Maurice Ravel war die Apollo-Figur der Musikgeschichte. Nicht nur in seiner zerebralen Intellektualität und gleichermaßen präzisen wie preziösen Artistik, sondern ebenso im reflektiven Charakter der mythischen Gestalt Apollos, der als Zwilling Dianas in einer permanenten Ambivalenz zwischen Projektion und Identifikation die Welt als eine Gebilde von Spiegelungen der Wirklichkeit wahrnimmt.

Ravels artistische Physiognomie steht denn auch ganz unter dieser apollinischen Prämisse von Reflexionen und Abstraktionen, Anspielungen und Variierungen, Schärfungen und Klärungen. Dabei nimmt er nicht nur Künstlergestalten ins Visier, in denen er sich perspektivisch spiegelt, auch seine Reflektionen der Musikgeschichte und Zeitläufe sind von diesen prismatischen Sichtweisen geprägt.

Stellt man etwa Ravels Klaviertrio (1914) seiner Sonate für Violine und Violoncello (1920-22) gegenüber, fällt einem der eklatante Gegensatz sofort ins Auge. Das expansive Klaviertrio, das mit dichten Akkorden und Passagen sowie rauschenden Arpeggien die komplette Tastatur und Tessitur seiner Instrumente ausschöpft. Und das Duo, das sich weitgehend auf eine linear kontrapunktische Setzung der beiden Stimmen beschränkt. Ein ähnlicher Gegensatz lässt sich im orchestralen Bereich auch an „Daphnis et Chloé“ (1909-12) und „L’enfant et les sortilèges“ (1919-25) ablesen.

Das Prisma, das zwischen diesen Werken steht, war nichts anderes als die große Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Der erste Weltkriegs, der von 1914 bis 1918 dauerte. Wie der gleichaltrige Thomas Mann spürte auch Ravel, dass die Welt nach 1918 eine andere war und nach neuen ästhetischen Vorzeichen verlangte. Der luxuriöse Glanz der Belle Époque, die in den spektakulären Produktionen von Serge Diaghilews Ballet russe ihr letztes Bacchanal gefeiert hatte, war endgültig vorüber. Benommen rieb man sich nach 1918 die Augen, wie es zu diesem Wahnsinn hatte kommen können.

Maurice Ravel hatte als Fahrer und Helfer auch selbst am Krieg teilgenommen und war nicht nur Zeuge der Grausamkeiten des Krieges sondern erlitt Hunger und Erfrierungen am eigenen Leib. Eine posttraumatische Störung, die sich vor allem in chronischer Schlaflosigkeit äußerte, verfolgte Ravel bis zum Ende seines Lebens. Es ist wenig erstaunlich, dass ein herber Ton der Ernüchterung über vielen Werken der Nachkriegsjahre liegt.

Claude Debussy

Der reflexive Charakter offenbart sich bei Ravel schon in seinen ersten Versuchen. Das „Menuet antique“ (1895), die „Pavane pour une infante défunte“ (1899) und „Jeux d’eau“ (1901) sind auf den ersten Blick Imitationen von Chabriers „Menuet pompeux“, Faurés „Pavane“ und Liszts „Les jeux d’eaux à la Villa d’Este“, was Ravel auch gar nicht zu verbergen versucht. Ganz im Gegenteil betrachtet er es als Herausforderung in einen kompetitiven Wettstreit mit seinen Vorbildern einzutreten, und in artistischer Synthese etwas zu erschaffen, das sein Vorbild noch übertrifft.

Die zentrale Spiegel-Figur für Maurice Ravel war, wie kann es anders sein, Claude Debussy. Dass sie als Dioskuren des französischen Impressionismus in die Musikgeschichte eingingen, liegt eben daran, dass sie gerade in ihrer Gegensätzlichkeit, gleich zwei sich umkreisende Planeten, ein dynamisches und produktives gravitatives Gleichgewicht bildeten. In Temperament und Charakter sowie in ihren erotischen Interessen und artistischen Vorlieben vollkommen verschieden, wurde ihr Verhältnis durch Konkurrenz und gegenseitiger Inspiration energetisch befruchtet.

Das erste Zeugnis ist Ravels Streichquartett (1902/3), das Debussys Vorbild von 1893 unmittelbar nachgeformt ist (am offensichtlichsten im Pizzicato-Scherzo). Auch Debussys „Prélude à l'après-midi d'un faune“ (1892-94) und „Nocturnes“ (1897-99) machten enormen Eindruck auf Ravel (der vor allem in „Daphnis et Chloé“ konkret nachwirkt).

