Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal komplett zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.
Fundstücke
1) What’s Happening in Italy Is Scary, and It’s Spreading
Giorgia Meloni, die früher als populistische Brandstifterin galt, wird nun als pragmatische Partnerin im Westen gepriesen. Als italienische Premierministerin hat sie sich international etabliert, aber ihre Regierung zeigt auch autoritäre und repressive Tendenzen. Melonis Regierung beschuldigt Minderheiten, die Triade aus Gott, Nation und Familie zu untergraben, was zu negativen Konsequenzen für Migranten, NGOs und gleichgeschlechtliche Eltern führt. Sie hat anti-foltergesetzliche Bestimmungen geschwächt, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk mit Gefolgsleuten besetzt und versucht, Italiens Nachkriegsverfassung zugunsten exekutiver Macht zu ändern. Diese Entwicklung hat Auswirkungen über Italiens Grenzen hinaus. Die Far Right bricht historische Barrieren zum Center Right auf. Ähnliche Parteien sind in Polen und Schweden an der Macht, während andere wie die AfD in Deutschland und die Finnenpartei in Finnland in Regierungskoalitionen vertreten sind. Meloni hat ihren Ton gemäßigt, aber ihre Partei ist weiterhin extrem und nationalistisch. Sie verfolgt eine harte Einwanderungspolitik, hat die Überwachung von Journalisten verstärkt und möchte die antifaschistische Kultur des Landes revidieren und die Verfassung ändern. Ihr Vorgehen zeigt, wie die Far Right in Europa an Einfluss gewinnt und konservative Parteien in der politischen Landschaft verankert. Dies könnte Auswirkungen auf die gesamte europäische Zukunft haben, da andere Länder ähnliche nationalistische Ideen aufgreifen. (David Broder, New York Times)
Ich bin immer noch hin- und hergerissen, wie ich die Lage in Italien bewerten soll. Auf der einen Seite sehe ich die Argumente, wie sie auch für die AF D in Deutschland gelten, was die mittelfristige Integration rechtspopulistische Kräfte und die Unmöglichkeit, sie dauerhaft zu ignorieren, angeht. Meloni scheint zudem anders als etwa Orban jemand zu sein, mit der zumindest außenpolitisch Kooperationen möglich ist. Gleichzeitig aber ist es schwer zu ignorieren, dass Meloni und ihre Koalition in wesentlichen Punkten liberale Grundwerte nicht teilen und gegen sie verstoßen. Da die EU aber explizit auch eine Wertegemeinschaft ist, kann ein dauerhaftes Ignorieren dieser Tatsache was nur das gemeinsame Wertefundament erodieren. Offensichtlich aber gibt es keine Möglichkeit, die Innenpolitik andere Staaten in irgendeiner signifikanten Art und Weise zu beeinflussen. Wie mit diesem Dilemma umzugehen ist, bleibt eine zentrale Herausforderung für die Europäische Union.
2) Americans mostly hate Republican cultural beliefs
Ein Artikel von Jonathan Chait beschreibt die "Master-Theorie" der politischen Kriegsführung der Rechten, die besagt, dass die Linke seit den 60er Jahren einen kulturellen "Langen Marsch" unternommen hat und nahezu alle einflussreichen amerikanischen Institutionen wie Unterhaltung, Universitäten und große Unternehmen übernommen hat. Die einzige Hoffnung für Konservative bestehe darin, von innerhalb der Regierung aus eine kompromisslose Gegenrevolution zu führen, da dies die einzige Institution sei, die sie noch kontrollieren könnten. Die Theorie hat teilweise Wahrheit, aber auch Schwächen, da wichtige Institutionen wie Unternehmen und das Militär immer noch konservativ dominiert sind. Der Hauptfehler liegt jedoch darin, dass die öffentliche Meinung letztendlich entscheidend ist. Konservative soziale Einstellungen seien überwiegend unbeliebt, da eine Mehrheit für Abtreibungsrechte, gleichgeschlechtliche Ehen, DACA, Marihuana-Legalisierung, Sexualeducation und Transgender-Rechte sei. Die konservativen Ansichten hätten auf den meisten kulturellen Fragen die Unterstützung der Öffentlichkeit verloren, und dies sei ihr Problem, nicht die vermeintliche Dominanz linker Institutionen. (Kevin Drum, Jabberwocky)
Es ist absolut korrekt, dass die meisten Positionen, die Republicans halten, weit von einer Mehrheit entfernt sind. Bei jeder Abstimmung, was in der diese Positionen direkt den Wählenden vorgelegt werden, verlieren sie hart, wie man aktuell wieder in Ohio beobachten konnte. Wenn die Republicans ihre Kulturkampfpositionen direkt zu nationalen Wahlkampfthemen machen, ist dies ein direktes Geschenk für die Democrats. Nur gilt dasselbe natürlich auch umgekehrt: auch die meisten Positionen der Progressiven erreichen im direkten Fragen keine Mehrheit. Auch hier gilt, dass wenn diese zentralen Themen des Wahlkampfs werden, das eigentlich nur in Niederlagen für die Partei enden kann. Die Demokraten haben das Glück, eine wesentliche moderate Führungs- und Funktionärsschicht zu besitzen und mit Joe Biden einen Präsidentschaftskandidaten, der nur schwer als linker Kulturkämpfer zu inszenieren ist. Es besteht allerdings natürlich immer die Gefahr, dass der jeweilige radikale Flügel den Wahlkampf dominiert. Im Falle der Republicans ist dies aktuell (und in den letzten Jahren) praktisch konstant der Fall, was viele der jüngeren Wahlergebnisse erklärt.
3) The Dictator Myth That Refuses to Die
Der Artikel beschreibt, wie viele Menschen in den USA und weltweit die Anziehungskraft von Diktatoren sehen, die effektiv regieren und die öffentliche Ordnung aufrechterhalten, unabhängig von den Gesetzen oder Regeln, die ihnen im Weg stehen. Diese Bewunderung für Autokratie basiert auf dem Mythos der "wohltätigen Diktatur", der besagt, dass Diktatoren eine bessere Wirtschaftsleistung erzielen, strategische Denker sind und Stabilität bringen. Es wird jedoch gezeigt, dass diese Mythen nicht haltbar sind. Wirtschaftliche Daten wurden von Diktaturen manipuliert, und autoritäre Regime können zu katastrophalen Zusammenbrüchen führen. Die Stabilität von Diktaturen ist oft trügerisch und beruht teilweise auf dem Vorwand von Demokratie, um das Regime zu prolongieren. Letztendlich neigen Diktaturen dazu, auseinanderzufallen, wenn sie kollabieren, geschieht dies oft katastrophal. Der Artikel stellt fest, dass Demokratien trotz ihrer Mängel eine bessere Wahl sind, da sie einen besseren langfristigen Wachstum, korrektere wirtschaftliche Daten und größere interne Stabilität bieten. Der Glaube an den Mythos der benevolente Diktatur ist daher fehlerhaft, und die Demokratie bleibt das geringere Übel, wie Winston Churchill es einst ausdrückte. (Brian Klaas, The Atlantic)
Der Mythos des effizienten Diktators ist tatsächlich einer, der nicht totzukriegen ist. Ich versuche in meinem Geschichtsunterricht immer, dagegen anzutreten. Gerade in der populären Vorstellung hält sich die Idee, dass die Demokratie grundsätzlich ineffizient sei und dass autoritäre Strukturen automatisch effizienter seien und wir sie quasi nur deswegen nicht implementieren, weil wir unsere liebe Demokratie als Luxuselement behalten wollen, leider sehr hartnäckig. Die große Versuchung ist aktuell stets der Blick auf China. Dort dauert der Bau eines Flughafens nicht 20 Jahre, sondern gefühlt zwei Monate, und eine Baugenehmigung ist schnell erteilt. Dass dies damit erkauft wird, dass man für die entsprechende Genehmigung Kontakte und/oder Schmiergelder braucht, und dass die kurzen Bauzeiten auch damit zusammenhängen, dass Arbeitsschutz ein Fremdwort ist und schlichtweg auf der Ausbeutung austauschbarer und ersetzbarer billiger Arbeitskräfte ohne Rechte beruhen, wird dabei gerne übersehen.
4) The hidden architect of the Supreme Court
Leonard Leo ist ein mächtiger rechtsgerichteter Einflussnehmer, der maßgeblich zur Bildung der konservativen Mehrheit im US-Supreme Court beigetragen hat. Als leitender Mitarbeiter der Federalist Society spielte er eine entscheidende Rolle bei der Ernennung konservativer Richter und half, über 200 Bundesrichter zu bestätigen. Als gläubiger Katholik ist er gegen gleichgeschlechtliche Ehen, LGBTQ+-Rechte, Abtreibung und Verhütung. Seine Organisationen erhalten große Geldmittel, darunter "dunkles Geld", von anonymen Spendern. Mit erheblichen finanziellen Mitteln ausgestattet, plant er nun eine stärkere Einmischung in die Kulturkämpfe und die Förderung konservativer Talente. Leo hat eine enge Beziehung zu Richter Clarence Thomas, dessen Ehefrau von Leos Organisationen finanziell profitierte. Kritiker werfen ihm ethische Bedenken bezüglich seiner Verbindungen zu Richtern vor. (The Week)
Leute wie Leo sind der Grund, warum die Republicans eine so große Kontrolle über die Judikative haben. Anders als die Progressiven haben die Konservativen die Machtstellung, was sie Ihnen die Kontrolle der Gerichte verleiht, früh erkannt und in sie investiert. Nicht nur existiert ein großes Netzwerk, das linientreue Jurist*innen produziert und sie gezielt in Machtpositionen hievt und Karrieren fördert, sondern es existieren auch Organisationen, was die diese Kandidat*innen unter Beobachtung haben und als praktische Liste für Postenbesetzungen jederzeit verfügbar haben. Zuletzt ist den Spender*innen der konservativen Sache diese Bedeutung bewusst und sie finanzieren diese Übernahme der Gerichte seit mittlerweile mehreren Jahrzehnten. Umgekehrt ist den Progressiven erst in den letzten Jahren bewusst geworden, wie wichtig der Supreme Court ist, und noch überhaupt nicht, was wie relevant die untergeordneten Gerichte, vor allem die Bundesgerichte, sind. Allerdings besteht hier auch ein grundsätzliches Ungleichgewicht: Gerichte sind von Natur aus konservative Institutionen, was die sich eher zum Verhindern als zum Gestalten nutzen lassen. das Beste aus progressiver Sicht ist häufig, wenn die Gerichte die Legislative und Exekutive nicht zu sehr beschränken.
Die langfristige Planung auch im Rahmen von Jahrzehnten ist generell eine Spezialität der republikanischen Thinktanks und Spendernetzwerke. Man kann dies aktuell sehr gut an den Plänen für eine potentielle Machtübernahme 2024 sehen: detaillierte Vorschläge und Handlungsanweisungen liegen bereits in der Schublade und können einem das Blut in den Adern gefrieren lassen: so gibt es quasi bereits einen Masterplan für die Zerstörung des Klimaschutzes im Fall eines Trumpsiegs (oder dem eines anderen Republicans, hahaha) in diesem Jahr. Die Democrats hatten so etwas gefühlt seit dem Wagner Act von 1935 nicht mehr.
