Mein Doppelleben

Tagsüber freischaffender Philosoph, Therapeut und Welterklärer auf Spendenbasis. Ab dem späten Nachmittag verdiene ich mir meinen Lebensunterhalt mit der Zurschaustellung meiner prekären finanziellen Lage, indem ich, in einem traditionellen Outfit, in Fachkreisen auch Bettelhose und Schnorrerhemd genannt, gewandet, den vorbeigehenden Passanten ein richtig schlechtes Gewissen bereite. Trotz dieser extremen Doppelbelastung liebe ich mein Leben, denn ich bin ungebunden und habe alle Freiheiten dieser Welt. Ich lebe ohne die Zwänge und Verpflichtungen, die eine eigene Wohnung mit sich bringt. Wer einmal eine Nacht unter dem Sternendach verbracht hat, der wird mich beneiden. Ich brauche keine vier Wände, die mich nur zwingen würden, Bilder an ihnen aufzuhängen. Bilder, die ich mir leisten kann, gefallen mir nicht und die, die mir gefallen, hängen bereits schon im Louvre oder in anderen gut gesicherten Museen dieser Welt.
Ich habe mich dann direkt an die Quelle gewandt. Doch weder Herr Rubens, noch Herr Rembrandt haben mir geantwortet bisher. Ich bat um ein Bild, gerne auch um Eines, bei dem sie sich vermalt haben. Gerade hat doch so viele Bilder gemalt, wo ihm die Frauen zu dick geraten sind. Sowas lässt sich doch nicht verkaufen, in Zeiten, wo der Magerwahn grassiert. Und wer interessiert sich schon für ständig sich wiederholenden Selbstporträts Rembrandts, diesem eitlen Fatzke. Da sie sich bis zum heutigen Tag nicht bei mir gemeldet haben, sind die für mich aber sowas von gestorben.

Privat, so viel sei aus dem Nähkästchen geplaudert, lebe ich eine offene Beziehung. Das heißt, ich bin offen für eine Beziehung. Ich gehöre jedoch nicht zu den Menschen, die krampfhaft suchen. Ich lasse mich finden. Doch wie ich die Sache so sehe, sucht niemand nach mir. Dies ist sicher auch ein Grund, warum ich so glücklich bin. Wenn ich morgens aufwache, ist mein Bad immer frei und ich stürze mich in den Fluss, der mitten durch meine Freilichtwohnung fließt. Mein Bad ist immer aufgefüllt und ich muss es nicht erst einlassen. Das ist Luxus pur. Auch lästiges Fensterputzen entfällt. Welche Hausfrau träumt nicht von sowas. Staubsaugen oder Kehren? Erledigt für mich der Wind. Und einmal die Woche die städtische Kehrmaschine. Langeweile, Isolation oder Einsamkeit gibt es bei mir nicht, denn jeden zweiten Samstag ist Flohmarkt. Höhepunkt des Jahres ist zweifelsohne die Herbstkirmes. Da liegt dann auch schon einmal der ein oder andere feierwütige neben mir, wenn ich die Augen aufmache. Was habe ich da nicht schon für interessante Gespräche geführt! Die Jahrmarktbetreiber mögen mich alle. Solange sie vor Ort sind, da lebe ich wie im Schlaraffenland. Sie finden mich alle so niedlich und skurril und bringen mir sogar frühstück und das direkt ans Bett. Currywurst und Fassbier! Was kann es Schöneres geben, als den Tag gut gestärkt zu beginnen. Abends höre ich die neueste Musik, die vom Autoskooter kommt und die vielen bunten blinkenden lichter illuminieren mein Schlafzimmer. Ich lebe wirklich privilegiert. Und dann noch ein Loblied auf die Erfindung des Glaspfands. Von dem, was ich dann täglich in meiner Wohnung finde, finanziere ich mir meine Winterresidenz im Süden. Denn in den Wintermonaten ist es doch etwas zugig bei mir. Da verbringe ich die Zeit in Venedig, wo ich eine Zweitbrücke mein Eigen nenne.