Doch bereits „Jeux d’eau“ ist zwar einerseits vollkommen von Debussys harmonischen Errungenschaften beeinflusst, doch zeigt gleichzeitig in der originellen Klavierbehandlung und seiner formalen Verdichtung und Zuspitzung einen Fortschritt, der dann zurück auf Debussys Klavierschaffen in den „Estampes“ (1903) und „Images“ (1904/5) wirkte.

In der Folge gab es zahlreiche solcher Korrespondenzen, die manchmal offensichtlich sind, etwa bei der „Rhapsodie espagnol“ (1907/8) und „Iberia“ (1905-8), den drei a-capella Chorliedern oder den drei Mallarmé-Liedern, manchmal aber eher weniger, da die Akzentuierung völlig gegensätzlich ausfiel, etwa bei „Ma mère l'oye“ (1908) und „Children’s corner“ (1906-8) oder bei „La valse“ (1919/20) und „Jeux“ (1912/13). Auch bei den beiden „Ondine“ Versionen (aus „Gaspard de la nuit“ (1908) bzw. den „Préludes, livre II“ (1910-12)) ist vor allem interessant wie unterschiedlich Ravel und Debussy sich diesem Märchen-Sujet annähern.

Tschaikowsky und Mussorgsky

Auch wenn es nicht oft thematisiert wird, war Tschaikowsky wohl der Komponist, der nach Debussy den stärksten Einfluss auf Maurice Ravel hatte. Und auch in diesem Fall manifestiert sich die Verbindung in einem Werk, das die Spiegelung eines anderen ist: Ravels Klaviertrio, das sein Vorbild in Tschaikowskys Klaviertrio in a-moll op. 50 hat.

Doch anders als im Fall von Debussy neigt das Verhältnis hier stärker auf die identifikatorische Seite. Schon die Widmung verweist auf diese Parallelität. Wie Tschaikowskys Trio seinem Lehrer und Mentor Nikolai Rubinstein (der eben verstorben war) gewidmet ist, so hat Ravel sein Trio seinem Kontrapunkt Lehrer André Gedalge zugeeignet, von dem er sagte, dass er ihm „die wertvollsten Elemente meines Handwerks verdanke.“

Beide Werke tragen Züge einer Lebenskrise und Selbstevaluierung, sind getränkt von stiller Trauer und nostalgischer Melancholie. War Ravel in den Jahren zuvor der Skandalkomponist gewesen, dessen Werke Missfallensbekundungen und wüste Verisse provozierten, spitzte sich das Klima avantgardistischer Risiken in den Jahren vor dem Krieg immer mehr zu. „Daphnis et Chloé“, das am 8. Juni 1912 seine Premiere durch das Ballet russe erlebt hatte, war lediglich ein lauer Erfolg gewesen. So harmonisch raffiniert und avanciert die Partitur auch war, sie wirkte gegenüber den neuesten Grenzverletzungen harmlos. Vor allem der Auftritt von Arnold Schönberg (dessen „Pierrot lunnaire“ im selben Jahr Furore machte) und der neuen „jungen Wilden“ Strawinsky und Prokofjew, hatte in dieser Beziehung neue Maßstäbe gesetzt.

Ravel spürte, dass sein apollinisches Naturell gegen diese dionysischen Entfesselungen nicht mehr ankam und er sich ästhetisch neu erfinden musste. Das Klaviertrio, kurz nach Beginn des Krieges vollendet, markiert denn auch gewissermaßen den Scheitelpunkt, an dem sich jene Wende zu klassizistischer Strenge abzeichnet, die die Nachkriegsproduktion dann prägen wird.

Tschaikowskys Einfluss geht jedoch noch tiefer. Die Walzer aus den „Valses nobles et sentimentales“ und „La Valse“ mögen formal und assoziativ an Franz Schubert und Johann Strauss angelehnt sein („La Valse“ sollte ursprünglich „Wien“ heißen), doch sind in ihrer strengen Eleganz tatsächlich Tschaikowskys berühmten Walzern viel näher. Auch Ravels Vorliebe für Märchen, Tierparabeln und Fabelwesen in den „Histoires naturelles“, „Ma mère l’oye“ und „L’enfant et les sortilèges“ verdankt nicht nur entsprechenden Vorbildern aus Tschaikowskys Ballettmusiken sehr viel, auch in den entsprechenden sublimierten Projektionen und erotischen Travestien sind sich Tschaikowsky und Ravel sehr nahe.

