Aktuell finden wir bei der Thematik um den Amoklauf in Hamburg eine Zentrierung auf den Täter. Viele Medien stürzen sich auf alle möglichen Details des Amokläufers. Einige zeigen Bilder oder teilen sogar Inhalte seiner Arbeiten. Im Mittelpunkt der Berichterstattung steht so wiedermal eher der Täter. Besonders die Boulevardmedien, wie Bild, wollen mit noch mehr Hintergründen sogar Kasse machen. Selbst die mutmaßliche Waffe des Schützen wird ins Rampenlicht gezogen. Solche Aufmerksamkeiten auf „hochexpressive Gewalttaten“² können ein Problem sein und andere Menschen zur Nachahmung ermutigen.

Solche Taten, wie in Hamburg, werden meistens eine längere Zeit geplant. Im Kopf der Täter läuft der Plan schon Tage, Wochen oder Monate zuvor, doch irgendwann wird aus den Bildern im Kopf eine Tat. In der Berichterstattung über solche Anlässe gibt es verschiedene Verfahrenswege. Ich spreche hier aus meiner beruflichen und persönlichen Sicht. Viele Medien entscheiden sich, weder den Namen noch ein Bild des Täters zu zeigen. Andere wie die BILD wollen mit Bildern zum Konsum einladen. Klar ist, dass der Nachrichtenwert einer solchen Amoklage sehr hoch ist und die Bevölkerung informiert werden möchte. Gerade das Abweichen von der gesellschaftlichen Norm erhöht in der Regel ein solches Interesse. Bei Amoklagen oder Terrorismus brechen die Täter nicht nur diese Normen, sondern schaffen zusätzlich eine unsichere Atmosphäre. Das Sicherheitsgefühl der Gesellschaft wird auf der einen Seite deutlich gestört und auf der anderen Seite gibt es ein teils schon sensationssüchtiges Interesse an der Tat. Opfer werden so leicht zur Nebensache. Der Täter erhält die volle Aufmerksamkeit der Medien. Bilder und Videos ermöglichen es den Tätern auch oft ihre Botschaften zu verbreiten. Es wird über mögliche Motive des Täters spekuliert und faktisch blind im Nebel gestochert. Besonders schlimm wird es, wenn Materialien der Täter öffentlich verbreitet werden. Wenn Bilder, Schriften oder Videos durch Journalisten eine große Verbreitung finden und somit das Gedankengut von Tätern verbreitet wird. Auf Twitter verbreitete ein deutscher Journalist und Waffensachverständiger einen Link, welcher zu einer Publikation des
Täters führte und natürlich auch den gesamten Namen enthielt.

Über 20.000 Menschen haben alleine diesen Tweet gesehen. Je mehr Informationen über Täter verbreitet werden, umso einfacher wird es weitere Inhalte dieser Person zu finden. Name, Bild, Hobbys, Religion, Interessen und so weiter machen die Identifikation simpler.

Belege sind für einige Aspekte sicherlich wichtig, doch muss man alle Informationen ungefiltert preisgeben?
Bringt dies neue Erkenntnisse oder bedient es nur die Sensationsgier?

Zusätzlich kommt bei den Redaktionen der Zeitdruck hinzu, weil möglichst jedes Blatt oder jede TV-Anstalt als Erstes berichten möchte. Grund dafür ist eben auch der Konkurrenzdruck.

Oft kennen wir bei solchen Taten Bekennerschreiben, Videos oder ähnliches. Manchmal finden solche Dinge ungefiltert ihren Weg in Zeitungen oder werden über soziale Medien verbreitet. Nur, selbst wenn solch Material nicht vorliegt, wird nach mehr Material über Täter gesucht. Nachbarn, Familien und Arbeitskollegen werden teils von Journalisten und Pressevertretern belagert, teils ist das Telefon kaum stumm.

Bei dieser Materialsuche vergisst manch Kollege auch den Auftrag der Medien und welchen Einfluss wir haben, besonders die Massenmedien.
Wir sollen möglichst wahrhaftig berichten, aber es gibt eben seine Grenzen. Es darf dabei niemals zu einer Verherrlichung des Täters kommen, was zumindest in Deutschland nur selten passiert. Im Grunde ist eine Abwägung nötig:
Was müssen die Leute unbedingt erfahren und welche Dinge kann man weglassen?

Eine Tat muss natürlich benannt werden, dazu gehört eben auch die Anzahl der Täter und Opfer, auch der Ort und alle wichtigen Informationen müssen enthalten sein, soweit sollte es klar sein. Bei dem jetzigen Amoklauf wird von einigen Medien oder Journalisten aber auch die genaue Waffe genannt, reicht nicht „halbautomatische Pistole“ als Information?