Meinen Aufenthalt dort verdiene ich mir, als staatlich eingesetzter Taubenerschrecker auf dem Markusplatz. Den habe ich, nach einem harten Ausscheidungswettbewerb, wobei ich der einzige Deutsche war, gewann ich haushoch. Wobei ich bei dem Grimassencontest einen Trick angewendet habe, der mir den Sieg einbrachte. Ich war nur mit einem geschmackssicheren Stringtanga angetreten und habe nicht nur die Tauben, sondern auch die Jury nachhaltig erschreckt. Wobei ich nachweislich nicht an dem plötzlichen Herztod von Signorina Rosaria Pacelli Schuld war, wie die mit ihren neunundsiebzig Jahren, schon zuvor gesundheitlich angeschlagen war. Ich hielt daraufhin, mit verweis darauf, dies nicht als Schuldeingeständnis zu werten, die Trauerrede, die mich emotional sehr mitnahm. Ihrem Wunsch gemäß, wurde sie im Canale Grande, unweit der Rialtobrücke, versenkt, da sie sich gegen eine Einäscherung zeitlebens, ausgesprochen hatte. Nur durch eine Sonderverfügung der Stadt Venedig und Einzementierung ihrer Füße, konnte dies ermöglicht werden.
Den Rest des Jahres verbringe ich in meiner Heimatstadt, wo ich ein veritables Doppelleben führe, von dem andere nur träumen können. Doch auch dort führe ich kein Lotterleben, wie einige mir bösartig unterstellen. Ich bin im Dienst der Menschheit unterwegs und versuche, unermüdlich für eine bessere Welt mich einzusetzen.
Morgens sitze ich, sobald dieses geöffnet ist, vor einem Café, an einem kleinen runden Tisch mit zwei Stühlen. Der zweite Stuhl ist reserviert für Patienten, Menschen in Nöten oder zufällig vorbeikommende Touristen, denen meine Meinung wichtig ist. Ein kleines, diskretes Schild, weist meine Öffnungszeiten sowie Leistungsspektrum und Kostenpauschale an. Noch ist mein Geschäftsmodell noch in der Anlaufphase. Noch werde ich misstrauisch beäugt. Doch als ich, um das Geschäft anzukurbeln, eine Preisaktion startete und den Stundensatz von einhundert Euro auf einen Kaffee reduzierte, florierte es plötzlich. Gleich am ersten Tag bildete sich eine Schlange von traurigen Gestalten mit Gesprächsbedarf, die zuvor niedergeschlagen an mir vorbeigingen, ohne mir Beachtung zu schenken. Nun war mein Ohr gefragt wie nie! Die intimsten Geständnisse bekam ich zu hören, weil ich Verschwiegenheit zusicherte und die Menschenschlange bat, uns nicht zuzuhören. Am Abend der Preissenkung hatte ich neun Kaffees und eine Sachertorte verdient. Kein schlechtes Ergebnis. Einige wenige dieser Gespräche möchte ich nun schildern, die mich nachhaltig erschüttert haben.
Gleich am ersten Tag wurde ich auf die Probe gestellt. Ich saß bereits seit zwei Stunden vor meinem Café und wartete auf Mandantschaft. Mein „Geöffnet“ Schild war gutsichtbar auf den Tisch gestellt und ich musste bereits zweimal die fleißige Bedienung unverrichteter Dinge wieder wegschicken. Denn warum sollte ich einen Kaffee auf eigene Rechnung bestellen, wenn augenblicklich jemand kommen wird, der mich in Kaffee bezahlt. Doch noch hielt der Ansturm zukünftiger Patienten sich noch vornehm zurück und ich sah hasserfüllt auf die anderen Tische, wo irgendwelche dahergelaufenen Gäste genüsslich ihren Kaffee tranken.
„Arbeitsscheues Gesindel!“, dachte ich so bei mir. „Vom Staat leben, aber sich den teuren Kaffee im Café leisten. Während andere Leute sich ihren Kaffee hart verdienen müssen.“
Ich war schon kurz davor eine geheimdienstliche Zivilstreife der Arbeitsagentur herzubeordern, um diesen Verschwendern von Staatsgeldern das Handwerk zu legen, als unter Ächzen und Stöhnen jemand neben mir Platz nahm.
