Reaktion auf die Diffamierungen  getroffen hat? Hat sie irgendwann schamvoll und eingeschüchtert ihr  Haupt gesenkt und tut nun alles, um die Erwartungen an sie zu erfüllen?  Abstand zu ihren alten Bekannten? Vielleicht ein Regenbogensticker an  der Jacke, damit man schon von weitem sieht, dass sie zu den Guten  gehört? Oder hat sie sich wütend und frustriert dafür entschieden, zu  schweigen? Wie so viele, kein Wort mehr zum Thema. Und wenn doch, dann  nur ein ganz leises, aber sicher kein nettes.

Allerdings hatte die Dame auch etwas Selbstbewusstes in der Stimme.  Gut möglich, dass sie sich durch die Drohungen und Beleidigungen gar  nicht hat einschüchtern lassen. Dann hat sie sich über die Jahre wohl  notgedrungen irgendwie mit dem Vorwurf arrangiert. Vielleicht hat sie  sich all die Fremdzuschreibungen und Etikettierungen irgendwann trotzig  zu eigen gemacht: „Bin ick eben Nazi!“. Dann fühlt sie sich jetzt,  gemeinsam mit Hunderttausenden anderen leichtfertig Verurteilten, als  Teil eines großen Lagers der Ausgegrenzten. Eines Lagers, das von  harmlosen Bürgern, die sich den Mund nicht verbieten lassen wollen bis  tief in tatsächlich rechtsextremistische Kreise reicht. Dann grenzt sie  sich jetzt nicht mehr vom Rand ab, sondern von der Mitte. Und ihre  Offenheit gegenüber extremistischen Argumentationen ist nun größer als  gegenüber allem, was in den großen Medien vertreten wird, in denen sie  so oft verachtet und beschimpft wurde.

Kein Gewinn im Kampf gegen Rassismus, ein gewaltiger Schaden an  Demokratie und Meinungsfreiheit. Aber ein Fest für die extreme Rechte.

(Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht auf querstrebe.com)