Am Ende ist man immer in einem Spannungsfeld und muss die goldene Mitte finden. Es braucht den Weg zwischen den Extremen. Nicht berichten wäre am Ende genauso falsch, wie über jede Kleinigkeit zu berichten und vor allem geht es um die Opfer, teils um die Tat, aber dem Täter sollte so wenig Platz wie möglich geboten werden. Die Presse darf sich eben nicht zum Komplizen von Tätern machen. Es darf nicht dazu kommen, dass die Täter durch uns sprechen können.
Am Ende müssen wir unseren demokratischen Auftrag erfüllen, berichten und Probleme aufzeigen, aber nicht im symbiotischen Verhältnis.

Abseits der Massenmedien

Neben den großen Massenmedien berichten aber eben auch einzelne Journalisten oder normale Bürger über soziale Plattformen. Material von Tätern befindet sich heute ebenso im Netz und somit ist es eben auch nicht verwunderlich, dass diese Inhalte geteilt werden. Man kann noch so sehr an die Vernunft appellieren, denn irgendwer teilt es dennoch. Was jedoch nicht zu einer Gleichgültigkeit führen darf. Nur weil es jemand anders machen wird, sollte ich mich eben nicht als Verbreiter solcher Materialien ausnutzen lassen.

Vorsicht vor Nachahmern

Aus der Forschung wissen wir, dass die Verbreitung von solchen Inhalten, auch insbesondere durch Medien, zu Folgetaten führen kann.³ Täter beziehen sich oft auch auf vorangegangene Taten und stellen teilweise sogar Bezug zu diesen her. Insbesondere die Darstellung in Medien kann Menschen zu weiteren Taten beeinflussen. Besonders zeigte dies sich bei jungen Menschen, gerade in der Thematik School Shooting, aber auch der Täter von Halle nahm explizit Bezug auf einen anderen Täter.

Wichtig ist, dass die Hintergründe einer Tat nicht monokausal sind. Solche Gewalttaten haben oft eine lange Vorgeschichte, teils auch eine Leidensgeschichte. Ein solcher Akt der Barbarei ist dabei niemals zu rechtfertigen. Oft sind auch nicht die getöteten Menschen das eigentliche Ziel. Im Grunde verstehen wir solche Taten am Ende immer noch nicht, was eben auch die Faszination für einige Teile der Bevölkerung ausmacht.

Nachahmer sind von den Taten oder den Tätern fasziniert. Es sind Vorbilder und so wird über diese eben möglichst viel Material zusammengetragen. Das Netz vergisst dabei nie, was es eben noch einfacher macht. Waffen und Ausrüstungen werden so teils abgekupfert, aber eben nicht immer.

Berichte alleine machen keinen Täter

Es gibt keine bestimmte Form der Berichterstattung, welche alleine auslösender Faktor ist oder gar der einzige Grund für eine Folgetat. Menschen, welche gut eingebunden sind und über ausgebildete Problemlösungsstrukturen verfügen, werden sich auch durch undifferenzierte oder schlecht gestaltete Berichterstattung nicht zu einer Tat verleiten lassen. Probleme und Motivationen in dieser Thematik sind eben multikausal.

Was können wir tun?

Wir Medien können dabei auch eine aktive Änderung der Berichterstattung anstreben. Diese folgenden neun Punkte sind jedoch als allgemeine Empfehlung zu verstehen und nicht unbedingt ein Beitrag zur aktuellen Amoklage in Hamburg.

