von Ruprecht Polenz
Die Silvesternacht bebt wegen der gewaltsamen Auseinandersetzungen noch nach. Sanitäter:innen, Feuerwehr und Polizist:innen waren mit Feuerwerks-Raketen beschossen und mit Böllern attackiert worden, in Hinterhalte gelockt und mit Flaschen und Steinen beworfen. Es hatte Straßenbarrikaden gegeben und brennende Autos.
Besonders heftig waren die Ausschreitungen in Berlin. Aber auch in Hagen, Essen, Gelsenkirchen, Duisburg und Bonn kam es zu massiver Gewalt auf den Straßen. Dagegen gab es „keine Tumultlagen in Paderborn, Münster, im Sauerland oder in Südwestfalen, dafür aber in oft schon einschlägig bekannten Vierteln, nicht nur von Städten im Ruhrgebiet“, berichtete die FAZ aus Sicherheitskreisen in NRW.
Während sie in ihrer Überschrift noch fragte: „Hängt die Gewalt mit gescheiterter Integration zusammen?“, war sich die Neue Zürcher Zeitung schon sicher.
„Silvester in Deutschland - Die Gewalt hat einen Migrationshintergrund“ überschrieb sie einen Kommentar und spiegelte damit eine politische Diskussion, die seit Neujahr in Deutschland geführt wird.
Die Diskussion wird kulturpolitisch kurzgeschlossen
Im Handumdrehen ist aus einer überfälligen Debatte über Gewalt und Staatsverachtung eine Migrationsdebatte geworden. Ganz so, als würden Rettungskräfte nicht auch beim Alltagseinsatz beleidigt und angegriffen. Als gäbe es keine Gewalt von Hooligans und keine sog. Hochrisiko-Spiele im Fussball. Als hätte es keine Angriffe gegen Journalist:innen oder Polizist:innen bei den Aufmärschen von Impfgegner:innen und Quer“denker:innen“ gegeben. Die regelmäßigen Ausschreitungen sog. Autonomer am 1. Mai werden ebenso ausgeblendet wie Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte durch Rechtsextremisten.
Die Diskussion wird kulturpolitisch kurzgeschlossen. Die sozialen Gründe für die gewalttätigen Ausschreitungen bleiben ausgeschlossen.
Statt die Silvesternacht zum Anlass zu nehmen, sich umfassend mit Gewaltprävention zu beschäftigen, fixieren wir uns auf eine Gruppe, stellen sie mehr oder weniger unter Generalverdacht - und wundern uns, warum viele Eingewanderte und Eingebürgerte sich in Deutschland nicht so richtig zu Hause fühlen.
Die Berliner CDU-Fraktion wollte es scheinbar ganz genau wissen, und fragte im Innenausschuß nach den Vornamen der Festgenommenen. Wehe, Du heißt Ali, Achmed oder Zafer. Dann bleibst Du „kulturfremd“. Wie das auf die Millionen von Menschen mit einer Einwanderungsgeschichte in Deutschland wirkt, kann man sich leicht vorstellen. Egal, ob ihr inzwischen einen deutschen Pass habt, oder nicht: im Zweifel gehört ihr schon wegen eurer Namen nicht dazu.
Christoph de Vries, Bundestagsabgeordneter und stellvertretender Landesvorsitzender der CDU Hamburg, twitterte:
„Wenn wir Krawalle in unseren Großstädten, Verachtung gegenüber dem Staat und Übergriffe gegen #Polizisten und #Feuerwehrleute wirklich bekämpfen wollen, müssen wir auch über die Rolle von Personen, Phänotypus: westasiatisch, dunklerer Hauttyp, sprechen. Um es korrekt zu sagen.“
https://twitter.com/vrieschristoph/status/1610029274614071296?s=61&t=JrokqfIebFNrt8b2KOterA
Warum ist es so schwierig, über die Ausschreitungen so zu sprechen, dass ohne falsche Rücksicht alles benannt wird, ohne gleichzeitig Ressentiments zu schüren?
Wenn typisieren, dann richtig
Man kann Merkmale angeben, die auf die allermeisten zutreffen, die in der Silvesternacht Straftaten begangen werden. Aber wenn man typisieren will, sollte man eben nicht mit der Einwanderungsgeschichte anfangen, so, als wäre Gewalt nicht auch ein Problem bei Einheimischen.
Was trifft auf die Straftäter der Silvesternacht zu?
1. Männer
2.jung
3. alkoholisiert
4. aus sozialen Brennpunkten
5. schwache Bildung
6. problematische Familien
7. prekäre Beschäftigung
8. schlechte Wohnsituation
9. Einwanderungsgeschichte.
„Dass Silvester so gewalttätig war, reiht sich ein in einen Anstieg der Gewalt in der gesamten Gesellschaft“, sagt Andreas Zick, Leiter des Instituts für Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld.
Mehr oder weniger verklausulierte pauschale Schuldzuweisungen an Menschen mit Migrationshintergrund „beleidigten Millionen von Menschen, die sich als Einwanderer verstehen.“ Außerdem werde ausgeblendet, „wie viele Menschen mit Migrationsgeschichte selbst in den Rettungsdienst- und Polizeidienststellen arbeiten und ebenfalls Opfer sind.“ Es gibt keine Kultur, in der es dazu gehört, Feuerwehr oder Rettungskräfte anzugreifen.
Wir brauchen einen starken Staat…
Wir brauchen einen starken Staat. Strafbare Gewalt bekämpft und ächtet man nicht dadurch, dass man nach tatsächlichen oder vermeintlichen Gruppenzugehörigkeiten oder den Motiven der Täter:innen differenziert, sondern indem man sie festnimmt, vor Gericht stellt und die Gesetze anwendet.
Die Gesetze sind völlig ausreichend, um gegen solche Krawalle wie in der Silvesternacht wirksam vorzugehen. Man muss sie nur anwenden. Es hapert beim Vollzug. Dafür müssen Polizei und Justiz entsprechend ausgestattet werden. Zuständig dafür sind die Bundesländer.
https://taz.de/Rechtslage-bei-Boellerattacken/!5903671/
… und eine Präventions-Strategie für soziale Brennpunkte
Gleichzeitig brauchen wir eine umfassende Strategie für soziale Brennpunkte, um der Gewalt vorbeugend entgegenzuwirken: aufsuchende Sozialarbeit, unterstützende Jugendhilfe, Förderunterricht, Sportangebote. Eine Stadtplanung, die für soziale Durchmischung sorgt und Schulen, die nicht nur Kenntnisse, sondern auch Haltungen und Einstellungen vermitteln, gehören auch dazu.
Der Kommentar erschien zuerst in Rums, Neuer Lokaljournalismus für Münster und wurde aktualisiert. Statt einer Unterstützung für mich bitte ich um Spenden für Mission Lifeline
Dir gefällt, was Ruprecht Polenz schreibt?
Dann unterstütze Ruprecht Polenz jetzt direkt: