Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.

Fundstücke

1) Mit Lisa Paus ins Kafka-Jahr

Josefine K., eine alleinerziehende Mutter, die kürzlich ihren Job verloren hat und eine Umschulung macht, muss mit insgesamt acht verschiedenen Behörden Kontakt aufnehmen, um die staatliche Unterstützung zu erhalten, die ihr zusteht. Diese Behörden umfassen die Familienkasse für Kindergeld und Kinderzuschlag, die Wohngeldstelle für Mietzuschüsse, die Bundesagentur für Arbeit für Arbeitslosengeld und das Jugendamt für einen Unterhaltsvorschuss für ihre Tochter. Zusätzlich muss sie sich mit dem Finanzamt wegen Kinderbetreuungskosten und dem Alleinerziehendenfreibetrag auseinandersetzen sowie mit dem Sozialamt für Sozialhilfe und Pflegehilfe für ihren Vater. Darüber hinaus hat sie auch mit der gesetzlichen Krankenkasse und der Pflegeversicherung zu tun. Dieser bürokratische Prozess, der zwölf verschiedene Leistungen umfasst, kann monatlich erneuert werden und erfordert eine umfangreiche Einzelfallberechnung aufgrund seiner hohen Komplexität. Trotz der Herausforderungen wird nur ein Bruchteil der berechtigten Personen die vollen Leistungen beantragen, was zeigt, dass die Bürokratie oft abschreckend wirkt. Die Bundesfamilienministerin Lisa Paus schlägt vor, dieses Problem mit einer neuen Behörde namens "Familiencenter" zu lösen, was jedoch zu noch mehr bürokratischem Aufwand führen könnte. (Alexander Neubacher, Spiegel)

Eine deutlich gehaltvollere Analyse der Details der Gesetzgebung für Policy-Wonks findet sich hier. Das Drama um die Kindergrundsicherung ist irgendwie typisch für die Prozesse in der Ampel im Speziellen und der Politik im Allgemeinen. Letzteres zuerst: Dass Institutionen, wie Florian Diekmann wortreich beklagt, ihre eigenen Kompetenzen erweitern und keinesfalls welche einbüßen wollen, ist nun wahrlich kein Geheimnis. Wenn man ernsthaft dagegen vorgehen wöllte, so bräuchte es eine entsprechende Initiative, die politisches Kapital verbrennt. Das heißt, vor allem Olaf Scholz müsste sich engagieren (an der Stelle einmal ernsthaft lachen) und die drei Parteien müssten sich einigen, ihren jeweiligen Fachministerien Federn zu rupfen. Das ist schon unter harmonischen Bedingungen eine tall order. Dass neue Bürokratie geschaffen wird, ist genauso wenig überraschend. Man sieht das Ganze wunderbar und in noch viel größerem Ausmaß als bei der Kindergrundsicherung bei der Bezahlkarte für Geflüchtete, aber da es da gegen Geflüchtete geht, ist das kein Problem.

Damit kommen wir zu den Spezifika des Falles. Der oft wiederholte Vorwurf an Paus ist, dass sie schuld am aktuellen Dilemma sei, weil sie 12 Milliarden gefordert hätte, wo Lindner nur 2 Milliarden geben wollte. Nur: das ist ein sinnloser Vorwurf. Wer das Projekt der Kindergrundsicherung für sinnvoll hält, aber mangels diktatorischer Fähigkeiten nicht die anderen Ministerien beschneiden kann, wird zwangsläufig bei neuen Strukturen und Mehrausgaben rauskommen. Es ist völlig abwegig zu sagen, dass man die Kindergrundsicherung für eine tolle Idee hält, sie aber nicht finanzieren will. Lindner hält wenig von der Idee, weswegen er das Geld nicht bereitstellt (anders als bei Ideen, die er mag, wie dem Tankrabatt). Aber so zu tun, als hätte Paus sich einfach nur auf den Rücken drehen und die Gliedmaßen wegstrecken müssen und alles wäre super funktioniert halt nur, wenn man verlangt, dass sie ihre Ziele aufgibt. Das kann man natürlich mit Blick auf die Machtverhältnisse in der Ampel tun, nur muss man sich dann entsprechend ehrlich machen. Siehe dazu auch hier.

