Mütter sind was Wunderbares. Sie haben uns unter
Schmerzen geboren, was sie immer wieder gerne
erwähnen, wenn wir nicht so funktionieren, wie sie es gerne
hätten. Mütter bemerken auch nicht, dass aus ihrem Kind
irgendwann ein erwachsener Mann geworden ist. Für sie ist
und bleibt man Kind. Ihnen Unarten abzugewöhnen ist ein
langer, schmerzvoller Prozess. Ich erwähne hier nur das
berühmte Taschentuch mit Spucke. „Junge, du hast da
was!“ So schnell kann man gar nicht laufen, wie man es
schon auf seiner Wange hat. Und dann ist man auch noch
gezwungen „Danke, Mama!“ zu sagen. Aber mit sechsund-
dreißig Jahren, in einem öffentlichen Café sitzend, ist das
schon etwas peinlich. Aber Widerworte hört sie ungern.
Dann holt sie wieder ihre Trumpfkarte raus. „Junge, ich hab
dich unter Schmerzen geboren! Ich lag achtundvierzig
Stunden in den Wehen!“ Ich sag dann immer: „Ja Mama, ich
war dabei! Und sag nicht immer Junge zu mir. Ich bin ein
erwachsener Mann!“ „Ja, Junge!“ Mütter sind was Wunder-
bares. Als ich ihr mit einunddreißig Jahren, nachdem ich
nächtelang nicht geschlafen hatte, mitteilte, ich würde
ausziehen, war das Drama perfekt. Es folgte ein
tränenreicher Katalog mit den Vorzügen der jetzigen
Wohnsituation. „Junge, du hast doch hier alles, was du
brauchst. Ich wasche dir doch alles. Du hast doch dein
schönes Zimmer. Wir können es ja neu tapezieren, wenn dir
die Blümchentapete nicht mehr gefällt. Und wer soll denn
für dich Kochen? Und vergiss nicht unsere abendlichen
Fernsehstunden. Du willst doch deine alte Mutter nicht
alleine lassen.“ Meine Mutter war zu dem Zeitpunkt
zweiundfünfzig. Weit entfernt von einer alten, gebrech-
lichen Frau. „Du darfst doch auch immer jemanden
mitbringen. Ich möchte doch mal Enkelkinder!“ Sie machte
immer den nächsten Schritt vor dem ersten. Ich hatte nicht
mal eine Freundin. „Such dir doch ein nettes Mädchen und
dann bauen wir den Keller aus, dann kann ich mich auch um
die Enkel kümmern, wenn ihr mal weg wollt.“ Sie begriff es
nicht, ich wollte weg. Eine solche Auseinandersetzung kann
sich über Tage hinziehen, manchmal über Wochen. Mütter
können da sehr hartnäckig sein. „Junge, ich will doch nur
dein Bestes!“ Mütter wissen ja immer, was das Beste für ihr
Kind ist, denken sie. Als Sohn kannst du Argumentieren, wie
du willst, wenn Mutter es nicht verstehen will, dann
versteht sie es nicht. Und dann packt sie immer noch ein As
aus dem Ärmel. Meine hat ein komplettes Rommé-
Kartenspiel in ihrem Ärmel. Alle Karten Asse! „Dann geh
halt, so wie dein Vater!“ Ja, der hat rechtzeitig den
Absprung geschafft. Zwei Tage nach meiner Geburt war er
weg. „Wo willst du denn überhaupt hin? Bei Kuperkes wird
eine kleine Wohnung frei! Ich frag die mal. Ich bin ja mit der
Kuperkes im Turnverein.“ Kuperkes wohnten nebenan. Ich
konnte Mutter gerade noch davon abhalten, an das Telefon
zu sprinten und für mich die Wohnung klarzumachen.
Bislang hatte ich ihr noch nicht gesagt, wohin ich denn
ziehen wollte. Es zog mich nach Berlin. Und Berlin war etwa
fünfhundertsechzig Kilometer weit weg. So eine Mitteilung
muss man als fürsorglicher Sohn seiner Mutter behutsam
beibringen. Hier ist Fingerspitzengefühl und höchste Diplo-
matie angesagt. „Ich geh nach Berlin!“, sagte ich und hielt
den Atem an. Ich war auf das Schlimmste gefasst. Das
Smartphone mit der Notfallnummer zur Hand. Stille! Der
große Heulausbruch stand bevor. Ich wartete auf die
Reaktion. Und dann sagte sie etwas, mit dem ich am
wenigsten gerechnet hatte: „Es ist ja dein Leben. Du musst
wissen, was du tust!“ sprachs und ging in die Küche, um
unsere allabendlichen Schnittchen zu machen. Den ganzen
Abend sagte sie kein Wort mehr dazu. Sie schien es
verstanden und eingesehen zu haben. War doch leichter als
ich dachte. Der ganze Fernsehabend verlief dann auch ganz
friedlich. Mütter sind halt doch was Wunderbares. „Hans-
Günter, möchtest du noch ein Bier oder soll ich noch ein
paar Schnittchen machen?“, fragte sie und lächelte mir zu.
