Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.
Fundstücke
1) Das Elend an deutschen Schulen
Der Artikel beschreibt die dramatische Lage an deutschen Schulen, die vielerorts als „Flächenbrand“ wahrgenommen werde. Schulleiter und Lehrkräfte berichteten, dass immer mehr Kinder ohne ausreichende Deutschkenntnisse eingeschult würden. Frühkindliche Förderung fehle, verbindliche Sprachtests wie in Hamburg gebe es in vielen Ländern nicht. Lehrkräfte würden zunehmend zu Sozialarbeitern, weil elterliche Erziehungsaufgaben ausblieben. Gewaltvorfälle nähmen stark zu, allein 2024 seien über 35.000 Delikte registriert worden. Schulleiterinnen wie Barbara Mächtle aus Ludwigshafen lehnten es ab, Statistiken zu schönen, und forderten ehrliche Benennung der Probleme. Andere Stimmen betonten, dass „Bildung zur Illusion“ werde, wenn Kinder ohne Sprachkompetenz starteten. In Mannheim und Wiesbaden klagten Lehrkräfte über zu große Klassen, fehlende Fachkräfte und überforderte Quereinsteiger. Besonders hart treffe es Kinder aus bildungsfernen oder migrantischen Familien, deren Anteil an Brennpunktschulen oft bei über 90 Prozent liege. Es werde gewarnt: „Wenn Kinder in der Grundschule scheitern, scheitern sie oft für immer.“ Gefordert würden kleinere Klassen, verpflichtende Kita-Jahre und echte Sprachförderung. Insgesamt zeichne der Beitrag das Bild eines Systems, das an strukturellen Defiziten, wachsender Migration und gesellschaftlicher Überforderung zerbricht. (Wolfgang Büscher, Alexander Dinger, Christoph Ruf, WELT)
Ich muss ehrlich sagen, ich habe selbst keine Erfahrung mit solchen Zuständen, und ich bin gottlob froh darum. Diese Schulen brauchen Sozialarbeiter*innen, nicht Lehrkräfte, hat man gerne den Eindruck. Aber letztlich sind die Maßnahmen, die hier gefordert werden, nichts Neues. Kleinere Klassen? Braucht mehr Personal und mehr Räume. Verpflichtende Kita-Jahre? Scheitert an der CDU und an fehlendem Personal und Räumen. Echte Sprachförderung? Qualifiziertes und vorhandenes Personal. Alles "strukturelle Defizite", alright. Aber zur Wahrheit gehört halt, dass das alles seit zwei Jahrzehnten bekannt ist, mindestens. Und dass kaum was in die Richtung unternommen wird, weil es eben Geld kostet.
Demgegenüber scheint mir das "nicht Statistiken schönen" kaum ein relevanter Lösungsbeitrag zu sein. Ich habe keine Ahnung, wie weit verbreitet die beschriebenen Praktiken tatsächlich sind; ich bin weder Grundschullehrer noch arbeite ich an einer Brennpunktschule, und solche Aussagen werden gerne pointiert, um sich selbst als besonders tollen Hecht darzustellen. Ohne Empirie würde ich da mal vorsichtig sein und den Selbstaussagen nicht zu sehr vertrauen. Was ich aber behaupten kann, weil Studien noch und nöcher existieren, ist die Nutzlosigkeit des Sitzenbleibens als Maßnahme. Es ist super teuer und hat selten den intendierten Effekt. Aber auch hier bräuchte es eben Förderung - und da sind wir wieder bei den strukturellen Defiziten.
Aber: der Artikel ist insofern durchaus richtig, als dass in progressiven Kreisen die Neigung besteht, die genannten auf Migration zurückgehenden Probleme kleinzureden. Ich bin wie gesagt heilfroh, dass ich dem im Alltag nicht ausgesetzt bin und will mir nicht vorstellen, wie schwierig das sein kann. Ich kriege genug von Kolleg*innen auf Fortbildungen mit, was noch bei weitem nicht in die Albtraumzustände hineinreicht, die hier beschrieben werden (und, dankenswerterweise, sicherlich auch nicht repräsentativ sind, was die andere Seite der Diskursmedaille ist).