  1. Keine vereinfachenden Erklärungen für Handlungsmotivationen anbieten:
    Die individuelle Motivlage des Täters sollte nicht zu stark vereinfacht werden, da dies dadurch zu einer Anschlussfähigkeit führen kann. Wird ein Motiv auf beispielsweise Mobbing reduziert, kann dies eine Identifikation mit dem Täter erleichtern und sein Vorgehen kann so anschlussfähig werden. Beim Betrachter kann der Eindruck entstehen, dass die Lebenswirklichkeit ähnlich oder gar gleich sei.
  2. Kein Heldenepos oder Romantisierung:
    Eine emotionale Nacherzählung der Tat oder des Tatverlaufes kann, ebenso wie eine romantische Verklärung, zu weiteren Anknüpfungspunkten mit dem Täter führen. Nach solchen Taten kommt es oft zu einer Fixierung auf eine Heldenfigur, welche gegen den Täter aufgebaut wird, dies kann zu einer Mythenbildung führen. Eine positive Konnotation kann dadurch entstehen.
  3. Folgen der Tat im Fokus haben:
    Besonders die Folgen der Tat sollte man im Fokus haben, besonders die Opfer sollten einen großen Raum in der Berichterstattung haben und auch die Folgen für Überlebende oder Hinterbliebene. Am Ende sinkt somit die Attraktivität des möglichen Vorbildes.
  4. Nicht zu konkret sein:
    Nachahmungstäter imitieren gerne einzelne Aspekte der Tat, dies zeigte sich immer wieder. Gerade die Ausrüstung, wie Kleidung oder Bewaffnung, werden so zu gezielten Aspekten von möglichen Folgetaten. Zum möglichen Idol kann aufgeschlossen werden, es findet eine Verbindung zwischen Täter und Nachahmer statt. Insbesondere die eigenen Fantasien zur Gewalt bekommen so eine konkrete Ausgestaltung, weil eben auch die Bewaffnung übernommen werden kann.
  5. Keine Bilder kreieren, kein Material vom Täter:
    Eine genaue Schilderung der Vorbereitung kann sich ebenso als problematisch erweisen, weil dies speziell bei der Idolisierung des Täters hilfreich ist. Tagebücher, Bücher, Zeichnungen, Videos oder Bilder des Täters sollten nach Möglichkeit nicht verwendet werden. Gefährdete Personen sollten sich nicht weiter mit diesen Menschen identifizieren können. In dem Zusammenhang sollte unbedingt auf das Material des Täters selbst verzichtet werden.
  6. Sensible Infos sind tabu:
    Nach Taten findet immer wieder ein intensiver Austausch statt, gerade im terroristischen Spektrum, aber auch bei School Shootern. So können sich zukünftige Täter eben auch über das Vorgehen der Polizei informieren, eventuell auch über Sicherheitslücken und dies später explizit berücksichtigen. Das Vorgehen des Täters könnte ebenso als Inspiration dienen. Informationen sollten daher nie dazuführen, dass die möglichen Nachahmer mithilfe von Berichten ihr Vorgehen optimieren können.
  7. Lösungswege anbieten:
    Im Idealfall sollte ein Bericht auch mögliche Lösungswege aufzeigen. Insbesondere bei längeren Beiträgen und Dokumentationen über die Tat kann dies hilfreich sein. Darunter primär Hilfsmöglichkeiten und auch positive Einzelbeispiele.
  8. Wortwahl beachten:
    Worte haben eine besondere Macht, gerade uns Journalist*innen ist dies besonders bewusst. Auch bei möglichen Nachahmungstätern können Worte eine spezifische Reaktion hervorrufen und eine tiefere Verbundenheit mit dem Täter erzeugen. Der "einsame Wolf", aber auch "Killer" oder "Monster" haben jeweils eine spezifische Wirkung. Gerade der erste Begriff regt Machtfantasien bei verzweifelten Jugendlichen an. Wiederum die Darstellung als Bestie steigert die Bedeutsamkeit von Einzelltätern.
  9. Der Täter darf nicht bestimmen:
    Besonders wichtig ist, dass die Täter nicht die Inhalte von Journalisten bestimmen dürfen. Medien dürfen sich nicht zu Komplizen machen lassen und nicht das Material eines Täters verwenden, weil genau dies wäre eben in seinem Interesse. Gerade Terrorristen, aber auch Einzeltäter, wissen heutzutage, wie man die Medien für die eigenen Interessen nutzen kann. Wenn die Wiedergabe oder Weitergabe von Inhalten, wie Fotos, Videos, Bildern etc. eben zur Tatabsicht gehört, sollten Medien diese nicht weiter verbreiten. Besonders offensichtlich wird dies bei terroristischen Gruppierungen, welche die Bevölkerung in Angst versetzen wollen oder gar einen Spalt in die Gesellschaft treiben wollen.

Steven Oberstein für (ONS)
Freier Journalist - [email protected] - @Obiaushv / Twitter

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Quellen:
Eigene Recherchen
² http://www.target-projekt.de/index.php?id=75
³ Vgl. Leonard Berkowitz/Jacqueline Macaulay, The Contagion of Criminal Violence, in: Sociometry 34/1971, S. 238–260; Hans-Bernd Brosius/Gabriel Weimann, The Contagiousness of Mass Mediated Terrorism, in: European Journal of Communication 6/1991, S. 63–75; Christopher H. Cantor/Michael A. Hill, Suicide From River Bridges, in: Australia and New Zealand Journal of Psychiatry 3/1999, S. 377–380; Armin Schmidtke et al., Imitation von Amok und Amok-Suizid, in: Manfred Wolfersdorf/Hans Wedler (Hrsg.), Terroristen-Suizide und Amok, Regensburg 2002.
* Der Nachnahme wurde geändert, um den Inhalt schwerer auffindbar zu machen.

Siehe auch Frank J. Robertz/Robert Kahr (Hrsg.), Die mediale Inszenierung von Amok und Terrorismus. Zur medienpsychologischen Wirkung des Journalismus bei exzessiver Gewalt, Wiesbaden 2016.

Empfehlungen:

  • Vgl. Atte Oksanen et al., Glamorizing Rampage Online, in: Technology in Society 39/2014, S. 55–67.
  • Zu 7. Vgl. Alice Ruddigkeit, Eine Frage der Darstellung – Forschungserkenntnisse zur Nachahmung von Suiziden, in: Robertz/Kahr (Anm. 23), S. 137–150; Frank J. Robertz, Gewaltphantasien, Frankfurt/M. 2011.

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