Auch am nächsten Morgen sagte sie nichts mehr zu dem
Thema. Sollte sie es tatsächlich akzeptiert haben, jeglichen
Widerstand aufgegeben und endlich bereit sein, ihren Sohn
ziehen zu lassen? Jeder, der jemals eine Mutter hatte, weiß,
Mütter geben niemals auf. Damals war ich so naiv zu
glauben, der Fall wäre erledigt. Doch der Tag sollte
kommen, wo die Wölfin um ihr Junges kämpft. Und dieser Tag kam schneller, als mir lieb war. Nämlich
noch am gleichen Abend. Als ich von der Arbeit kam,
begrüßte mich meine Mutter ganz aufgekratzt und meinte,
ich soll mir die Hände waschen, denn das Essen wäre fertig.
Aus der Küche roch es verführerisch. „Ich habe dir
Schweinelendchen mit Bratkartoffeln gemacht und hinter-
her gibt es Vanilleeis mit heißen Kirschen.“ Mir schwante
Böses. Und ich sollte nicht enttäuscht werden. Sie zog die
Mutter-kocht-am-besten-Karte! „Raffiniert“, dachte ich. Ihr
Kampfeswille schien immer noch ungebrochen. Und das
Schweinelendchen sollte nur der Köder sein. Ihr Plan war
noch ausgeklügelter. „Geh schon mal ins Wohnzimmer, ich
bringe gleich das Essen“, sagte sie mit einem Lächeln auf
den Lippen. Spätestens jetzt schrillten alle Alarmglocken.
Essen im Wohnzimmer gab es eigentlich nur zu hohen
Festtagen. Aber heute war weder Weihnachten noch
Ostern. Eine merkwürdige Unruhe überkam mich. Was
hatte sie ausgeheckt? Ich ging vorsichtig ins Wohnzimmer,
als ginge ich zum Schafott. Welche Überraschung sollte
mich dort erwarten? Und da saß die Überraschung, in Form
von Helga Leineweber. Ich stand in der Tür, mit
eingefrorenem Lächeln. Mutter, die mir mit der
Schweinelende nachgekommen war, meinte nur ganz
unverfänglich: „Ich habe Helga ganz zufällig beim Metzger
getroffen und sie ganz spontan eingeladen zum Essen.“
Helga zufällig beim Metzger getroffen. Das ich nicht lache.
Helga arbeitete beim Metzger! „Jetzt steh nicht rum, Junge,
setz dich zu Helga, euer Essen wird sonst kalt!“ Ich gab Helga
nur kurz die Hand und setzte mich. Erst da bemerkte ich,
dass auf dem Tisch nur zwei Gedecke lagen. Ich ahnte was.
Zwei Kerzen und ein kleines Blumengesteck auf dem Tisch
gaben mir Gewissheit. Mutter wollte mich verkuppeln. Ein
Date, arrangiert von der eigenen Mutter. „Isst du nicht
mit?“, fragte ich Mutter. „Ich mache heute Diät, außerdem
bin ich zum Nordic-walken verabredet. Lasst es euch
schmecken. Der Nachtisch steht im Kühlschrank.“ Und mit
diesen letzten Worten entschwand sie. Jeder Richter würde
mich jetzt für Muttermord freisprechen. Helga war zwar
ganz nett, aber intellektuell eher Mittelmaß. Früher waren
wir in derselben Jugendgruppe. Als Frau hat sie mich nie
gereizt, obwohl ich merkte, dass sie sich für mich
interessierte. Ich hatte sie lange nicht mehr gesehen,
bemerkte jedoch, dass sie etwas aus der Form geraten war,
um es Charmant zu formulieren. Sie saß da und lächelte mich an. Ich bemühte mich
zurückzulächeln, obwohl ich innerlich kochte. „Riecht
lecker!“, sagte sie in die Stille hinein. „Was?“, fragte ich
geistesabwesend. „Die Schweinelende. Sie ist ganz frisch.