Ein letzter Gedanke: mir scheint das einmal mehr eine der verpassten Chancen der Fortschrittskoalition zu sein. Gerade hier hätte die FDP genuin Bürokratieabbau betreiben können, wäre ein schmerzhafter Kompromiss für alle Seiten möglich gewesen, um etwas fundamental Neues und Besseres zu schaffen. Stattdessen haben ideologische Scheuklappen und Ressorteitelkeiten alles überstimmt.

2) Do Voters Care About Policy Even a Little?

Die Idee, dass politische Erfolge die Wählergunst steigern, wird durch das Beispiel der Senkung von Arzneimittelpreisen in Frage gestellt. Obwohl das Senken der Preise für verschreibungspflichtige Medikamente eine breite Unterstützung genießt, hat Präsident Biden trotz der Verabschiedung entsprechender Gesetze wenig Anerkennung erhalten. Die Kosten für Medikamente sind in den USA im Vergleich zu anderen Ländern hoch, und die Einführung der Möglichkeit für Medicare, Preise mit Arzneimittelherstellern zu verhandeln, könnte die Ausgaben drastisch senken. Trotzdem bleibt Bidens Zustimmungsrating niedrig, und viele Wähler sind sich nicht bewusst, was seine Regierung erreicht hat. Die begrenzte mediale Aufmerksamkeit für diese populären Maßnahmen und das Fehlen dramatischer Konflikte könnten dazu beitragen. Obwohl Biden das Problem adressiert hat, bleiben Zweifel, ob politische Erfolge die Wähler beeinflussen können. (Rogé Karma, The Atlantic)

Die Frage aus der Überschrift lässt sich leicht beantworten: nein, Wählende interessieren sich nicht für Policy. Dass Biden auf zahllosen Gebieten das Leben der allermeisten Amerikaner*innen wesentlich besser gemacht hat, ist letztlich beinahe irrelevant: zum einen wissen die Wählenden es nicht, und zum anderen gouttieren sie es nicht. Identitätspolitik schlägt alles, selbst unter politisch interessierten Zeitgenoss*innen. Aber: das bedeutet nicht, dass Policy irrelevant ist. Denn sie hat eine große Langzeitwirkung. Dafür nur zwei Beispiele: als die Democrats in den 1990er Jahren die Macht übernahmen (oder Labour und die SPD) bauten sie alle auf Policys ihrer konservativen Vorgängerregierungen auf. Diese waren völliger Standard geworden und hatten das gesamte politische System verändert. Umgekehrt sehen wir gerade, dass Obamacare mittlerweile überwältigende Zustimmung in der Bevölkerung genießt und alle republikanischen Abschaffungsversuche gescheitert sind. Ob die Idee des Sondervermögens wieder aus dem deutschen politischen Diskurs verschwinden wird, bleibt ebenfalls abzuwarten, und so weiter. Anders ausgedrückt: mit Policy gewinnt man nicht die nächsten Wahlen, aber man bestimmt die übernächsten.

3) Faschisten wollen Future

Der Artikel untersucht die Widersprüche im Umgang mit Rechtsextremismus und Faschismus in der politischen Landschaft, insbesondere im Kontext von Donald Trump und der AfD. Er kritisiert die Neigung vieler, den Begriff des Faschismus locker zu verwenden, während sie gleichzeitig rechtsextreme Tendenzen nicht ernsthaft bekämpfen. Die Autoren betonen, dass Trump und die AfD zwar oft als faschistisch bezeichnet werden, aber ihre Ideologien und Methoden nicht vollständig den historischen Faschismen entsprechen. Sie argumentieren, dass eine zu oberflächliche Verwendung des Faschismusbegriffs dazu führen kann, die spezifischen Gefahren des gegenwärtigen Rechtsextremismus zu unterschätzen. Darüber hinaus wird die Tendenz kritisiert, Trump und die AfD als Einzelfälle darzustellen, anstatt strukturelle Probleme in der Gesellschaft anzuerkennen, die ihr Aufkommen begünstigen. Die Autoren plädieren dafür, sich auf die konkreten Auswirkungen rechtsextremer Politik auf die Demokratie zu konzentrieren und gleichzeitig die historische Dimension des Faschismus nicht zu vernachlässigen. Sie fordern eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Thema, die sowohl die spezifischen Merkmale rechtsextremer Bewegungen als auch ihre potenzielle Gefahr für demokratische Gesellschaften berücksichtigt. (Nils Markwardt, ZEIT)