Auf meinem Klientenstuhl hatte eine robuste Frau, mit hochrotem Kopf und einer albernen blauen Strähne in ihrem schütteren Blondverschnittenen Haaren. Ich betrachtete, nein, analysierte sie sofort. Selten hatte ich jemanden gesehen, der sich so der gängigen Mode verweigerte. Scheinbar hatte sie selbst heute Morgen geschminkt und vermutlich war die Lampe im Bad, wenn sie denn eins hatte, durchgebrannt. Ähnlich dürfte es auch ihr Ehemann gemacht haben, wenn sie überhaupt jemals einen hatte. Immer wieder erstaunlich, wer sich alles so auf die Straße traut! Aber man kann sich eben seine Kundschaft nicht aussuchen. Schließlich bin ja auserkoren, Menschen in höchster Not zu helfen, selbst wenn deren Lebensberechtigung fraglich ist. Ich bin professionell genug über solche Äußerlichkeiten grinsend hinwegzusehen.
Um sie herum standen mehrere Einkaufstaschen, randgefüllt mit cholesterin- und fetthaltiger Schonkost. Jedenfalls soweit ich das sehen konnte.
Nachher, wenn wir in die Therapie tief eingestiegen sind, werde ich mich bis auf den Grund der Taschen vorwühlen, denn das gehört zu meinem psychologischen Profil, welches zu stellen, meine schwerste Aufgabe sein wird.
Trotz aller innerer Abneigung und Widerstände, beweise ich professionelle Größe und begrüße sie entsprechend, um gleich die Modalitäten klar zu machen.
„Macht dann einen Kaffee!“, erklärte ich, um die leidige Kostenfrage gleich hinter mir zu haben.
„Was?“, fragte die Frau, die zu all den vielen Problemen, die sie unzweifelhaft hatte, auch noch schwerhörig war.
„Ich bekomme einen Kaffee!“, schrie ich ihr ins Ohr.
„Ja doch, schon gut! Der Herr möchte einen Kaffee!“, rief sie nun der Bedienung zu.
„So das hätten wir dann. Was möchten sie denn nun?“, erkundigte ich mich, als ob ich das nicht längst gewusst hätte.
„Ach, nur einen Moment ausruhen. Die Taschen sind sehr schwer.
Ich sah sie lange an und nickte verständnisvoll. So schafft man Vertrauen. Ich dachte über das nach, was sie mir gerade gesagt hatte. Für Außenstehende war es nur eine Banalität, ein kläglicher Versuch von Smalltalk. Ein hilfloses Geplapper.
Aber für uns professionelle Therapeuten steckt viel mehr dahinter. Man muss nur das Dahingesagte für sich übersetzen. Letztlich ist es nur ein einziger Hilfeschrei gewesen. In erschreckender Offenheit hatte sie etwas ausgesprochen, ohne zu wissen, was sie da gesagt hat. Analytisch gesehen saß vor mir ein gebrochener unglücklicher Mensch, mit einer tiefsitzenden Sehnsucht, hin zum Terrorismus. Alleine ihr: „Ich will nur ausruhen!“, ist ein offensichtlicher Suizidgedanke und das dann noch in Verbindung mit dem vermeintlich achtlos hingeworfenen Zusatz: „Die Taschen sind so schwer.“, da schrillen bei jedem Psychologen die Alarmglocken. Gerade dieser beiläufig anmutende Satz, zeigt in seiner Klarheit, wie schwer die Frau an ihrem Dasein zu tragen hat. Leben kann man es ja nun wirklich nicht nennen, dieses Dahinvegetieren! Zum Glück sind solche Menschen mit einem technischen Unvermögen ausgestattet, als eine Art Sicherung der Natur, die es ihnen unmöglich macht, eine funktionierende Atombombe zu bauen.
