Die Wahlergebnisse der Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg haben bei den Grünen eine Sinnkrise ausgelöst, die zuletzt nicht nur im geschlossenen Rücktritt der Parteiführung von Omrid Nouripour und Ricarda Lang, sondern auch im Rücktritt und Parteiaustritt der gesamten Führungsriege der Grünen Jugend (inklusive Ankündigung der Gründung einer neuen linken Splitterpartei) ihren Ausdruck fand. Die Frage, was der Grund für den Verlust der Wählendengunst ist und die die Partei so umtreibt, weckt in mir starke Erinnerungen an den Niedergang der SPD. Diese hat sich in der Zeit zwischen 2005 und 2017 (grob) auch in ständigen Debatten um die eigene Identität und ihre zukünftige Ausrichtung gedreht. Ich hatte seinerzeit etwas hyperbolisch davon gesprochen, dass Deutschland neben 80 Millionen Fußballbundestrainierenden sicherlich auch 80 Millionen SPD-Parteivorsitzende hat. Bei den Grünen läuft es gerade ähnlich: schnelle Wechsel in der Führungsspitze, ständige Meinungsartikel in der Presse über ihre Ausrichtung und dazu ein offen ausgetragener innerer Konflikt mit Vorwürfen der Apostasie.
Der Anlass für die jüngste Welle von Selbstvorwürfen, Seelensuche und Schuldzuweisungen ist weniger in einer spezifischen Umfrage oder Wahlergebnis zu suchen, sondern in der "Zeitenwende" des Anschlags von Solingen. Sie hat in Teilen der Grünen die Einsicht reifen lassen, dass ein Rechtsruck der Partei den Ausweg aus der elektoralen Krise bedeute - durchaus vergleichbar mit der Stimmung in der SPD zur Agenda-Zeit in der zweiten Hälfte der 2000er Jahre. Und genauso wie bei der SPD seinerzeit stößt diese Einsicht nicht auf ungeteilte Zustimmung und führt zu einem Exodus von Parteilinken.
Der Sinneswandel bei den Grünen lässt sich an einigen Punkten deutlich erkennen. Die erste Richtungsentscheidung dazu ist bereits vor längerer Zeit gefallen, als Robert Habeck zum Kanzlerkandidaten gekürt wurde (das ist zwar erst jetzt offiziell passiert, aber hat sich bereits schon länger abgezeichnet). Habeck personifiziert den Kurs des Pragmatismus, der unideologischen Ausrichtung der Partei auf Kompromisse und Problemlösungen im Kleinen, ein "Was wäre wenn"-Revival von 2021, als er zugunsten Baerbocks auf die Kandidatur verzichtete. Dass er das als großen Fehler betrachtet, dürfte eine nicht allzu weit hergeholte Vermutung sein. Schon qua seines eigenen Werdegangs steht er für die Idee der bürgerlichen Koalition, also das Bündnis mit der CDU. Wenn die CDU-Ministerpräsidenten Wüst und Günther die schwarz-grüne Zusammenarbeit loben, denken sie sicher eher an Robert Habeck denn an Ricarda Lang.
Den Fehdehandschuh eigentlich hingeworfen hat aber Landwirtschaftsminister Cem Özdemir mit seinem Gastbeitrag in der FAZ , der viel rezipiert wurde (siehe etwa im Spiegel). In diesem Beitrag erklärt er es zu einer Konfrontation mit der Wirklichkeit, sowohl die Integrationsleistung zahlreicher Migrant*innen als auch die Schlagseite in Richtung junger, gewaltbereiter Männer anzuerkennen, die geradezu No-Go-Areas schaffen, und fordert eine entsprechend härtere Migrations- und Flüchtlingspolitik. Etwas en passant fordert er zudem eine Reduktion von "Transferleistungen" und Konzentration auf "starke Institutionen" für eine weitreichende Sozialstaatsreform. Tonal ist das Ganze als ein Ringen mit sich selbst angelegt, der Kampf der pragmatischen Vernunft mit der idealistischen Seele. Kein Wunder, dass der Text polarisiert.
