Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.

Fundstücke

1) Besserverdienende sollen ab 2026 höhere Sozialbeiträge zahlen

Ab 2026 sollen Gutverdienende in Deutschland spürbar höhere Sozialbeiträge zahlen. Laut einem Entwurf des Bundesarbeitsministeriums steigt die Beitragsbemessungsgrenze in der Rentenversicherung von 8.050 auf 8.450 Euro monatlich, in der gesetzlichen Krankenversicherung von 5.512,50 auf 5.812,50 Euro. Zusätzlich wird die Versicherungspflichtgrenze für die Krankenversicherung von 6.150 auf 6.450 Euro angehoben, wodurch weniger Menschen in die private Versicherung wechseln können. Während höhere Rentenbeiträge später auch höhere Ansprüche begründen, gilt dies nicht für Kranken- und Pflegeversicherung, sodass dort lediglich die Belastung steigt. Auch das Durchschnittsentgelt, das für die Berechnung von Rentenpunkten maßgeblich ist, soll 2026 auf 51.944 Euro steigen. Diese Anpassungen beruhen auf einer festen Formel, die die Lohnentwicklung widerspiegelt, zuletzt über fünf Prozent. Kritiker befürchten steigende Belastungen für Fachkräfte und sinkende Attraktivität des Standorts, Befürworter verweisen auf die Stabilisierung der Sozialkassen. (Tina Groll, Die Zeit)

Diese Mini-Debatte vergangene Woche ist mal wieder ein 1A-Beispiel dafür, wie entweder blankes Unwissen herrscht oder Leute trotz besseren Wissens für eine Kampagne beziehungsweise für die Klicks bewusst falschen Kram schreiben. Die Behauptung, dass Bärbel Bas die Beitragsbemessungsgrenze aktiv angehoben hätte, ist schlicht falsch - die steigt automatisch mit den Löhnen. Das kann man ja kritisieren, aber zu behaupten, dass hier "der Staat" mal wieder irgendwie ganz böse was abgreifen würde, ist einfach falsch. Ich kann mich auch nicht daran erinnern, dass die Erhöhung der Schwellenwerte für die Einkommenssteuer - die ja auch semi-automatisch abläuft - ebenfalls auf aktive Entscheidungen zurückgeführt werden würde. Mich stört das einerseits, weil es so dumm ist, andererseits aber auch, weil es nur Ressentiments stärkt und diese generelle "alles Scheiße"-Stimmung befördert, die so unglaublich kontraproduktiv ist.

2) Empty oaths

Im Kommentar wird Senator Bill Cassidy scharf kritisiert, weil er sich bei Anhörungen zu Robert F. Kennedy Jr. als Arzt statt als Politiker präsentiert habe und durch sein Abstimmungsverhalten gefährliche Entwicklungen ermöglicht habe. Steve Schmidt betont, dass Cassidy „den Tod gewählt“ habe, indem er Entscheidungen traf, die Kinder, Senioren und die öffentliche Gesundheit gefährdeten. Auch Mitch McConnell wird angegriffen: Er sei „ein Feigling“ und „ein Schurke in Amerikas Geschichte“, der den US-Senat zerstört, das Vertrauen in Institutionen geschwächt und Trump den Weg bereitet habe. McConnells eigener Versuch, seine Hinterlassenschaft zu verklären, werde ins Gegenteil verkehrt, da er als Hauptverantwortlicher für den moralischen und institutionellen Niedergang gelten werde. RFK Jr. schließlich wird als „verdorbener Sohn“ beschrieben, der im Gegensatz zu seinem Vater nicht für Visionen, sondern für „Wahnsinn“ stehe. Schmidt warnt, dass diese „kleinen Männer und Frauen“ der kommenden historischen Verurteilung nicht entkommen könnten. (Steve Schmidt, The Warning)

Neben der Schaffung einer eigenen paramilitärischen Truppe und der einhergehenden Erosion jeglicher rechtsstaatlicher Regeln ist die Schleifung des Gesundheitssystems durch Kennedy eine der krassesten Entwicklungen, die gerade im Land of the Free and the Brave ablaufen. Das sind tatsächlich Entscheidungen, die Menschenleben kosten und Existenzen völlig vernichten. Und das alles aus schierer Ideologie und abgrundtiefer Dummheit. Schmidts Konzentration auf McConnell und Cassidy ist auch eine gerechtfertigte. Diese Leute wissen es besser. Sie haben im vollen Bewusstsein dessen, was sie tun, ihre Stimmen für diese Monster abgegeben und es ermöglicht. Ganz besonders McConnell ist der Hauptverantwortliche für die Situation, in der sich die USA gerade befinden. Möge er in der Hölle schmoren.

3) Das verlorene Jahrzehnt

In dem Essay wird betont, dass die Krise Deutschlands weniger mit Migration, sondern vor allem mit jahrelanger Austeritätspolitik und mangelnden Investitionen in soziale und technische Infrastruktur zusammenhänge. Der Ökonom Marcel Fratzscher habe schon früh auf ein „riesiges Investitionsdefizit“ hingewiesen, dessen Folgen sich nun in bröckelnden Schulen, schwacher Verwaltung und Innovationsschwäche zeigten. Diese Politik habe den Boden für den Aufstieg der AfD bereitet, die von einem Diskurs profitiere, der sich obsessiv um Migration und Angst drehe, während strukturelle Reformen unterblieben seien. Die sogenannte „Flüchtlingskrise“ von 2015 sei tatsächlich eine Staatskrise gewesen, die die Dysfunktionalität des Systems sichtbar gemacht habe, doch anstatt Veränderungen einzuleiten, habe sich Deutschland in Debatten über Nebenschauplätze verfangen. Austerität werde als „Ideologie“ beschrieben, die Rationalität und Zukunftsfähigkeit blockiere. Die Medien hätten diese Fehlentwicklung verstärkt, indem sie Konflikte und Symbolthemen über materielle Probleme stellten und zugleich ihre eigene Rolle im Diskurs verengten. Migration und Klimawandel seien Chancen für eine Modernisierung, doch durch Selbstzufriedenheit, Provinzialisierung und geistige Trägheit verliere das Land an Gestaltungskraft. Die verpasste Gelegenheit eines echten Neubeginns nach 2015 habe Deutschland in ein „verlorenes Jahrzehnt“ geführt, dessen Folgen sich nun in politischer Radikalisierung und systemischer Lähmung zeigten. (Georg Diez, Überleben im 21. Jahrhundert)