Und doch hat dieses arme Wesen unglaubliches Glück, ja es ist gerade eine Fügung des Schicksals, dass sie mich zu ihrem Therapeuten auserkoren hat. Jetzt liegt es einzig an mir, ob eine Terrorwelle uns heimsuchen wird oder ob es mir gelingt, ihre Psychosen nachhaltig therapieren zu können. Natürlich habe ich sofort erkannt, diese Frau ist ein Sprengsatz, der jederzeit explodieren könnte. Entsprechend behutsam und mit Fingerspitzengefühl muss ich mich langsam herantasten.
Die Fragen, die zu stellen meine Aufgabe sind, müssen sensibel und einfach in ihrer Struktur sein. Vorsichtig nähere ich mich der ersten Frage an, die entscheidend für eine erfolgreiche Austherapierung ist.
„Sex?“, frage ich, um ihr zu signalisieren, dass ich Interesse an ihrer Genesung habe.
Gespannt warte ich ihre Reaktion ab, die über den Verlauf ihres Krankheitsbildes entscheiden wird. Und sie reagiert nicht einfach so, nein sie reagiert heftig. Ihr Körper, hier ist besonders die rechte Hand zu nennen, reagiert mit einem heftigen Ausschlag. Und sie schlägt nicht wahllos um sich, nein, sie schlägt ihren Therapeuten. Dies beweist, sie hat mich als gleichwertigen Partner akzeptiert. Sofort beginnt meine Therapie anzuschlagen, denn sie lässt Worte heraus, die lange in ihr verborgen waren und die nun endlich bahnbrechend ausgesprochen werden.
„Ja, ja lass es raus!“, bestätige ich sie, die nun dabei ist aufzuarbeiten, was jahrelang in ihr brodelte.
Und eine zweite Ohrfeige, Ausdruck ihres drängenden Freiheitsgefühls, trifft mich. Glücklich nehme ich sie entgegen, denn wenn es eines Beweises meiner therapeutischen Fähigkeiten bedurfte, so ist diese Ohrfeige, wie die Verleihung eines Diploms, welches mich als Spitzenpsychiater ausweist. Tränen des Glücks rinnen mir über die schmerzende Wange. Dann steht meine Patientin auf und entscheidet sich, zu gehen. Eine kranke Frau, die jahrelang ihre Uneigenständigkeit wie eine Fahne vor sich hergetragen hat, zeigt nun eine erste Entscheidungsfreudigkeit. Sie geht und ich schaue ihr zufrieden nach. Ich habe ihr Selbstbewusstsein gestärkt und das noch bevor die Therapiestunde vorbei ist. Und ich habe noch mehr bei ihr erreicht. Denn als ich gehen wollte, hielt mich die Bedienung auf und forderte mich auf meinen Kaffee zu zahlen. In vollem Bewusstsein hatte meine Patientin entschieden, nicht zu zahlen. Es war eine ganz schwere Entscheidung, die ihr da abverlangt war und die sie mit einer unglaublichen Klarheit entschieden hat. Ein Sieg für mich auf ganzer Linie!

Wie sie sehen, ich bin kein dahergelaufener Scharlatan, sondern ich kann mit profundem Wissen aufwarten. Dazu braucht es eben kein langwieriges und für den Steuerzahler teures Studium, was völlig überbewertet ist. Eine Portion gesunde Menschenkenntnis und den sehnlichen Wunsch anderen Menschen helfen zu wollen, reicht, wie sie gesehen haben, völlig aus.
Nach diesem großartigen Erfolg habe ich mich nun sogar noch für eine Zusatzausbildung entschieden, um ganzheitlich therapieren zu können.
Das Seminarangebot: „Heilende und auflegende Hände“, bietet gerade die Fernuniversität der Stadt Handewitt an.

Inzwischen habe ich mir einen Ruf erarbeitet und bin ich schon eine stadtbekannte Institution in dem kleinen Café! Kommen sie doch einfach auf einen Kaffee vorbei und schütten sie mir vertrauensvoll ihr Herz aus.
Handsegnungen sind im Preis inbegriffen!

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