Die Strategie dahinter ist recht leicht zu erkennen, auch weil sie die ganze langfristige Planung und Durchdachtheit eines aufgeregten Hühnerhaufens besitzt. Alle Hoffnungen auf Machterwerb liegen in einer schwarz-grünen Koalition. Die Braut macht sich quasi für die Brautschau schick, in der Hoffnung, dass die Union erkennen möge, dass sie in den Grünen viel passendere Bündnispartner findet als in der SPD. Daher auch das schier grenzenlose Verbiegen in der Migrationsfrage, das die Partei gerade zu zerreißen droht. Es ist die Durchfahrt zwischen das politische Äquivalent von Skylla und Charybdis, zwischen der Enttäuschung und Entfremdung der eigenen Parteibasis und dem Verlust jeglicher machtpolitischer Option. Will man die eigenen Anhänger*innen an der Stange halten, indem man an Positionen festhält, die klar nicht mehrheitsfähig sind? Oder will man riskieren, dass der eigenen Partei der linke Flügel abhanden kommt, um hoffentlich die Verluste in der Mitte auszugleichen und dafür koalitionsfähig zu sein? Die Grünen-Parteiführung setzt alles auf die zweite Karte, und gespielt wird diese Karte von Robert Habeck.
Die Voraussetzungen dafür, dass diese Strategieverschärfung gelingen kann, liegen außerhalb des grünen Möglichkeitsraums. Einerseits müssen die Leute vergessen, dass Robert Habeck der Typ mit dem Heizungsgesetz ist und stattdessen wieder ihre Begeisterung für Habeck, den großen Kommunikator und moderaten Pragmatisten entdecken. Diese Prämisse steht bereits auf mehr als schwankendem Grund, aber dazu gleich mehr. Die zweite Voraussetzung ist, dass die mediale Berichterstattung sich ändert. Die Grünen können sagen was sie wollen, noch so viele Personalwechsel vornehmen und FAZ-Gastbeiträge veröffentlichen, wenn sich das Narrativ nicht ändert und weiterhin irgendwelche moralinsauren Fanatiker nur darauf warten, Oma den Altbau wegzuregulieren und Onkel Hans ein Lastenfahrrad aufzuzwingen, wird das wenig helfen. Auch das ist eine optimistische Hoffnung. Die dritte Voraussetzung ist, dass die Unionsparteien aufhören, die Grünen als Hauptgegner zu betrachten und sie als Koalitionspartner zu betrachten. Das ist angesichts der konzertierten Aktion und der Erfolge dieser Strategie (was die Reduzierung der Grünen angeht, weniger die Flurschäden) ebenfalls nicht ganz wahrscheinlich. Und das alles unter der Voraussetzung, dass die Grünen diesen Strategiewechsel tatsächlich so vollziehen.
Kümmern wir uns zuerst um den letzten Faktor. Es ist nämlich relativ unklar, was genau sie tun müssten. Der FAZ-Gastbeitrag und salbungsvolle Reden von bauchschmerzengeplagten Kompromissen sind der leichte Teil. Nur, was genau folgt daraus? Unter diesem Dilemma leidet ja die gesamte Migrationspolitik derzeit. Natürlich signalisiert Özdemir mit seiner Übernahme rechter Narrative (die Gefährdung "unserer Töchter") den Richtungswechsel, aber wie Christoph Kappes in seiner Özdemir-Kritik hervorhebt folgt daraus ja nichts. Man kann schließlich schlecht jungen migrantischen Männern verbieten, Frauen hinterherzuschauen. Auch in der Begrenzung der Flüchtlings- und Asylbewerbendenzahlen ist, wie oft genug diskutiert, wenig Spielraum für entschlossenes bundespolitisches Handeln. Die Grünen laufen in Gefahr, in dieselbe Falle zu gehen wie die CDU und Erwartungen zu wecken, die sie unmöglich erfüllen können - ironischerweise genau das, was man ihnen bezüglich ihrer Ambitionen 2021 in die andere Richtung vorgeworfen hat.
Aber viel schwieriger sind die Voraussetzungen, die sie dafür benötigen.
Robert Habeck ist mit Sicherheit das stärkste Pferd im Stall, aber das liegt auch daran, dass der Stall nicht sonderlich gut bestückt ist. Nach drei Jahren als Außenministerin konnte Annalena Baerbock sich nicht profilieren. Ihre Zeit ist bereit abgelaufen, ihre beste Hoffnung ist eine weitere Amtszeit als Ministerin. Cem Özdemir hat seine Augen klar auf Baden-Württemberg geworfen. It's Habeck or bust. Der Mann kann das grundsätzlich auch, und es wäre zu hoffen, dass er seine Lektion aus dem Heizungsdesaster gelernt hat. Aber angesichts der massiven Kampagne der BILD gegen ihn kämpft er definitiv gegen den (politischen) Wind. Seine Stärken werden durch seine hervorgehobene Stellung als Blitzableiter der Republik, der einerseits die Freiheit zerstört, indem er eine sozialistische Planwirtschaft einführt, andererseits aber so inkompetent ist, dass ihm nichts gelingen mag, mehr als ausgeglichen.
