Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.

Fundstücke

1) »Hätten wir unsere Hausaufgaben gemacht, würde jetzt nicht so ein brutaler Judenhass wuchern« (Interview mit Michael Friedman)

Michel Friedman, Jahrgang 1956 und ehemaliger stellvertretender Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, äußert sich in einem Interview mit dem SPIEGEL kritisch zur Erinnerungskultur in Deutschland, insbesondere zum Holocaust-Gedenktag. Er betont, dass dieser Tag erst 1996 etabliert wurde, was die Verdrängung und Ablehnung der Erinnerungskultur im Land widerspiegelt. Friedman hebt hervor, dass viele junge Menschen heute nicht mehr wissen, was Auschwitz war, was für ihn ein Anzeichen mangelnden Bewusstseins und fehlender Auseinandersetzung mit dem Thema ist. Er kritisiert, dass die Erinnerungskultur in Deutschland hauptsächlich auf die Opfer fokussiert ist, ohne die Täter und deren Familien mit einzubeziehen. Friedman sieht in der Aufarbeitung der eigenen Familiengeschichte während der NS-Zeit einen wichtigen Schritt zur Verankerung einer wirksamen Erinnerungskultur. Trotz der vielfältigen Bemühungen um Gedenkstätten, Mahnmale und politische Bildung in Deutschland, sieht Friedman Defizite in der emotionalen Identifikation und Auseinandersetzung der Einzelnen mit der Thematik. Er betont, dass der Fokus nicht nur auf den toten, sondern auch auf den lebenden Juden liegen sollte, deren Leben in Deutschland aktuell durch Antisemitismus erschwert wird. Friedman spricht sich für eine aktive und breite Teilnahme am demokratischen Prozess aus, um rechtsextremen und menschenfeindlichen Bewegungen entgegenzutreten. Er sieht in der aktuellen politischen Lage Parallelen zu den Anfängen der NSDAP und betont die Gefährlichkeit von Parteien wie der AfD, die menschenverachtende und antisemitische Ideologien verbreiten. (Jonas Breng, Spiegel)

Michel Friedmann hat gerade generell viele kluge Dinge zu Antisemitismus in Deutschland zu sagen und wird viel interviewt, daher die Empfehlung, sich da mal umzutun. Ich will aus diesem Interview vor allem einen Punkt herausgreifen: die Gleichsetzung von Juden und Israel. Dass jüdische Deutsche sich ständig quasi als Botschafter*innen für die Regierung Netanyahu betätigen müssen, ist ein echtes Problem. Es ist auch nicht dasselbe wie wenn ich als Expat in einem anderen Land zur deutschen Politik befragt würde; da wäre ich ja immer noch deutscher Staatsbürger. In diesem Fall wird aber Religion mit Nationalität gleichgesetzt. Ein ähnliches Phänomen gibt es auch für Muslime, die sich immer kollektiv verantworten müssen, zuletzt ironischerweise ebenfalls im Zusammenhang mit den Ereignissen vom 7. Oktober. Es wäre echt wichtig, das zu lassen, weil es diese Menschen ausgrenzt. Auch, wenn man es positiv meint.

2) Gesetzlicher Mindestlohn zeigt positive Wirkung

Laut einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) ist der Niedriglohnsektor in Deutschland deutlich geschrumpft. Im Jahr 2022 waren etwa 15,2 Prozent der Beschäftigten in diesem Bereich tätig, während es 2007 noch 23,5 Prozent waren. Als wesentlicher Grund für den Rückgang wird die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns im Jahr 2015 und dessen schrittweise Erhöhung angeführt. Die Studie zeigt auch, dass der Bruttostundenlohn insgesamt inflationsbereinigt um 16,5 Prozent zwischen 1995 und 2021 gestiegen ist. Allerdings war der Anstieg im untersten Lohndezil mit etwa sechs Prozent am geringsten. Im Gegensatz dazu stiegen die Löhne in den oberen Lohngruppen um etwa 20 Prozent. Interessanterweise hat sich die Einkommensungleichheit in Deutschland trotz des Schrumpfens des Niedriglohnsektors erhöht. Die obersten zehn Prozent der Einkommensbezieher verzeichneten eine Steigerung von 50 Prozent, während die untersten zehn Prozent nur eine Steigerung von vier Prozent erzielten. Das DIW empfiehlt weitere politische Maßnahmen, um diese Ungleichheit zu verringern. Dazu gehört eine verbesserte Integration von Zugewanderten in den Arbeitsmarkt und gezielte Qualifizierungsmaßnahmen für junge Erwachsene ohne beruflichen Bildungsabschluss. Dennoch sei die Ungleichheit der Haushaltsnettoeinkommen in Deutschland im internationalen Vergleich eher gering. (Tagesschau)