Die schicksalhafte Verbindung mit Modest Mussorgsky geht vor allem auf Ravels Orchestrierung der „Bilder einer Ausstellung“ zurück, mit dem Ravels Namen im breiten Bewusstsein neben dem „Boléro“ wohl am stärksten verknüpft ist. Der unmittelbare Einfluss Mussorgskys auf Ravel war bei weitem nicht so stark wie auf Debussy. Gleichwohl sind die „Bilder einer Ausstellung“ ein weiteres Beispiel für die spezifisch apollinische Artistik Ravels, der als Orchester-Arrangeur (auch zahlreicher eigener Klavierwerke) im Grunde ähnlich wie als Komponist agierte, indem er seine Vorlage nicht nur orchestral verkleidet sondern ästhetisch reflektiert, synthetisiert und transformiert.

Haydn und Mozart

Die klassizistische Wende, die der erste Weltkrieg für Ravel mit sich brachte, war eine Entwicklung, die sich in der Folge prismatisch immer mehr zurück in die Musikgeschichte erweiterte, und über die Sonate für Violine und Violoncello und die Violinsonate (1923-26) dann gewissermaßen in den beiden Klavierkonzerten (1929-31) kulminiert.

Ravels Jugendfreund Ricardo Viñes berichtet, dass unter den Partituren, die sie als Schüler gemeinsam am Klavier durchnahmen, neben den neuesten französischen Werken und Richard Wagner, Mozart ganz oben rangierte. Ravels G-Dur Klavierkonzert orientiert sich denn auch unverkennbar an Mozarts Klavierkonzerten.

Mit dem D-Dur Klavierkonzert für die linke Hand, das als Auftragswerk für den Pianisten Paul Wittgenstein entstand, ging Ravel in der historischen Spiegelung noch einen Schritt weiter. Denn stand das G-Dur Konzert in der Tradition der italienischen Concerto-Form des Barock mit der Folge schnell-langsam-schnell, greift das D-Dur Konzert das entsprechende französische Pendant der Ouvertüre auf, das dem komplementären Schema langsam-schnell-langsam folgt.

Das Verhältnis von Mozart und Haydn erinnert von Ferne durchaus an jenes Verhältnis von Debussy und Ravel, und war von einer ähnlichen Dynamik der gegenseitigen Befruchtung gekennzeichnet. Wobei Haydn Ravel dem Temperament nach ungleich viel näher stand. Das kurze „Menuet sur le nom de Haydn“ (1909), das zum 100. Todestag von Haydn entstand, ist trotz seiner Unscheinbarkeit von großer Relevanz für Ravels Ästhetik der Sublimierung.

Denn zufälligerweise war auch Ravels Vater Joseph eben verstorben und unverkennbar verarbeitet er in diesem Menuet gleichzeitig seine Trauer um seinen Vater. Dass dies nicht mit emotionalen Ausbrüchen oder schmerzvollem Lamento geschieht, sondern ganz im Gegenteil in ruhig serenem Gleichmaß, ist vollkommen charakteristisch für Ravels apollinische Ästhetik. Emotionen offenbaren sich bei ihm nicht direkt, sondern werden gemessen am Gegendruck der Fassung und Haltung, die er diesen Emotionen entgegensetzt.

Der Klavierzyklus „Le tombeau de Couperin“ (1914-17), dessen Stücke den im Krieg gefallenen Freunden und Bekannten Ravels gewidmet sind, steht unter einer ganz ähnlichen Prämisse, und auch hier ist es das Menuet in derselben Tonart G-Dur, in dem Ravel, erneut verstohlen hintergründig, um seine Mutter trauert, die 1917 verstorben war, und zu der Ravel ein sehr enges Verhältnis gehabt hatte. Es endet mit jenem Terzseufzer, den Ravel später in „L’enfant et les sortilèges“ mit den Silben „maman“ unterlegen wird.

Daphnis und Chloe

„Daphnis et Chloé“ ist nicht nur Maurice Ravels „Opus magnum“, das Werk mit der längsten Spieldauer und dem größten Orchester, plus Chor in Vokalisen. Es ist auch das Stück, das am unmittelbarsten Ravels apollinische Physiognomie offenbart.

Der spätantike Roman von Longos aus dem 2. Jahrhundert nach Christus ist selbst eine Spiegelung von mythischen Erzählungen aus dem klassischen und hellenistischen Griechenland sowie späteren römischen Versionen wie die Ovids. Was alle diese Mythen um das Zwillingsgeschwisterpaar Apollo und Diana (griechisch Artemis) gemein haben, ist die Verwischung und Ambivalenz der geschlechtlichen Identitäten. So invertiert die Geschichte von Daphnis und Chloe, auf der Insel Lesbos spielend, nicht nur Ovids Erzählung von Apollo und Daphne, auch die klassischen Geschlechterrollen sind vertauscht. Der Knabe Daphnis ist das Objekt der Begierde und Chloe die heroisch aktive Figur.