Die Hoffnung, dass die bürgerliche Presse erkennen möge, wie sehr sich die Grünen verbiegen und verleugnen und der CDU annähern, scheint mir mit Blick auf die Erfahrungen der SPD ebenfalls eher trügerisch zu sein. Die entsprechenden Biegungen der Partei wurden auch nicht goutiert; es war nie genug. Dazu kommt, dass die Narrative sich mittlerweile auch festgefressen und ein Eigenleben entwickelt haben. Das heißt nicht, dass hier keine Änderung möglich wäre. Aber die Grünen haben das letztendlich kaum in der Hand, weil politische Berichterstattung generell sehr losgelöst von der Substanz ist, egal, welche Partei es betrifft. Man denke mal nur daran, wie lang die FDP an der "Mövenpick-Steuer" litt. Symptomatisch dafür kann der Welt-Artikel "Das Problem der Grünen mit dem Neustart", der sich auf die Formel "die Partei ist unbeliebt" zusammenbrechen lässt. Wenn aber das Problem der bürgerlichen Presse mit den Grünen ist, dass sie die Grünen nicht mag, ist jede personelle und inhaltliche Neuaufstellung irrelevant.
Bleibt zuletzt die Union selbst. Die hat sich diesbezüglich in eine strategische Einbahnstraße begeben, die sich wenn es dumm läuft auch noch als Sackgasse erweisen könnte (wie es in Brandenburg passiert ist). Es ist grundsätzlich die Hoffnung der Grünen, dass die CDU das erkennt und umsteuert. Nur hat man unter den eigenen Anhänger*innen entsprechende Erwartungen nicht nur nicht geweckt, sondern das genaue Gegenteil davon. Das schon fast pathologische Einschlagen auf die Grünen war letztlich ein Weg für die Union, die internen Widersprüche aus dem Weg zu räumen: man musste sich nicht mit der Problematik auseinandersetzen, dass Teile der eigenen Wählendenschaft erkennbar lieber mit einer autokratischen, putinhörigen Partei koalieren würden als mit einer demokratischen. Die Hoffnung ist erkennbar auf der Koalition mit der SPD, das "hessische Modell". Das nordrhein-westfälische hat für die Bundespartei gerade wenig Attraktivität, und die SPD ist auf den aktuell problematischen Feldern mit einer Ausnahme wandlungsfähiger als die Grünen. Sie war es in den 1990er Jahren bereits einmal.
Es ist daher wenig verwunderlich, dass viele eher progressive Kommentator*innen zu negativen Analysen bezüglich des grünen Strategiewechsels kommen. Der Aufsehen erregendste davon war sicherlich Robert Pausch mit "Die Habeckisierung ist gescheitert". Seine Analyse postuliert effektiv, dass die Grünen all die Schritte dieses Strategiewechsels bereits seit 2018 (als Habeck und Baerbock Vorsitzende wurden) betrieben und sich einer unideologischen Strategie pragmatischer Kompromisse verschrieben hätten. Dies sei offensichtlich weder von der Presse noch den politischen Gegnern goutiert worden. Entsprechend sei der aktuelle Versuch, mehr vom Gleichen zu unternehmen, zum Scheitern verurteilt. Ähnlich sieht das auch Jonas Schaible, der vor allem die die Hilflosigkeit der Partei betont.
Was diese Art der Argumentation stichhaltig macht, ist die Erfahrung der SPD. Dieselbe Dynamik plagte die Partei für über ein Jahrzehnt, und sie erholte sich nie davon. Dass Scholz 2021 mit rund 24% Kanzler werden konnte, wo Steinmeiers 23% im Jahr 2009 das schlechtesvorstellbare Ergebnis aller Zeiten darstellte, lag an der Schwäche der CDU und dem Aufstieg der vormaligen Kleinparteien, nicht an einer wiedergewonnen Stärke der SPD. Was genau wäre die Hoffnung der 10%-Grünen an dieser Stelle? "Mehr vom Gleichen" ist nie ein besonders gutes Rezept, wenn man gerade am Verlieren ist.
Aber.