Dieser fulminante Großessay ist unbedingt in seiner Gänze lesenswert und wohl eine der besten Beobachtungen zum Aufstieg der Rechten und ihrer ideologischen Grundlagen sowie ihrer Verbindungen zum Faschismus, die es in der letzten Zeit zu lesen gab. Für alle, die sich für den Aufstieg der AfD interessieren (und wer hier tut das nicht?) sollte das Ding ganz oben auf der Lektüreliste stehen. Ich will an der Stelle vor allem den Gedanken der Bewegung und Energie hervorheben, den Markwardt formuliert: das auf die Zukunft gerichtete geht unserer Politik schließlich gerade wirklich komplett ab. Die Merkel-Ära war bestimmt davon, und Scholz ist wahrlich nicht der Mann, den Anspruch der Ampel auf "Fortschritt" Wirklichkeit werden zu lassen. Da diese Entwicklung aber nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern vor sich geht, ist das kein deutsch-spezifisches Problem.

4) Schule und Gesundheit: Lasst die Jugendlichen länger schlafen!

Viele Jugendliche leiden unter einem chronischen Schlafmangel, der durch den frühen Unterrichtsbeginn an den meisten Schulen verursacht wird. Trotz umfangreicher Bemühungen, den Schulbeginn nach hinten zu verschieben, bleiben die meisten Schulen bei einem frühen Start. Dies führt zu gesundheitlichen Problemen wie Konzentrationsschwierigkeiten, Übergewicht, Diabetes, Herzerkrankungen und Depressionen bei den Jugendlichen. Studien zeigen, dass ein späterer Unterrichtsbeginn nicht nur zu besseren schulischen Leistungen, sondern auch zu einer gesünderen Lebensweise führen kann. Bereits eine Verzögerung des Unterrichts um 20 Minuten hat positive Auswirkungen gezeigt. Eine gesetzliche Regelung, die den Schulbeginn auf eine bestimmte Uhrzeit festlegt, könnte Abhilfe schaffen, wie es bereits in Kalifornien geschehen ist. Bis dahin könnten Schulen auf Basis der vorliegenden Forschungsergebnisse eigenständig entscheiden, den Unterricht später beginnen zu lassen, um den Bedürfnissen der Jugendlichen gerecht zu werden. (Veronika Hackenbroch, Spiegel)

Alle Jahre wieder bestätigt eine Studie, was wir seit Jahrzehnten wissen. Ja, die Schule in Deutschland startet zu früh. Ja, die Studienlage ist eindeutig. Nein, das wird sich nicht ändern. Unsere Strukturen sind komplett darauf ausgelegt, dass die Eltern morgens ihren Arbeitstag früh beginnen und die Kinder dann ebenfalls aus dem Bett werfen. Sie müssen das tun, weil die Arbeitswelt ebenfalls so früh beginnt. Man hätte einen Schulbeginn gegen 8.30 Uhr oder 9.00 Uhr, wie er etwa in Großbritannien üblich ist, durchsetzen können, als der Alleinverdienerhaushalt noch die Regel war. Vielleicht. Aber in Deutschland ist der frühe Arbeits- und Schulbeginn beinahe ein religiöses Bekenntnis, und keine noch so empirische Studienlage wird daran etwas ändern, ganz egal, wie schlecht es für die Lernprozesse ist. Man sieht das übrigens auch an den Stundenplänen: die "unwichtigen" Fächer werden wo möglich immer in die Randstunden verfrachtet, während Mathe eigentlich immer priorisiert in die Slots der 3/4 und 5/6 Stunde geschoben wird, wo die Lernleistung am besten ist. Arme Kunstlehrkräfte.