Ich will zuerst auf die Geschichte der Ungleichheit eingehen: der ständige Streit darüber, ob diese tatsächlich zunimmt, ist mir mittlerweile echt über. Ich kann das als Laie nicht beurteilen, und ich höre einerseits ständig von Expert*innen die Behauptung, dass die Ungleichheit zugenommen habe, während andere Expert*innen genau das bestreiten. Letztlich suchen sich alle dann immer die These aus, die am besten in ihr Weltbild passt. Für Linke und Progressive nimmt die Ungleichheit natürlich zu, für Liberale und Konservative tut sie es nicht. Am Ende haben wir keinerlei Konsens, über was wir eigentlich reden, was den Streit so wahnsinnig unfruchtbar macht.

Im Gegensatz dazu scheint mir beim Thema Mindestlohn die Empirie mittlerweile erdrückend zu sein: das Ding hat positive Effekte, hat weitgehend seine Ziele erfüllt und die meisten der befürchteten Nebenwirkungen sind nicht eingetreten. Hier hatten die progressiven Ökonom*innen schlicht Recht.

3) Röchel, röchel, Ruhe!

Die Diskussion um den Krankenstand in Deutschland zeigt auf, dass eine neue Achtsamkeit in Bezug auf Gesundheit am Arbeitsplatz entstanden ist. Eine Studie des DIW belegt, dass der Niedriglohnsektor geschrumpft ist, dennoch nimmt die Einkommensungleichheit zu. Gleichzeitig hat die Techniker Krankenkasse festgestellt, dass 46 Prozent der Befragten auch dann von zu Hause arbeiten, wenn sie krank sind. Dieses Phänomen des "Präsentismus", bei dem Arbeitnehmer trotz Krankheit arbeiten, führt nicht nur zu einer Verbreitung von Krankheiten am Arbeitsplatz, sondern kann auch die Genesung verzögern und langfristig die Produktivität mindern. Die Studie des DIW und die Analyse der DAK zeigen, dass der Anstieg von Krankheitstagen auch auf psychische Erkrankungen zurückzuführen ist, deren Fehltage in den letzten Jahren deutlich zugenommen haben. Diese Erkenntnisse werfen wichtige Fragen auf, etwa warum viele Menschen sich ausgelaugt fühlen und welche Maßnahmen ergriffen werden können, um die Gesundheit der Beschäftigten zu schützen und zu fördern. Die Forderung nach einem "Ranklotzen" unter Missachtung der eigenen Gesundheit ist nicht nur veraltet, sondern kann auch kontraproduktiv sein. Die Pandemie hat gezeigt, wie wichtig es ist, achtsam mit der eigenen Gesundheit und der Gesundheit anderer umzugehen. Unternehmen und Politik sind gefordert, Rahmenbedingungen zu schaffen, die es Arbeitnehmern ermöglichen, sich bei Krankheit auszukurieren, ohne Angst vor finanziellen Einbußen oder Jobverlust haben zu müssen. Die Erkenntnis, dass ein gesunder Mitarbeiter produktiver ist und langfristig zum Erfolg des Unternehmens beiträgt, sollte in der heutigen Arbeitswelt eine Selbstverständlichkeit sein. Die Förderung der Gesundheit am Arbeitsplatz und eine Kultur, die es erlaubt, sich bei Bedarf krankzumelden, sind daher wichtige Bausteine für eine zukunftsfähige und humane Arbeitswelt. (Markus Sutera, Spiegel)

Die Kolumne, auf die Sutera sich bezieht, war tatsächlich völlig beknackt. Das Wehklagen über angebliche Verweichlichung ist und bleibt falsch, wenngleich dabei auch ein guter Teil normativer Setzung dabei ist: sich nicht vollständig zu ruinieren und Raubbau am eigenen Körper zu betreiben ist keine Schwäche, sondern ein Fortschritt. Präsentismus ist ohnehin eine der beknacktesten und nicht totzukriegenden Instinkte in den meisten Institutionen, besonders aber in der Wirtschaft: wer länger da ist, arbeite offensichtlich auch mehr. Das ist schon immer Quatsch, und man muss nur die Produktivität vergleichen: Deutsche arbeiten wesentlich weniger Stunden als Brit*innen oder Amerikaner*innen, und dennoch sind sie produktiver. Der Kult der Anwesenheit gehört auf den Müllhaufen, aber die Kontrollsucht der Entscheider*innen steht dem im Wege und ist kontraproduktiv.

4) Die Gewalt von Männlichkeiten

Die unlängst vorgestellte Missbrauchsstudie der Evangelischen Kirche (EKD) offenbart erschütternde Details und zeigt, dass das Problem der sexualisierten Gewalt in der evangelischen Kirche ähnlich gravierend ist wie in der katholischen. Trotz unterschiedlicher Kirchenstrukturen – die evangelische Kirche zeichnet sich durch demokratische Verfasstheit und flache Hierarchien aus – deutet das Ergebnis der Studie darauf hin, dass das Ausmaß des Missbrauchs in beiden Kirchen ähnlich ist. Dies wirft Fragen auf, insbesondere da die evangelische Kirche Frauen den Zugang zu geistlichen Ämtern ermöglicht und keine Zölibatspflicht besteht. Dennoch waren 99,6 Prozent der Beschuldigten männlich, was den Missbrauch als vorrangig männliches Phänomen kennzeichnet und somit als gesamtgesellschaftliches Problem herausstellt. Die Studie legt nahe, dass nicht die kirchlichen Machtstrukturen allein für den Missbrauch verantwortlich sind, sondern vielmehr das Sexualverhalten der Männer. Besonders in Situationen, in denen formales Amtsverständnis und informelle Privatheit verschwimmen, wird die Grenzziehung für Jugendliche schwierig. Die Kirche bietet zwar einen Raum für Anerkennung und informelle Nahbeziehungen, was aber auch zum Problem werden kann. Die Studie regt an, das komplexe Verhältnis von Männlichkeitsphantasien, charismatischer Pastoralmacht, informeller Vertrautheit und autoritären Machtstrukturen weiter zu erforschen. Sie könnte einen gesamtgesellschaftlichen Anstoß geben, um besser zu verstehen, wie mit männlicher Macht umgegangen wird und wie der Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexualisierter Gewalt verbessert werden kann. Dabei wird auch kritisiert, dass die Kirchen zwar bei der Aufarbeitung vorangegangen sind, aber eine umfassende historische Kontextualisierung und Verbesserung der Datenbasis für eine tiefgreifendere Analyse noch ausstehen. (Detlef Pollack, FAZ)

Ich finde es wichtig, dass die Kirchen nicht besonders hervorgehobene Pfuhle des Kindesmissbrauchs sind. Die These, dass sie nur besonders gut aufarbeiten würden, ist gerade kontraintuitiv genug, um plausibel zu sein. Es macht Sinn, dass es vor allem eine Frage von Gelegenheit ist: Missbrauch erfordert Machtstrukturen, die missbraucht werden können, und wenig überraschend finden sie sich vor allem im sozialen und edukativen Bereich. Ich habe schon früher immer wieder gesagt, dass es wenig überraschend ist, dass unter Lehrkräften mehr Pädophile und unter Feuerwehrleuten mehr Pyromanen zu finden sind: die Leute tendieren ja zu Umgebungen, in denen sie ihre jeweiligen Triebe ausleben können. Leute mit starker Initiative sind ja auch weniger im Öffentlichen Dienst unterwegs, während Leute mit philantropischer Neigung eher nicht die Vorstandsetagen bevölkern, und so weiter. Das bedauerliche an den Ergebnissen ist, dass es Männer als Geschlecht besonders hervorhebt. Das kann eigentlich wenig überraschen, ist es doch bei Sexualstraftaten generell so. Traurig ist es dennoch. Liegt das daran, dass Männer immer noch wesentlich in Positionen überrepräsentiert sind, in denen das Missbrauchspotenzial besteht? Das mag für die Kirchen (offensichtlich) noch angehen, aber zumindest im Bildungssektor trifft es offensichtlich nicht zu. Was also ist es, dass Männer dafür so prädestiniert?

5) Was auf dem Spiel steht – Über den Untergang des Kulturjournalismus

Die jüngste Einstellung des Musikmagazins Pitchfork und dessen Eingliederung in das Männermagazin GQ markiert einen weiteren Schritt im Niedergang des Kulturjournalismus. Diese Entwicklung spiegelt nicht nur eine ökonomische Umstrukturierung wider, sondern auch eine kulturelle Abwertung der kritischen Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur. Die Krise des Kulturjournalismus wird durch digitale Veränderungen und eine ideologische Verschiebung hin zu Produktivität und Nutzen verschärft, wodurch die kulturelle Bildung und der gesellschaftliche Diskurs unter Druck geraten. Trotz der Herausforderungen betont der Fall Pitchfork die Bedeutung des Kulturjournalismus als Ort für intellektuellen Austausch, kritische Reflexion und die Förderung neuer Talente. Die gegenwärtige Krise des Kulturjournalismus erfordert ein Umdenken bezüglich seiner Unterstützung und Finanzierung, um die Praxis des Nachdenkens über Kunst und Kultur als essentiellen Teil des öffentlichen Lebens zu bewahren. Der Verlust von Medien, die kulturellen Austausch und intellektuelle Auseinandersetzung ermöglichen, bedeutet den Verlust sozialer Infrastrukturen, die für eine reflektierte und lebendige Gesellschaft unverzichtbar sind. (Johannes Franzen, 54books)

Ich möchte aus Franzens lesenswertem Artikel vor allem den Punkt herausgreifen, dass das Schreiben von Rezensionen eine Kunst ist. Ich betitle meine eigenen Zusammenfassungen ja auch etwas großspurig als Rezensionen, aber ich bin auf dem Feld trotz mittlerweile weit über 20jähriger Erfahrung trotz allem ein völliger Amateur. Auch wenn ich die Werke meines Podcastkollegen Sean T. Collins lese, bin ich immer wieder beeindruckt über seine Schreibfähigkeiten. Das ist eine Fähigkeit, die es, anders als eine Sternebewertung bei Amazon, nicht kostenlos gibt und geben kann. Aber Schreibfähigkeiten scheinen generell einfach zu wenig wertgeschätzt werden. Das betrifft ja auch Kolumnen und andere Artikel. Es besteht zu wenig Wertschätzung dafür, und entsprechend lässt die Qualität (und Bezahlung) oft zu wünschen übrig. Aber das ist natürlich die Klage aller Kunstschaffenden seit mindestens Ovid.

Resterampe

a) Öffentliches Vertrauen im UK.

b) Die Radikalität, mit der die US-Justiz Whistleblower verfolgt, ist auch bemerkenswert.

c) Friedrich Merz ist einfach ungeeignet, in jeder Hinsicht, sowohl als Vorsitzender als auch als Kanzler. Das geht so gar nicht. Das wird nicht besser durch ein "Fact Checking".

d) Maaßen wird jetzt vom Verfassungsschutz überwacht. Dieser Gedanke dazu ist absolut auch meiner.

e) Gutes Interview zum neuen Wahlrecht.

f)  Diese Argumente für die Flüchtlingscard klingen überzeugend. Aber ich muss weiter recherchieren.

g) Why aren’t Democrats steamrolling Republicans?

h) Der Mann kann sein Ding schon echt gut.

i) Guter Podcast zum Thema Sitzenbleiben. Ich würde das sofort abschaffen. Völlig sinnlos, und mit einer Milliarde im Jahr auch absurd teuer.

j) Leider wahr.

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