Ich werde das Gefühl nicht los, dass diese Analysen ein zentrales Problem haben: so eingängig sie sind, sie bieten keine echte Alternative. Glaubt jemand ernsthaft, ein Kurs auf "open borders" (um den verbrannten Begriff hier mal polemisch zu gebrauchen), Fleischverbot und Tempolimit, am besten mit "Liter Benzin für 10€" gepaart, würde die Herzen für 20% bei den nächsten Wahlen gewinnen? Die Migrationsfrage ist gerade in einem gewaltigen Ausmaß salient. Die Grünen können das Thema nicht ignorieren, und ich sehe keine realistische Strategie, die nicht in den aktuellen Verschärfungsdiskurs einstiegt. Schon alleine deswegen, weil man das bisher verleugnet hat, wie ich im Podcast mit Ariane auch schon argumentiert habe. Hätte man eine vernünftige Alternative in der Schublade, könnte man die rausholen. Aber man steht blank. Das ist ein typisches Problem in der Politik. Alle Parteien außer den Grünen hatten das 2019 im Angesicht der FFF-Proteste, um nur ein Beispiel zu nennen. Aber deswegen müssen sie gerade dem Zeitgeist hechelnd hinterherrennen, nicht in der Hoffnung, Stimmen zu gewinnen, sondern die Verluste zu begrenzen.
Das ist ein schmaler Grat. Aber ich habe echt wenig Geduld mit Leuten, die erklären, dass Deutschland "Platz für jeden hat, der kommen mag", wegen Fachkräftemangel. Wir brauchen halt eben nicht jeden und jede. Und da wird halt auch wie so oft in der Debatte wieder mal Migration mit Flucht mit Asyl alles in einen Topf geworfen und umgerührt. Wo von rechts gegen alles Stimmung gemacht wird, was von außen kommt und auf die Art jede sinnvolle Migrationspolitik untergraben wird, reißen solche Linke dieselben Grenzen von der anderen Seite in ihrem "open borders"-Enthusiasmus (und anders kann man das ja kaum nennen) ein. Das ist halt auch Quatsch.
Dasselbe gilt für die schon beinahe reflexhafte Kritik an Özdemirs sozialpolitischen Positionen. Ich habe ohnehin nie verstanden, wie die Grünen auf die Idee kamen, die Partei des Sozialstaats werden zu wollen (einer der vielen Fehler in der Ampelregierung). Aber Özdemir packt das in einen Nebensatz. Das hat zwei Dimensionen: einerseits ist es ein Öffnungsangebot an die CDU. Anders als mit der SPD sind mit den Grünen Sozialstaatsreformen zu machen. (Ob das klappt, sei mal dahingestellt, aber es passt wenigstens in die Gesamtstrategie.) Auf der anderen Seite ignoriert die Kritik, was Özdemir im nächsten Satz auch sagt: "Mehr gezielte Leistungsanreize und starke öffentliche Institutionen." Die "Leistungsanreize" sind wie die "Transferleistungen" die übliche Rhetorik der bürgerlichen Parteien, aber "starke öffentliche Institutionen" öffnet den Pfad für eine eher progressive Sozialstaatsreform. Denn das Ausschütten von Transferleistungen mit der Gießkanne ist ja tatsächlich nicht eben der Weisheit letzter Schluss, und von einem funktionsfähigen, starken Staat profitieren Ärmere deutlich überproportional gegenüber Wohlhabenderen. Die alte Weisheit, dass man sich einen armen Staat leisten können muss, findet in Özdemirs Formel auch Platz.
So zeigt sich grundsätzlich ein mit starkem bürgerlichen Anstrich versehenes, grundsätzlich linksliberales Profil. Dass das nicht allen gefällt, ist klar. Ob es dafür einen Markt gibt, ist unklar. Die Hoffnungen der Grünen ruhen auf drei Ländern: Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein einerseits, die bereits schwarz-grüne Regierungen haben, in denen ordentliche Bilanzen sichtbar sind, die für beide Partner etwas haben und die von fairem Umgang geprägt sind. Und natürlich Baden-Württemberg, dem Testfall par excellence für die Grünen. Dreimal stellten sie mit Winfried Kretschmann den Ministerpräsidenten, indem sie sich bürgerlicher gerierten als die CDU. Özdemir scheint klare Ambitionen zu haben, Kretschmann zu beerben, der 2026 nicht noch einmal kandidieren wird. Und ich kenne einen Minister, der Ende 2025 einen Job verlieren wird. Mehr Ländle wagen? Das scheint die aktuelle Strategie der Grünen zu sein. Ob sie aufgehen wird, kann nur die Zeit zeigen.
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