2) Zerschlagt endlich die Medizin-Kartelle
Die Drogeriekette dm will durch Telemedizin, digitale Beratung und Kooperationen mit Start-ups günstige medizinische Angebote bereitstellen, darunter Bluttests, Hautanalysen und perspektivisch auch Medikamente per Versand. Ärzte- und Apothekerverbände reagierten empört, da „Augengesundheit in fachärztliche Hand“ gehöre und Patienten Werte nicht selbst einschätzen könnten. Kritisiert werde jedoch, dass Ärzte und Apotheker vom Staat geschützte Unternehmer seien, die von einem „veränderungsfeindlichen Gesundheitskartellsystem“ profitierten. Fremdbesitz- und Mehrbesitzverbote sowie strenge Zulassungsregeln verhinderten Wettbewerb. Die Folge sei ein massiver Rückgang von Apotheken und Ärzten, besonders auf dem Land, wo bis 2035 rund 11.000 Hausärzte fehlen könnten. Befürwortet werde daher eine Deregulierung, um Modelle wie In-house-Apotheken oder Medikamentenversand zu ermöglichen. Ein Blick ins Ausland zeige, dass Apothekenketten in den USA oder Skandinavien mit Tests, Impfungen und digitaler Beratung die Versorgung verbesserten. Gesundheit gehöre deshalb „ins Regal, nicht in die Hände von Kartellen“. (Justus Enninga, WELT)
Noch so ein Thema, was seit ewig und drei Tagen bekannt ist. Aber der Schutz der Apotheken war sehr lange Zeit ein Leib- und Magenthema der FDP (die "Apothekerpartei", nannte man sie lange), bevor sie in den 2010er Jahren da einen programmatischen Schwenk hingelegt haben. Nach wie vor aber gibt es keine große Begeisterung, das anzugehen, und ein Blick auf Parteivorlieben zeigt deutlich, warum: SPD, Grüne und LINKE sind nie an vorderster Front, wenn es um die Einführung von mehr Marktwirtschaft geht, was vielleicht erklärt, warum eine Schicht, die so wenig wählt wie die freiberuflichen Apotheker*innen, trotzdem wenig vor ihnen zu befürchten hat. Und umgekehrt sind die Apotheken immer noch stark mit dem bürgerlichen Milieu verbunden. Aber das Apothekensterben wird, glaube ich, das seinige tun, um die politische Position zu erodieren. Wo nicht mehr in jedem Ort eine Apotheke ist, also die kommunale Verankerung wegfällt, werden auch die Widerstände gegen die Vermarktwirtschaftlichung wegfallen. Wo Ich kann schlecht als Apotheker*innenverband den Bürger*innen Angst vor Qualitätsverlusten machen, wenn die Qualität mangels Apotheke vor Ort nicht mehr existiert.
3) Der deutsche Wähler ist für harte Reformen – aber nicht zu seinen Lasten
Das Institut für Demoskopie Allensbach griff jüngst auf Roman Herzogs berühmte „Ruck-Rede“ von 1997 zurück und legte zentrale Forderungen – etwa längeres Arbeiten, weniger Staat und geringere Sozialleistungen – erneut der Bevölkerung vor, ohne die Herkunft der Zitate zu nennen. Das Ergebnis sei nahezu identisch mit damals: Viele hielten die Mahnungen für „dringend notwendig“. Auf den zweiten Blick jedoch zeige sich ein Widerspruch. Während eine Mehrheit die Einsicht teile, dass Reformen nötig seien, lehnten zugleich 63 Prozent es ab, selbst länger zu arbeiten oder weniger soziale Absicherung zu akzeptieren. Nur 18 Prozent seien dazu bereit, 75 Prozent bevorzugten ein „sicheres Leben in bescheidenem Wohlstand“ gegenüber einem chancenreichen, aber riskanteren Weg. Die Analyse deute auf ein Doppelwesen im deutschen Meinungsbild: rationales Verständnis für Reformbedarf einerseits, Beharren im Komfort andererseits. Politik könne sich daher nicht auf wechselnde Meinungen stützen, wohl aber auf die Einsicht, dass selbst die Bewahrer wüssten, dass Stillstand falsch sei. (Thomas Schmid, WELT)
Ich sage das immer wieder: die Leute sind stets dazu bereit, harte Reformen zu fordern, wenn sie andere betreffen. Da sind Thomas Schmid und seine Kolleg*innen von der Welt auch keine Ausnahme. Als der Boomer-Soli in die Diskussion kam, trat das eine Ladung von Meinungsartikeln los, warum diese auf gar keinen Fall belastet werden dürften, um nur ein Beispiel zu nennen. Gleiches gilt für höhere Steuern für Reiche, Vermögenssteuern, eine andere Versteuerung von Kapitalerträgen und was man sich an "harten Reformen" auf dem Feld alles vorstellen könnte. Die Härten betreffen immer die Leute, die keinen Aktienfonds ihr Eigen nennen. Und umgekehrt hab ich natürlich kein Problem damit, Aktienfondbesitzende besteuern zu wollen; ich hab kein einziges solches Papier. Aber wehe ihr geht an die Beamtenpensionen, die die Welt natürlich auch mit voller Breitseite angreift. Wir sind alle Heuchler*innen, was das angeht. Weckt mich, wenn die Leute wirklich bereit sind, "harte Reformen" für sich selbst zu akzeptieren und nicht Gründe zu finden, warum die, natürlich aus völlig objektiven Gründen, schlecht sind.
Der Leitartikel beschreibt, dass die Linkspartei ihr Antisemitismusproblem nicht in den Griff bekomme. Mehrere jüngste Vorfälle – Hamas-nahe Redner auf einem Sommerfest, ein antisemitischer Tweet aus der Linksjugend und ein Vorstandsmitglied, das eine Karte ohne Israel verbreitete – hätten gezeigt, dass „Grenzfälle in Serie“ auftreten, die andere demokratische Parteien so nicht zuließen. Zwar habe die Parteiführung um Ines Schwerdtner und Jan van Aken stets klare Distanzierungen ausgesprochen und auf den Hallenser Beschluss von 2024 verwiesen, der sowohl Hamas-Terror als auch israelische Kriegsverbrechen verurteilt. Doch die Umsetzung bleibe schwach, interne Streitigkeiten hielten an, und antisemitische Chiffren würden von Teilen der Basis weitergetragen. Problematisch sei vor allem die fehlende sprachliche Trennung zwischen Kritik an der israelischen Regierung und der pauschalen Abwertung jüdischer Menschen. Der Kommentar fordert die Parteiführung auf, eindeutiger zu werden: Symbole wie die Wassermelone seien unproblematisch, Parolen wie „From the river to the sea“ hingegen nicht. Eine Partei, die sich Antifaschismus auf die Fahnen schreibe, dürfe hier keinen Raum für Ambivalenz lassen. (Marc Röhlig, SPIEGEL)
Ich sag mal: die LINKE hat sich marginal verbessert, was das angeht (vor allem die Position der Parteispitze), aber das ist eine Verbesserung auf einer sehr relativen Skala. Die Partei wie die Linke generell haben definitiv ein Antisemitismusproblem, auch wenn das nicht ganz so krass sein mag, wie es ihnen das rechte Lager gerne vorwirft. Aber das ist eben Politik, und wenn der Schuh passt, muss man ihn sich aus anziehen. Diese Palästina-Romantik ist ein katastrophales Überleibsel, das mittlerweile bis in die 1960er Jahre zurückgeht und bemerkenswert resistent gegenüber allen Fakten einerseits und dem Untergang des Ostblocks, der das Ganze realpolitisch unterfüttert hatten, andererseits.
Adam Tooze analysiert den Versuch Donald Trumps, Fed-Gouverneurin Lisa Cook „aus wichtigem Grund“ zu entlassen, als Eskalation seines langjährigen Konflikts mit der US-Notenbank. Liberale Stimmen wie David Wessel oder Paul Krugman sähen darin einen Angriff auf „unsere Demokratie“, wobei Tooze betont, dass die Fed selbst eine „undemokratische Institution“ sei, in der Geschäftsinteressen direkten Einfluss hätten. Trumps Vorgehen werfe Fragen auf: Gehe es um Opportunismus, Kontrolle, Deregulierung oder ökonomische Stimuli vor den Midterms 2026? Während Märkte bislang erstaunlich gelassen reagierten, warnen Beobachter wie Robin Wigglesworth vor einer „finanzökonomischen Kalamität“. Tooze deutet an, dass Demokraten nie mit vergleichbarer Entschlossenheit wie MAGA-Akteure für ihre Agenda gekämpft hätten. Die Episode verdeutliche, dass Zentralbankunabhängigkeit zunehmend politisch infrage stehe und dass eine „demokratische Politik des Zentralbankwesens“ neu definiert werden müsse – jenseits defensiver Abwehrkämpfe für ein Brookings-geprägtes „Unsere Demokratie“. (Adam Tooze, Chartbook)
Dieser Konflikt innerhalb der Linken schwelt die ganze Zeit unter der Oberfläche. In Deutschland ist er (noch) nicht angekommen, aber selbst innerhalb des Kerns der zentristischen Linken wird mittlerweile diskutiert, ob man vielleicht etwas offensiver antreten sollte. In den USA führen die Progressiven die Diskussion längst entlang dieser Linien. Das ganze Drama um die Haltung zum Gazakrieg (siehe Fundstück 4) ist in den USA ja weniger ein Rechts-Links-Thema wie bei uns, weil MAGA ja selbst von Antisemiten durchsetzt ist, sondern vor allem ein Konfliktpunkt innerhalb der zentristischen und der aktivistischen Linken. Und dasselbe gilt für diese Frage des grundsätzlichen Angriffs auf Systeme: ist man eher für die Restauration bestehender good governance, quasi Obama 2.0, oder stellt man eher die Systemfrage? Da kommt das "heightening of the contradictions" im alten Marx'schen Sinn gleich wieder hoch, das (vermutlich wie stets fehlgeleitet) annimmt, aus der Zerstörung der Institutionen und Normen durch MAGA einen Vorteil ziehen zu können.
Resterampe
a) Interessanter Punkt zum fehlenden Datensammeln im medizinischen Sektor. (Twitter)
b) Dass diese Sichtweise immer noch so verbreitet ist... (Twitter)
c) Mythen zur Flüchtlingssituation. (Twitter)
d) Obama hat so Recht. (YouTube)
e) As always with this argument. (Twitter)
g) Problem. (Twitter) Auch so ein US-Import.
h) Diese Statistik ist so irre. (Twitter) Polarisierung und die Nutzlosigkeit einer Umfrage in einem Bild.
i) Und der Preis für den unpassendsten Vergleich geht an Wolfgang Michal. (Freitag)
j) Ganz ausgewogener Artikel aus dem beliebten "warum die AfD so stark ist"-Genre. (Augsburger Allgemeine)
k) lol (Twitter)
l) Zur Standortdebatte. (Twitter) Siehe auch Heise dazu.
n) Jamelle Bouie analysiert, wie viele Menschen in den USA Sklav*innen besaßen. (YouTube)
o) Darf sie das? (Welt) Klar darf sie das. Die relevante Frage ist: SOLLTE sie das?
p) Streit um Aufnahmetests: „Es gehen einfach zu viele Kinder aufs Gymnasium, die nicht gerne lernen” – eine Lehrerin berichtet (News4Teachers). Schwieriges, aber wichtiges Thema. Und sicher keines, für dass es eine Lösung gibt, die so simpel wie "Einführungstests" ist.
q) Who Wants to Work for ICE? They Do. (The Atlantic)
r) Slavery Was Bad and Must Be Remembered (Washington Monthly). Schlimm, dass man das sagen muss.
s) MAGA geht auf KI-generierte Sowjetästhetik. (Twitter) Diese Bewegung ist ästhetisch so weird.
Fertiggestellt am 31.08.2025
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