Michel Fokine und Ravel haben sich in ihrem Ballett-Szenario zwar auf wenige Szenen und Motive des Romans beschränkt und konzentrieren sich weitgehend auf die Abenteuergeschichte der Entführung Chloés (bei Longos ist es Daphnis, der entführt wird). Doch im ersten Teil kommen die typischen homoerotischen Szenarien der Induzierung von Eros durch Konkurrenz von dritten Figuren, Dorcon und Lyceion, die man auch aus den Komödien Shakespeares kennt, durchaus zum Tragen.

Die eigentliche Essenz von „Daphnis et Chloé“ liegt jedoch weniger in den narrativen Elementen als vielmehr in der Stofflichkeit der Musik und ihrer Reflektion im Prisma der Orchesterfarben. Gerade jene in Naturbilder und Tanz sublimierten Elemente des Eros, dieseits der Schwelle zur dionysischen Entfesselung - das bange Aufsteigen der Erregung von der Brust in die Kehle, eine serene Ergriffenheit im Angesicht der Schönheit, die Enthusiasmierung durch Rhythmus - wurden wohl nie mit ähnlicher Magie als pure Empfindungsoberfläche in orchestralen Klang transformiert. Auch wenn das Stück als Ballett zu seiner Zeit kein großer Erfolg war, wird es doch als eines der Wunderwerke der abendländischen Musikkultur in die Geschichte eingehen.

Pavane, Walzer und Bolero

Es ist ein merkwürdiges Phänomen, dass Kulturzyklen oft dort enden wo sie begonnen haben. Die französische Kultur, die im Versailles Ludwig XIV. seinen Ausgang genommen hatte, war durch Lully stark vom Tanz geprägt, und es ist bezeichnend, dass diese Kultur dann zu ihrem Ende hin in den Aufführungen des Ballet russe erneut im Tanz kulminierte.

Ravels intellektuell intuitives Genie war sich dessen vollkommen bewusst und so spielt der Tanz in seinem Werk denn auch eine zentrale Rolle. Zwar war die Zusammenarbeit mit Serge Diaghilew und dem Ballet russe eher problematisch – Ravels Musik war am Ende zu selbstbezogen autonom für einen theatralen Kontext – doch haben die entsprechenden Werke dann trotzdem im Konzertsaal Karriere gemacht.

Während die „Pavane pour une infante défunte“ an den symbolistischen Barock- und Antikenkult der 1890er Jahre, dem auch Debussys „Suite bergamasque“ entsprang, anknüpfte, reflektiert „La Valse“ die Jahre vor dem ersten Weltkrieg. Der Walzer war der repräsentative Tanz der bürgerlichen Kultur des 19. Jahrhunderts und seine Tradition von Schubert, Carl Maria von Weber, Chopin, Gounod, Johann Strauss und Peter Tschaikowsky bewegt sich in jenem kulturellen Spannungsfeld, in dem sich auch die kriegerischen Konflikte dieser Epoche bewegt hatten. „La Valse“, dessen erste Skizzen bis 1906 zurückreichen, dessen Komposition aber erst nach dem ersten Weltkrieg vollendet wurde, reflektiert diesen Kulturkontext, wie eben vor dem ersten Weltkrieg die Welt immer mehr in einen Taumel geriet und trunken dem Abgrund des Weltkriegs entgegentanzte.

Ebenso erkannte Ravel nach dem Krieg, dass die neue amerikanische Kultur immer stärker an Relevanz gewann. „L’enfant et les sortilèges“ bezeichnete er selbst als „amerikanische Operette“ (tatsächlich meint man sogar schon Elemente der späteren Walt Disney Filme darin zu erkennen) und in der Violinsonate und den Klavierkonzerten gibt es wiederholt Anklänge von Jazz-Idiomen.

Der berühmt berüchtigte „Boléro“ ist vielleicht nicht zuletzt deswegen Ravels bekanntestes Werk, weil es den modernen amerikanischen Paradigmen, die nach wie vor wirksam sind, am stärksten entspricht. Waren die Barocktänze für Ravel ferne und vage kulturelle Erinnerung, der Walzer unmittelbare Lebenserfahrung, war der Boléro eine gleichermaßen bange wie hellsichtige Zukunftsvision einer brutal mechanisierten und ökonomisierten Welt, die irgendwann unter ihrem eigenen Gewicht kollabieren wird.