Heute Morgen hat das Schwein noch gelebt. Nett von deiner
Mutter, mich einzuladen. Wir haben uns ja lange nicht mehr
gesehen. Wie gehts dir denn? Was machst du denn so?“,
prasselte es auf mich ein. „Ja, nett von ihr!“, log ich. Mein
Mordwunsch manifestierte sich. Ich nahm die Flasche Wein,
die auf dem Tisch stand und goss uns ein. Ich nahm mein
Glas und meinte nur: „Prost“, trank es in einem Zug aus und
goss gleich wieder nach. Sie sah mich an, nippte leicht an
ihrem Glas, lächelte mich an und sagte: „Du hast aber
Durst!“ Ich nickte nur und nahm noch mal einen großen
Schluck. „Ich vertrag ja nicht so viel. Ich hab ganz schnell
einen Schwips!“, meinte sie und lachte albern. Jetzt
erinnerte ich mich wieder, dass genau dieses Lachen mich
immer gestört hatte. Aber jetzt störte es mich nicht. Es
nervte! „Komm, iss!“, sagte ich und hätte am liebsten ein
„Schnell“ hinzugefügt. „Ist echt Lecker. Mmmmh und die
Pilze dazu. Die Soße ist sicher mit Wein gemacht. Deine
Mutter kann super Kochen. Nächstes Mal kannst du ja zu
mir kommen. Ich koche auch ganz gut und krieg bei uns
Prozente, in der Metzgerei. Was magst du denn gerne?“ Am
liebsten hätte ich gesagt, dass sie einfach die Klappe halten
solle. „Fisch“, antwortete ich, da ich wusste, dass Fisch nicht
in ihrem Sortiment war. Ich hoffte, so der Gegeneinladung
zu entgehen. „Fisch mag ich auch!“, gab sie erfreut zurück.
„Was magst du denn am Fisch?“, fragte sie interessiert
weiter. „Das sie stumm sind“, gab ich kurz als Antwort. Sie
jauchzte auf. „Ach bist du Witzig! Ich mag ja Männer mit
Humor.“ Am liebsten hätte ich ihr die Schweinelende um die
Ohren gehauen. Ich beschleunigte mein Essenstempo.
Kaum war ich fertig, stand ich auf und meinte nur schnell:
„Ich hol schon mal den Nachtisch. Sie schaufelte in
Seelenruhe weiter, packte sich noch etwas Lende auf den
Teller und nickte nur. In der Küche konnte ich erst einmal
aufatmen. Die Wut auf Mutter wuchs. Ich liebäugelte, als
Dank für ihren Kuppelversuch, mit einem Pflegeheim in
Bulgarien oder Nowosibirsk. Ich machte die Kirschen heiß
und goss noch einen großen Schluck Rum hinein. Mutter
hatte bereits zwei große Dessertschalen rausgestellt. Ich
tauschte sie gegen zwei sehr kleine Schälchen aus. Mit
einem kleinen Teelöffel kratzte ich etwas Eis aus der großen
Dose, die immer im Gefrierfach ist. Dann zwei Kirschen und
etwas Soße drauf. Mit dieser Miniportion ging ich zurück ins
Wohnzimmer, wo das Grauen schon auf mich wartete.
Helga hatte inzwischen auf dem Sofa Platz genommen.
„Stört es dich, wenn ich mir den Hosenknopf aufmache? Ich
glaube, ich habe zu viel gegessen. Jetzt spannt die Hose
etwas!“ Sie lachte und eh ich „Tu es nicht!“ sagen konnte,
tat sie es. Ich sah auf den Tisch hinüber. Von der
Schweinelende war weit und breit nichts mehr zu sehen. Sie
hatte sie tatsächlich ganz vernichtet. Ich gab ihr den
Eisbecher in die Hand und setzte mich aus Sicherheits-
gründen an den Tisch. „Komm doch rüber und setz dich zu
mir!“, meinte Helga und schlug mit der Hand auf das Sofa
und leichter Staub umhüllte sie. Leider nicht genug Staub,
um sie vollkommen zu verhüllen. „Lecker, die Kirschen!“,
entfuhr es ihr und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.
Ich ignorierte diesen billigen Versuch, Erotik ins Spiel zu
bringen. Während ich den Eisbecher aufaß, überlegte ich
fieberhaft, wie ich Helga wieder loswerden könnte, ohne
besonders unhöflich zu sein. Sie muss doch merken, dass ich
kein Interesse habe. Das signalisier ich doch. Aber Helga
schien gar nichts zu merken, nicht mal wie Blöd sie war.