5) Gute Muslime, schlechte Muslime

Die CDU hat ihr Grundsatzprogramm überarbeitet, insbesondere die Formulierung bezüglich des Islam. Die neue Aussage, "Ein Islam, der unsere Werte nicht teilt und unsere freiheitliche Gesellschaft ablehnt, gehört nicht zu Deutschland", stößt jedoch erneut auf Kontroversen. Obwohl betont wird, dass Muslime Teil der Gesellschaft sind, kritisieren einige die Implikationen dieser Aussage. Die Diskussion über die Rolle des Islam in Deutschland ist langwierig und in der Union seit Jahren im Wandel. Frühere Äußerungen von Politikern wie "Der Islam gehört zu Deutschland" oder "Der Islam gehört nicht zu Deutschland" zeigen die Uneinigkeit in der Partei. Friedrich Merz, der sich von der Politik Merkels abgrenzen möchte, lehnt den Satz "Der Islam gehört zu Deutschland" ab und präsentiert eine neue Formulierung. Trotzdem ist zu erwarten, dass die Diskussion über dieses Thema in der Union weitergeht. (Florian Gathmann/Anna Reimann, Spiegel)

Die ganze Diskussion in der CDU leidet darunter, dass sie fundamental unehrlich ist. Viele Leute in der Partei wollen grundsätzlich nicht akzeptieren, dass der Islam zu Deutschland gehören könnte, kein Islam, jemals. Ob reformiert und liberal oder nicht. Der ständige Versuch, anderen Leuten vorschreiben zu wollen, wie sie zu leben und zu glauben hätten und die Muslime unter Generalverdacht zu stellen, ist eine dauernde Nadel im Fleisch der deutschen Einwanderungs- und Integrationspolitik. Er formuliert niemals einen positiven Zustand, macht eine Akzeptanz unmöglich. Das ist ein Problem, weil es definitiv auch die andere Seite gibt (die dann gerne in progressiven Kreisen übersehen wird), in der eine Untergruppe nicht bereit ist, grundlegende Verfassungswerte zu akzeptieren. Aber in der CDU bleibt das Argument vorgeschoben: die Bereitschaft zur Akzeptanz von Muslimen, auch wenn sie unsere Werte (welche auch immer das sein sollen) teilen und die freiheitliche Gesellschaft akzeptieren, ist schlicht nicht da, und diese fehlende Bereitschaft ist nicht eben sonderlich gut versteckt.

Resterampe

a) Gewalt durch Sitzblockaden.

b) Für die Militärgeschichtsfans.

c) Die 2000er sind da und wollen ihre dummen Features zurück.

d) Sehr guter Punkt zur Bildungspolitik.

e) Die indische Demokratie ist auch massiv gefährdet :(

f) Guter Punkt zur MINT-Diskussion.

g) Karl-Theodor zu Guttenberg: Ex-Minister spricht über Depression nach Rücktritt. Glaub ich sofort; es ist ein unerbittliches System.

h) Exzegese von Scholz' Chinabesuch.

i) Wenig überraschend: Claudia Pechstein muss nach CDU-Auftritt in Uniform Geldbuße zahlen.

j) Höcke hat einen neuen Fan.

k) Lesenswert zum Gazakrieg.

l) Wie die "freie Meinungsäußerung"-Partei AfD gegen politische Gegner*innen vorgeht.

m) Die Bestimmungen der Stadt München zum Gendern. Was für ein Clusterfuck. Das kommt halt raus, wenn du aus populistischem Blödsinn heraus solche Gesetze raushaust. Siehe auch die rechtliche Lage in Hessen: Abitur: Gender-Sonderzeichen als notenrelevante Fehler – ohne gültige Rechtsgrundlage?

o) Sehr, sehr lesenswerter Artikel über "Pink Slime" im Journalismus.

p) Sehr guter Beitrag von Sebastian Schmidt zur Reform des Schulsystems.

q) First AI came for the grunts…. Sehr guter Punkt.

r) Wie irgendjemand Schäuble glauben kann, er habe nicht gewusst, dass die schwarzen Kassen illegal sind, ist mir auch unbegreiflich. Völlig lachhaft.

s) Ziemlicher Verriss von Söders Chinareise.


Fertiggestellt am 21.04.2024

Dir gefällt, was Stefan Sasse schreibt?

Dann unterstütze Stefan Sasse jetzt direkt: