Der belarussische Diktator Lukaschenko fühlt sich seit seinem Wahlbetrug Anfang des Jahres und der folgenden Unterdrückungskampagne gegen seine Bevölkerung wohl stark genug im Sattel, um sich als Handlanger Putins für dessen Schützenhilfe bei der erwähnten Unterdrückungskampagne zu bedanken und die EU unter Druck zu setzen. Mit Waffengewalt lässt der Diktator Geflüchtete zur belarussisch-polnischen Grenze treiben, um sie dort in die EU zu zwingen. Eventuell im Weg stehende Grenzbefestigungen der polnischen Seite ließ er durch seine Truppen beseitigen; diese sind auch dafür zuständig, dass die Geflüchteten nicht wieder zurückkommen können. Polen seinerseits reagiert mit der Abordnung von Truppen und der Aufstellung rechtsextremistischer Milizen. Es kam zu ersten Konfrontationen zwischen den Soldaten beider Seiten. Lukaschenko betrachtet die geflüchteten Menschen offensichtlich als Waffen in einem asymmetrischen Konflikt, aber was ist sein Ziel, und wie sollte die EU darauf reagieren?

Sehen wir uns zunächst genauer an, was geschieht. Bereits oberflächliche geografische Kenntnisse zeigen, dass Belarus nicht unbedingt ein natürlicher Durchgangspunkt für Geflüchtete aus Afghanistan oder dem Mittleren Osten ist. Tatsächlich ist es beinahe so schwierig, Belarus zu erreichen, wie, sagen wir, Großbritannien, nur nicht halb so attraktiv. Wie also kommen Geflüchtete aus Syrien nach Belarus? Die Antwort ist: sie werden eingeflogen. Belarussische Airlines holen die Leute ab, bringen sie nach Minsk, dort werden sie in Transporter gezwungen und zur Grenze gekarrt. Insgesamt hat Lukaschenko so eine mittlere vierstellige Zahl Geflüchtete ins Land geholt und setzt sie nun gegen die Außengrenzen der EU ein.

Warum tut er das? Rein rechtlich gesehen könnten Geflüchtete unter dem Dublin-Regime in Polen oder Litauen Asyl beantragen, da sie vorher in keinem anderen EU-Staat waren (inwieweit man Belarus als sicheren Drittstaat ansehen will, sei mal dahingestellt). Normalerweise liegen Polen und Litauen außerhalb der Fluchtrouten, und zumindest Polen weigert sich unter seiner rechtsradikalen PiS-Regierung auch hartnäckig, irgendwie bei der Verteilung der Geflüchteten innerhalb der EU zu kooperieren und hat praktisch keine aufgenommen. Die Geflüchteten an seiner Ostflanke stellen von daher eine symbolisch aufgeladene Bedrohung dar: die "anderen", die man so lange abgehalten hat, drohen nun ins Land zu kommen. Da die Herrschaft der PiS auf Ideen von ethnischer Homogenität und ähnlichem nationalistischen Blödsinn beruht, sind selbst die Handvoll Geflüchteter an der belarussischen Grenze eine ernsthafte Bedrohung für die Legitimität des polnischen Staates, der dieser sich entgegensetzen muss.

Neben dieser ideologischen Dimension müssen Polen und Litauen natürlich auch ihre Grenzen gegen den simplen Akt belarussischer Aggression absichern. Es ist als souveräne Nation ja nicht hinnehmbar, dass ein anderes Land die Grenze verletzt, egal auf welche Art. Spätestens mit der Sabotage der Grenzanlagen hat Belarus eine Linie überschritten, die grundsätzlich als Kriegsanlass durchgehen würde, auch wenn glücklicherweise niemand aktuell so stark eskalieren will.

Natürlich sind 4000 oder auch 8000 Geflüchtete keine reale Bedrohung von irgendwas, das weiß man in Minsk genauso gut wie in Warschau. Es geht um die Symbolwirkung, die hier entfaltet wird. Das ist offensichtlich auch die Idee hinter dieser Strategie, die Grenze dichtzumachen und so die Heuchelei des Westens offenzulegen. Es ist ein Kalkül, das Putins Handschrift trägt. Die Forderung der Einhaltung von Menschenrechten, mit der der Westen Belarus seit Monaten unter Druck setzt, wird hier auf die autokratisch üblich krude Weise gespiegelt: Seht her, wie könnt ihr von uns verlangen, irgendwelche Werte und Normen einzuhalten, wenn ihr euch selbst nicht daran haltet? Angesichts der immer schärferen Repression auch in Russland, das gerade mit Memoria eine hervorgehobene zivilgesellschaftliche Organisation verboten hat, ist das Interesse daran für die beiden Diktatoren klar ersichtlich.

Diese Strategie ist alt. Bereits Lenin forderte, die "Widersprüche hervorzuheben", die dem Kapitalismus (verstanden nicht als Wirtschafts-, sondern als liberal-westliche Gesellschaftsform) zu eigen sind. Durch den gesamten Kalten Krieg hindurch droschen die Kreml-Herrscher politisches Heu damit, auf die Menschen- und Völkerrechtsverstöße der USA hinzuweisen und sich in besserem Licht zu präsentieren, als ob das ihre eigenen Verstöße irgendwie rechtfertigte. Es ist effektiv. Dass sich deutsche Politiker wie der sächsische Ministerpräsident Kretschmer dabei zu ihren Wasserträgern machen, ist leider nicht das erste Mal. Oder, wie es der Postillon in einer Verballhornung des typischen BILD-Schlagzeilenstils so schön formuliert: "Gemeinheit! Fieser Weißrusse nutzt Weigerung der EU, Flüchtlinge wie Menschen zu behandeln, als Druckmittel aus!"

Polen hat bekanntlich selbst eine ganze Reihe von Problemen mit der Rechtsstaatlichkeit, um es höflich auszudrücken, aber anders als Ungarn fährt es eine scharf antirussische außenpolitische Linie, was angesichts von Geschichte und Disposition des Landes absolut verständlich ist. Angesichts dieser fehlenden Rechtsstaatlichkeit auf der einen und der hart rechten Haltung der Regierung andererseits war absolut berechenbar, dass die polnische Regierung mit Gewalt auf diese Herausforderung reagieren würde. Das ist genau das, was Lukaschenko will: Bilder von toten Geflüchteten an der EU-Außengrenze, getötet durch die Hände polnischer Soldaten und Milizen. Und Kaczinsky erfüllt ihm aus innenpolitischen Gründen und ideologischer Verblendung diesen Wunsch.

Die bisherigen Pushbacks der EU an den Grenzen sind zwar illegal, aber man macht sich entweder nicht persönlich die Hände schmutzig oder verheimlicht das Geschehen. Überwiegend hat man es outgesourct: serbische und türkische Grenzbeamte sind es, die die meiste Gewalt verüben. Wenn nun polnische Soldaten direkt für Tote verantwortlich sind, ist das eine neue Dimension. Fast noch schlimmer sind die rechtsextremen Milizen, die sich in Polen formiert haben und die (sprichwörtlich) den Segen der Regierung besitzen. Denn einer der großen Kritikpunkte der EU/NATO an Russland seit 2014 war deren Nutzung von Paramilitärs. Polen normalisiert nun auch das.

Um es kurz zu machen: die polnische Reaktion ist ebenso vorhersehbar wie für die EU schlecht. Aber die Vorhersehbarkeit erstreckt sich leider auch auf das Verhalten der restlichen EU. Sie gab einige lasche Erklärungen ab und überließ das Problem ansonsten Warschau. Einige Spezialisten wie der sächsische Ministerpräsident Kretschmer besorgten sogar noch das Geschäft für die Missetäter aus Minsk, indem er verkündete, dass die EU "solche Bilder aushalten muss". Eine offenere Erlaubnis für das Töten oder zumindest Sterben lassen von Menschen im Niemandsland zwischen Belarus und Polen ist kaum vorstellbar.

