Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.
Fundstücke
1) Exams are everything in China
Andrew Batson erläutert in seinem Blog, dass das chinesische Bildungssystem und insbesondere die Hochschulaufnahmeprüfung Gaokao eine zentrale gesellschaftliche Institution darstellen. Das Buch The Highest Exam von Ruixue Jia und Hongbin Li zeige, wie der Gaokao soziale Mobilität ermögliche, Legitimität stifte und das gesellschaftliche Leben strukturiere. Da allein Prüfungsergebnisse über Studienzulassungen entschieden, gelte der Test als Symbol für Meritokratie – ähnlich wie das historische kaiserliche Keju-Examen, das einst sozialen Aufstieg versprach. Auch nach der kommunistischen Machtübernahme sei das Prüfungssystem bewusst fortgeführt worden, um Leistungsprinzip und politische Stabilität zu sichern. Die Abschaffung während der Kulturrevolution habe Chaos erzeugt, seine Wiedereinführung 1977 dagegen breite Unterstützung gefunden. Zugleich werde der enorme Leistungsdruck kritisiert: Das gesamte Bildungssystem diene der Vorbereitung auf diesen einen Test, alternative Aufstiegspfade existierten kaum. Versuche, das System zu reformieren, seien politisch gescheitert. Batson verweist darauf, dass die Logik des Gaokao – ein zentralisiertes, hierarchisches Wettbewerbssystem – sich auch in anderen Bereichen, etwa im wirtschaftlichen Leistungsdruck lokaler Regierungen, wiederfinde. Trotz moderner Kritik bleibe der Gaokao für China „eine unantastbare Grundlage sozialer Ordnung“. (Andrew Batson, The Tangled Woof)
Man sieht an dem Artikel gut, was für ein zweischneidiges Schwert der Gaokao ist. Auf der einen Seite sorgt er dafür, dass in China ein für Diktaturen, noch dazu ostentativ kommunistische, untypisches Maß an Meritokratie vorherrscht. Gleiches gilt für die Leistungsbeurteilungen: auch hier werden die Anreize für echten Wettbewerb geschaffen, Korruption so gut wie möglich eingedämmt und Nepotismus deutlich erschwert. Gleichwohl kommt das System mit einer Reihe schwerer Nachteile. Die einen sind menschlicher Natur: es entsteht ein riesiger Druck, der die Lebensqualität deutlich herabsetzt und neben dem unangenehmen Druck selbst natürlich auch massenhaft Verlierer*innen erzeugt, die unter ihm zerbrechen. Aber schwerwiegender sind andere Schwächen des Systems: die rigide, zentralisierte Struktur bedeutet zwangsläufig, dass der Gaokao wie auch andere Wettbewerbsindizes sich auf leicht messbare Faktoren verlassen muss. Im schulischen Bereich bedeutet das eine Konzentration auf auswendig Lernen, im wirtschaftlichen Bereich eine auf Kennziffern. Dazu wird vorausgesetzt, dass die zentrale Behörde an der Spitze des jeweiligen Systems die richtigen Indizes setzt, damit der Wettbewerb nicht durch Fehlanreize in falsche Richtungen läuft. Die Unantastbarkeit des Systems macht es zudem sehr resistent gegen Reformen, wenn genau das passiert.
2) Der Merz, für den ich gekämpft habe, sitzt nicht im Kanzleramt
Finn Werner, Mitglied der Jungen Union und Digitalberater, wendet sich in einem offenen Brief an Bundeskanzler Friedrich Merz und äußert deutliche Enttäuschung über dessen Kurs. Er erinnert daran, dass Merz einst als Symbol für wirtschaftliche Vernunft und klare Führung gegolten habe, nun aber zu weich und anpassungsbereit erscheine. Werner betont, gewählt worden sei Merz nicht aus Begeisterung, sondern weil viele Wähler die Ampel-Regierung abgewählt hätten. Erwartet worden sei ein entschlossener Politikwechsel – weniger Bürokratie, solide Finanzen, Eigenverantwortung im Sozialstaat. Stattdessen sehe er einen „linken“ Merz, der Kompromisse eingehe und wirtschaftsliberale Prinzipien aufgegeben habe. Der Autor fordert den Kanzler auf, wieder zu dem durchsetzungsstarken, unbequemen Politiker zu werden, den er einst verkörpert habe – den „BlackRock-Merz“ mit klaren Überzeugungen. Die Jungen und Wirtschaftsliberalen der CDU, so Werner, warteten noch immer auf diesen echten Merz. (Finn Werner, WELT)
Ich weiß immer gar nicht, was ich sagen soll, wenn Leute, die zumindest semi-professionell im politischen Bereich unterwegs sind eine solche Blindheit an den Tag legen. In Finn Werners Kommentar müsste man nur ein paar Namen und Schlagworte austauschen und er könnte genauso von den Jusos über Scholz oder von der Grünen Jugend über Habeck sein. Was, der Mann kann die Schlagworte aus dem Wahlkampf in einer Koalition nicht 1:1 umsetzen? Was erlauben Merz? Er muss Kompromisse eingehen? Wer hätte das angesichts der Umfragen, die Merz ständig an den 30% scheitern sahen, voraussehen können? Merz hat im Wahlkampf natürlich völlig unhaltbare Versprechen gemacht, aber das war von Anfang an unseriös. Man hätte ihn damals damit konfrontieren müssen, nicht jetzt. Wer sich belügen lassen will, wird belogen. Und offensichtlich wollte Werner das. "Uns wurde ein Politikwechsel versprochen", ja großartig, mit wem denn? Die Zeichen standen von Anfang an auf Schwarz-Rot, mit einer guten Chance für Schwarz-Rot-Grün. Ich habe kein Mitleid für Leute, die die Grundrechenarten politischer Arithmetik nicht beherrschen. Für ein weiteres Beispiel mit dem ausgelutschten "silent majority"-Stereotyp siehe hier: Sind die Bürger nicht genauso mutlos wie der Kanzler, den sie für seine Feigheit verachten?
3) No need for a moral panic about the welfare system
Chris Giles weist in seinem Kommentar darauf hin, dass die derzeitige britische Debatte über Sozialausgaben von einer „moralischen Panik“ geprägt sei, die mit den Fakten wenig zu tun habe. Weder seien die Kosten des Sozialsystems „explodierend“, noch nehme die Zahl der Leistungsbezieher besorgniserregend zu. Die gesamten Sozialausgaben lägen bei rund elf Prozent des Nationaleinkommens und damit niedriger als zu Zeiten von David Cameron, während der Anteil der Leistungen für Erwerbsfähige seit Jahrzehnten zwischen vier und fünf Prozent des BIP schwanke. Die Zahl der 6,5 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter, die Sozialleistungen beziehen, erkläre sich vor allem durch geänderte statistische Erfassungen. Beschäftigungsquoten blieben auf Rekordniveau, insbesondere dank gestiegener Erwerbstätigkeit von Frauen. Zwar wachse der Aufwand für Gesundheits- und Erwerbsminderungsleistungen, doch rechtfertige dies keine pauschale Krisenrhetorik. Giles plädiert für gezielte Reformen – etwa die Abschaffung der „Triple Lock“-Regelung für Renten oder eine Entlastung kinderreicher Familien – warnt aber davor, das gesamte System für Haushaltsprobleme verantwortlich zu machen. (Chris Giles, Financial Times)
Der konservative Moralismus zum Sozialstaat dieser Tage ist eine wahre Seuche. In düstersten Tönen wird eine angebliche Katastrophe herbeigeredet, die sich aus den Zahlen überhaupt nicht herleiten lässt. Man denke nur an Artikel wie "Der Kontrollverlust des Sozialstaats", als ob hier auch nur ansatzweise so etwas wie ein Kontrollverlust stattfinden würde. Ich finde es ja putzig, wie Konservative in jeder Rezession neu herausfinden, dass mit mehr Arbeitslosen auch die Sozialabgaben steigen oder alle paar Jahre entdeckt wird, dass der demografische Faktor immer noch existiert. Ich weiß nicht, ob es beruhigend ist, dass derselbe Blödsinn auch in anderen Ländern passiert. Man vergleiche das übrigens mit der Rhetorik des NRW-Arbeitsministers.
4) Dicke Luft – die unbekannte Produktivitätsbremse
Laut einer umfassenden Untersuchung von Aurel Wünsch ist die Luftqualität in vielen öffentlichen Gebäuden – insbesondere in Schulen und Arztpraxen – alarmierend schlecht. Daten aus 17.000 Messreihen zeigen CO₂-Werte, die weit über dem EU-Richtwert von 1000 ppm liegen, teils bis zu 6000 ppm. Schlechte Luft führe nicht nur zu erhöhter Ansteckungsgefahr durch Viren, sondern auch zu deutlichen Leistungseinbußen: Studien zufolge sinke die kognitive Leistungsfähigkeit bei verdoppeltem CO₂-Gehalt um bis zu 50 Prozent. Forscherin Christina Hopfe betont, dass CO₂ ein klarer Indikator für verbrauchte Atemluft sei und mangelnde Belüftung die Produktivität massiv beeinträchtige. Dennoch setze das Robert-Koch-Institut weiterhin auf einfaches Fensterlüften – eine Empfehlung, die in überfüllten Räumen kaum realistisch sei. Nur etwa zehn Prozent der Schulen verfügten über funktionierende Lüftungsanlagen, viele seien aus Kostengründen gedrosselt. Hopfe warnt, die volkswirtschaftlichen Folgekosten schlechter Innenluft gingen in die Milliarden. Mechanische Belüftung müsse künftig Standard werden. (Stefan Hajek, WirtschaftsWoche)
Mich macht das echt stinkig. Wir wissen es und könnten hier so viel volkswirtschaftliche Effizienz rausholen, mal davon abgesehen dass es den Leuten auch viel besser gehen würde, wenn die Räume richtig belüftet würden. Natürlich lernen wir nichts aus Corona. Es wird aktiv verhindert, dass irgendetwas aus Corona gelernt wird, weil nichts aus Corona gelernt werden darf. Wenn wir alle nur fest genug die Augen zudrücken, wird das schon nie wieder passieren. Mich ärgert besonders dieses ständige Lüften-Gequatsche. Wenn im Winter draußen 3°C sind, dann ist mehrmals die Stunde lüften nicht gerade die beste Idee. Ja, die Atemluft wird besser, aber dafür erkälten sich die Leute halt so. Auch das haben wir während Corona erlebt. Es war einfach unzumutbar. Schüler*innen sitzen 90 Minuten still am Platz und sollen sich dazwischen die Umgebungstemperatur alle 15-20 Minuten auf Tiefkühl-Niveau heruntersetzen. Klasse. Im Wartezimmer ist das bestimmt auch ein echter Hit, bei Leuten mit angeschlagenem Immunsystem. Es ist wie Klimaanlagen für den Sommer; die ganze Infrastruktur ist völlig veraltet.
5) What Progressives Keep Getting Wrong
Der Text skizziert, dass der demokratische Senatskandidat Graham Platner trotz zahlreicher Enthüllungen – vom „Kommunist“-Selbstlabel über herabsetzende Äußerungen bis zu einem später überdeckten SS-Totenkopf-Tattoo – von progressiven Unterstützern weiter getragen werde. Dies werde als Testfall für eine Strategie gesehen, nach der „unpopuläre Positionen“ nicht moderiert, sondern durch ökonomischen Populismus überblendet werden sollten, verkörpert durch Kandidaten mit „working-class“-Habitus. Es werde argumentiert, Platner passe ideal: Marineveteran, Austernfarmer, „progressiver Geist im MAGA-Körper“. Kritisiert werde jedoch, dass Empirie nahelege, „Politiker mit moderaten Programmen“ schnitten generell besser ab; progressives Framing, Wähler seien nur „propagandisiert“, ersetze keine inhaltliche Bewegung zur Mitte. Platners Chancen in Maine seien wegen des demokratischen Umfelds nicht aussichtslos, doch das Beispiel der moderaten Amtsinhaberin Susan Collins zeige die Stärke der Mäßigung. Fazit: Die linke Hoffnung auf Biografie statt Positionsanpassung sei riskant – besonders über lokale Hochburgen hinaus. (Jonathan Chait, The Atlantic)
Grundsätzlich habe ich große Sympathie für Chaits Argumentation. Was mir in dieser Linie - die ja nicht nur er vertritt; Leute wie Matthew Yglesias oder Ezra Klein sind da ja auch ganz vorne dabei - nur immer unklar bleibt, warum sie nur für eine Seite des politischen Spektrums gilt. Denn die Entwicklung auf der Rechten in zwei Trump-Wahlsiegen zeigt ja deutlich, dass eine Konzentration auf die Basis, ein spaltender Kurs und möglichst massive Polarisierung eine Gewinnerstrategie sein können. Es mag durchaus sein, dass das nur für die Rechten funktioniert, aber ich hätte gerne wenigstens eine Erklärung für diesen Elefanten im Raum. In Deutschland genau dasselbe: warum ist es völlig ok, wenn Söder wurstigen Kulturkampf führt oder Merz erklärt, dass nur Gillamoos Deutschland ist, aber wehe, ein Grüner redet über Tofu?
Resterampe
a) Gefährlich und verwahrlost – die Hauptstadt des kaputten Stadtbilds (Welt) // Friedrich Merz' Stadtbild: Schuld am vermeintlich problematischen Stadtbild ist die Regierung selbst (Spiegel). Diese Artikel verraten auch mehr über die Leute, die sie schreiben, als über das Thema.
b) It’s Not a Dog Whistle If Everyone Can Hear It (The Atlantic).
c) Gymnasium verbietet (muslimischen) Schülern das Beten auf dem Schulgelände – verklagt (News4Teachers). Ging es da um andere Gruppen, wäre die Welt von empörten Leitartikeln. - Dass die Schule nicht einfach einen Raum bereitstellt und fertig, das würde das Problem einfach lösen...da wollen halt auch zwei echt Streit.
d) SPD und Die Linke: Warum die SPD sich neu erfinden muss (Spiegel). Ah, endlich mal wieder dieser Artikel in neuen Worten.
e) Kulturrat gegen Sprachverbote: “Gendern in der jüngeren Generation vielfach etabliert” (News4Teachers). Wenn man "vielfach" als "mehr als einmal" definiert, sicher. Aber bei aller Liebe, das bewegt sich bestenfalls im niedrigen einstelligen Prozentbereich. Man sollte schon ehrlich argumentieren.
f) Wohin führt eine Politik gegen die eigene Jugend? (ntV)
g) Blaues Land (ARD). Doku über den AfD-Osten.
h) Thorsten Alsleben, der Chef der INSM, redet so einen Unsinn über eine mögliche Minderheitenregierung, das geht auf keine Kuhhaut. (Twitter) Man sehe nur zum Vergleich, was er zu Ampelzeiten gesagt hat.
i) Wer sich gut integriert hat, sollte bleiben dürfen (Welt). Dass man so was überhaupt explizit aussprechen muss...
j) Marjorie Taylor Greene’s rebellion: Maga hardliner turns on Trump (The Week).
Fertiggestellt am 27.10.2025
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