Kaum hatte sie die Miniportion aufgegessen, stöhnte sie
auf. „Jetzt bin ich aber Pappsatt! Wie wärs mit einem
Verdauungsschnäpslein?“, zwinkerte sie mir zu. „Ich dachte,
du verträgst nicht viel! Ich will dich ja nicht Betrunken
machen“, erwiderte ich wahrheitsgemäß. „Ach“, zwinkerte
sie mir nochmal zu, „wenn dich ein kleiner Schwips nicht
stört ...!“ „Es stört mich kolossal“, dachte ich. Eine
besoffene Helga, mit offener Hose, auf meinem Sofa
sitzend, mich angrinsend und dauernd zuzwinkernd!
Wieviel Elend kann ein Mensch ertragen? Um Elf Uhr erklär
ich ihr einfach, dass ich langsam ins Bett müsse. Morgen sei
ein anstrengender Tag. Kann ja nicht mehr lange hin sein.
Verstohlen sah ich zur Uhr. Zwanzig Uhr dreißig zeigte sie
an. „Was ist denn jetzt mit dem Schnäpschen?“, fragte
Helga. Ich stand auf, ging zum Schrank, nahm zwei Gläser
und eine Flasche Obstler und schenkte uns ein. „Nitt lang
Schnacken, Kopp in den Nacken!“, befahl sie und leerte ihr
Glas. Dann streckte sie es mir gleich wieder entgegen. „Auf
einem Bein kann man nicht stehen!“, zwinkerte sie mir zu.
Sie rückte etwas an mich heran und ich spürte ihr Bein an
meinem. „Bleibt mir denn Garnichts erspart?“, dachte ich.
„Wenn sie jetzt noch ihre Hand in Richtung Knie wandern
lässt, dann ...!“ Ich hatte diesen Gedanken noch nicht zu
Ende gesponnen, da näherte sie sich auch schon. „Ich mag
dich!“, kam es plötzlich unvermittelt. „Ja, ich mag mich
auch!“, sagte ich wahrheitsgemäß. Ich dachte nur, wenn
jetzt nicht ein Wunder geschieht, dann wird diese
Fleischereifachverkäuferin mich erlegen. Wie wehrt man
sich nur gegen eine angetrunkene, aufgegeilte Frau? Wo ist
Mutter, wenn man sie mal braucht? Ich war noch nie in so
einer Situation. Alles in mir rief: „Hilfe!“ „Stört dich doch
nicht!“, fragte sie und legte eine Hand auf meinem
Oberschenkel. Ihr Kopf neigte sich verdächtig in meine
Richtung. Jetzt standhaft bleiben, dachte ich nur, wobei
standhaft vielleicht die falsche Vokabel ist. Ich spürte ihren
Atem an meinem Nacken. Angsterstarrt saß ich da, nicht
fähig dem Angriff auszuweichen. „Mutter! Mutter! Komm
heim! Rette mich! Ich bleib auch hier wohnen! Aber lass
diesen Kelch an mir vorübergehen!“ Meine innere Stimme
rief, nein, sie schrie förmlich. Ich traute mich nicht Helga
anzusehen. Ich befürchtete das Schlimmste. Ich würde es
über mich ergehen lassen müssen, denn ich hatte keine
Ahnung, wie ich mich gegen diesen fleischgewordenen
Erotiktsunami erwehren könnte. Plötzlich verspürte ich ein
Kribbeln in der Hose. Es war zum Glück nur das Vibrieren
meines Smartphones. Rettung schien in Sicht, denn Helga
war gerade dabei sich ihren dritten Schnaps einzuverleiben.
Ich riss das Telefon aus meiner Hose und schrie förmlich
rein: „Ja?“ Am anderen Ende war Mutter. Nie zuvor war ich
glücklicher, ihre Stimme zu hören. „Junge“, sagte sie, „Ich
hab mir beim Walken eine Sehne gerissen. Bin jetzt in der
Notaufnahme. Du musst mir ein paar Sachen bringen, denn
die wollen mich dabehalten. Tut höllisch weh!“ „Ich komme,
Mama!“, jubelte ich in das Smartphone hinein. Ich erklärte
Helga schnell die Sachlage und bugsierte sie vor die Tür.
Leicht torkelnd ging sie enttäuscht ihrer Wege. Ich aber war
befreit von ihr und fuhr in die Notaufnahme. Ein Drei-
fachhoch aufs Nordic-walken! Übrigens bin ich dann doch
nach Berlin gezogen. Mit Mutter!
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