Die Eskalation zwischen den Streitkräften der beiden Länder hat die Dynamik allerdings noch einmal verändert. Heute hat Polen die NATO offiziell ersucht, Konsultationen auf Basis von Artikel 4 einzuleiten. Es ist auffällig, dass Warschau gar nicht erst versucht, über die EU-Strukturen - die ja ebenfalls ein Militärbündnis enthalten, und sogar ein stärkeres als die NATO! - zu einer Lösung zu kommen, sondern direkt die NATO bemüht. Artikel 4 sieht, anders als der so genannte "Bündnisfall" von Artikel 5, nur Beratungen vor. Er dient tatsächlich in diesem Fall dem faktischen Ausschließen der Eskalation auf Artikel 5, wie Carlo Masala erklärt, was die wohl einzig gute Nachricht der Chose ist.

Mittlerweile ist sogar Heiko Maas so weit, Sanktionen gegen Belarus zu fordern, was für ihn eine wahrlich harte Haltung darstellt. Tatsächlich sind Sanktionen in diesem Fall ein sehr probates Mittel. Die belarussische Strategie basiert darauf, dass die Airlines Flüchtende nach Minsk fliegen. Das ist dank der Sanktionen mittlerweile kaum mehr möglich. Die jetztigen Geflüchteten dort sind also ein einmaliges Event, so viel hat die EU-Politik bereits geleistet.

Was jetzt notwendig wäre ist der Aufbau von Resilienz, wie es Carlo Masala formulierte. Damit meint er ironischerweise dasselbe wie Michael Kretschmer - "wir müssen das aushalten" - nur auf eine völlig andere Art. Das vom Außenministerium wütend dementierte Gerücht, Deutschland würde die Geflüchteten mit Transitbussen aus Belarus nach Deutschland bringen, zeigt im Endeffekt den simplen Ausweg aus der Krise. Es handelt sich nur um einige tausend Geflüchtete. Die ließen sich problemlos in der EU verteilen, ohne dass das ein Land auch nur bemerkt. Selbst wenn wir die Autokratien Polen und Ungarn ignorieren und ausnehmen, ist die Verteilung stressfrei. Das Argument, dass damit ein Präzedenzfall geschaffen würde, der weitere Flüchtlingsströme nach sich zieht, greift nicht. Denn Minsk kann das nicht endlos wiederholen. Und selbst wenn es das tun würde: die EU kann es sich unendlich mehr leisten, Geflüchtete, die Lukaschenko teuer einfliegen lässt, aufzunehmen. Das ist ein Rüstungswettlauf, den wir nur gewinnen können.

Es muss einfach klar sein, dass es hier nicht um Geflüchtete geht. Die Situation ist eine vollständig andere als bei den Pushbacks im Mittelmeer, als auf Lampedusa oder in Moria. Diese Menschen werden als Waffe benutzt, als eine Waffe, die auf das Herz der EU gerichtet ist. Lukaschenko will zeigen, dass die EU genauso schrecklich und menschenverachtend ist wie er. Kretschmer und Kaczinsky wollen ihm diesen Gefallen tun. Das ist ein Fehler. Wir sollten stattdessen die Sanktionen gegen die Machthaber verschärfen, ihnen ihre Waffen aus der Hand schlagen und zeigen, warum diese Menschen nach Deutschland und nicht nach Belarus flüchten wollen.

Was hier stattfindet ist mindestens so sehr ein ideologischer wie ein machtpolitischer Konflikt. Wie im Kalten Krieg ist es am Westen, nicht nur seine Grenzen, sondern auch seine Werte in diesem Konflikt zu bewahren. Eine EU, die zwar ein paar Tausend Geflüchtete von ihrer Grenze fernhält, aber dafür die Menschenrechte bricht, hört auf, die EU zu sein. Die Angriffe Lukaschenkos und Putins richten sich auf unser Herz mindestens ebenso sehr wie auf unsere Glieder.

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