5) Die Mär vom optimalen Spitzensteuersatz
Die Ampelkoalition diskutierte 173 Tage lang die Spitzensteuersätze. Wirtschaftsminister Habeck forderte eine Erhöhung, um Entlastungen für niedrige Einkommen zu finanzieren. Finanzminister Lindner lehnte dies ab und berechnete einen Steuersatz von 57,4% ab einem Einkommen von 80.000 Euro. Wegen hoher Energiekosten führte die Regierung eine Preisbremse ein, ließ die Spitzensteuersätze jedoch unberührt. Die Elastizität des zu versteuernden Einkommens bleibt ein kontroverses Thema, da Ökonomen keine klare Antwort auf optimale Steuersätze haben. Carina Neisser von der Universität Köln wertete 61 Studien aus, die eine große Bandbreite von 44,63% bis 90,01% ergaben. Kontrollmöglichkeiten und Ausweichreaktionen beeinflussen die Ergebnisse erheblich. Eine Digitalisierung der Steuerbehörden könnte die Eintreibung effektiver gestalten. De Neve und Kollegen experimentierten mit Briefen an Steuerzahler, um Einnahmen zu erhöhen. Vereinfachte Sprache und Abschreckungsnachrichten hatten positive Effekte, indem sie Fehler vermieden und die Steuermoral ansprachen. In den USA könnten verspätete oder falsche Steuererklärungen jährlich 319 Milliarden Dollar ausmachen. In Deutschland sind solche Studien bisher weniger interessant für die Behörden. (Maximilian Sachse, FAZ)
Der hier verlinkte Artikel zeigt ein Grundproblem der Steuerpolitik auf: ein profunder Mangel an Kreativität und Vorstellungskraft. Das „Optimum“ wird hier ausschließlich als maximal hohe Steuereinnahmen definiert, was aber letztlich nur eingeschränkt sinnvoll ist: die Funktion von Steuern ist ja nicht ausschließlich die Generierung von Einnahmen, sondern, wie das Wort schon sagt, Steuerung. Die Gestaltung von Steuern als irgendetwas anderes außer der Generierung von Einnahmen oder dem Versuch, Wirtschaftswachstum durch ihre Kürzung zu generieren, ist aus der öffentlichen Debatte praktisch verschwunden. Die Folgen davon tragen letztlich alle beteiligten Seiten: die Progressiven im Verlust von politischen Optionen, die Liberalen darin, das Steuerpositionen generell auf das Generieren von Einnahmen und damit auf Steuererhöhungen hinauslaufen.
Resterampe
a) Raw data: Consumer spending since 2002. Die Finanzkrise hat einen permanenten Wohlstandsverlust beschert.
b) Turns out Facebook isn't as polarizing as previously thought. Ich fahre mit der Grundregel gut, generell skeptisch gegenüber "neues Ding ist total schlimm und Wurzel allen Übels"-Unkereien zu sein.
c) Israel’s Avalanche. The Folly of the Israeli Government in Restricting Reasonableness.
d) Als Nachtrag zum vorletzten Vermischten und dem Nordatlantik: Why an ocean current is on the brink of collapse
e) Fucking finally: Wegen Lehrermangels: Erstes Bundesland führt (bezahltes!) duales Lehramtsstudium ein.
f) Manuel Müller plädiert für eine Normalisierung des Spitzenkandidat*innenverfahrens.
g) Noch ein Nachtrag zum vorletzten Vermischten, dieses Mal zu Elon Musk.
h) Diese Artikelserie zum Thema Übergewicht ist mehr als spannend.
i) US-Universitäten kommen zum offensichtlichen Schluss, was ChatGPT angeht. Ich gehe nicht davon aus, dass die richtigen Lehren gezogen werden werden...
j) Sehr treffende Satire.
k) Unbedingt lesenswertes Interview mit Peter Bofinger.
l) Oh schau mal, bei der FDP nimmt man es mit der Verfassung nicht so genau. Wo ist Stefan Pietsch, wenn man ihn mal braucht?
m) Diese Zustände im akademischen Bereich sind echt unerträglich.
n) Lesenswertes Porträt von Luisa Neubauer.
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