Mein Gefühl ist zunehmend, dass beide Seiten nur einen Teil der Puzzlestücke wahrnehmen wollen. Ich halte weder dieses Abstreiten der Rolle und Bedeutung des Migrationsthemas für zielführend noch auf der anderen Seite seine übermäßige Herausstellung. Auch ist "Austerität" der falsche Begriff, um zu beschreiben, was da abgelaufen ist. Die mangelnden Investitionen sind das Hauptproblem, aber es ist nicht so, als wären die Staatsausgaben signifikant gesunken. Mir fehlt außerdem in diesen Analysen - auch hier von beiden Seiten - die Rolle des privaten Sektors, der sich ja auch durch ein katastrophales Versagen auszeichnet. Meine aktuelle Arbeitshypothese ist, dass wir es mit einer grundsätzlichen Krise des  Vertrauens einerseits und der Handlungsfähigkeit andererseits zu tun haben. Anstatt das Schlagwort "Migration" als wichtigsten Punkt zu gebrauchen, trifft es glaube ich der Schlachtruf der Brexiteers besser: "taking back control".

4) Lasst Lehrer Karriere machen!

Im Gastbeitrag wird argumentiert, dass der Lehrerberuf in Deutschland unattraktiv bleibe, weil es kaum echte Aufstiegschancen gebe. Zwar würden Lehrkräftemangel und Studienabbrüche oft mit Überlastung und enttäuschten Erwartungen erklärt, doch spiele auch das Fehlen von Entwicklungsperspektiven eine zentrale Rolle. Fast jede zweite Lehrkraft sehe laut Umfragen kaum Zukunftschancen; wer keine Schulleitung oder Tätigkeit in der Bildungsverwaltung anstrebe, habe praktisch keine Möglichkeiten, sich beruflich weiterzuentwickeln. Dadurch entstehe ein System, das nicht auf lebenslanges Lernen und Wachstum ausgerichtet sei und Engagement wie Wirksamkeitsüberzeugung der Lehrkräfte untergrabe. Andere Länder zeigten hingegen, wie es besser gehe: In den Niederlanden würden Weiterbildungen gezielt gefördert, in Schweden zusätzliche Karrierestufen im Klassenzimmer geschaffen, in Singapur pädagogische Aufstiege ermöglicht und in Finnland Lehrkräfte eng in Forschung und Schulentwicklung eingebunden. Damit werde Verantwortung honoriert und zugleich das Bildungssystem modernisiert. Für Deutschland fordert der Autor bundesweit abgestimmte Laufbahnmodelle, vielfältige Karrierewege mit Anerkennung und Bezahlung, sowie mehr Durchlässigkeit zwischen Rollen und Institutionen. Nur wenn Lehrkräfte echte Entwicklungsperspektiven hätten, könnten sie dauerhaft motiviert bleiben und Bildung zukunftsfähig gestalten. (Marcus Pietsch, Die Zeit)

Soweit natürlich alles richtig, aber das Problem ist, dass alle Reformen in die Richtung a) mehr Personal und b) mehr Geld erfordern würden. Denn wenn ich mehr in Forschung und Schulentwicklung arbeiten soll (was absolut gut wäre), dann kann ich weniger unterrichten. Schulen haben ja insgesamt unglaublich schmale Verwaltungs- und Führungsapparate. Wir reden da von einem ziemlichen Systemwechsel. Der wäre, da bin ich total bei Pietsch, mehr als sinnvoll, aber die ganzen Strukturen und die ganze Kultur arbeiten dem komplett konträr. Das ist also ein Themenfeld, das man ganzheitlich angehen müsste und auf dem es praktisch unmöglich ist, nur an einer Stellschraube zu drehen, was das so vertrackt macht.

5) Wann reden wir über die Globalisierung?

Die Autorin argumentiere, der Erfolg rechtspopulistischer Parteien lasse sich weniger mit Protest oder Einzelmissständen erklären als mit der Attraktivität eines Kernversprechens: den Nationalstaat in einer globalisierten Welt wieder zu stärken. AfD-Wähler identifizierten sich nach Studien stark mit der Partei und blieben ihr treu; es handle sich daher nicht bloß um „Dagegen“-Stimmen. Als analytischen Rahmen führe sie Dani Rodriks Globalisierungs-Trilemma an: Je mehr Kompetenzen an supranationale Institutionen abgegeben würden, desto stärker schwinde nationale demokratische Steuerungsfähigkeit. Spätestens Finanzkrise, Migrationskrise und Pandemie hätten gezeigt, wie begrenzte nationale Handlungsspielräume das Vertrauen untergrüben. Rechtspopulisten böten darauf die Bereitschaft zum Bruch mit Euro, EU, Nato oder Völkerrecht an und inszenierten „harte Typen“ als Vollstrecker dieser Rückabwicklung. Klassische Gegenstrategien – teils Positionen übernehmen, „nur“ Probleme lösen oder demokrietheoretisch moralisieren – griffen zu kurz, solange die Souveränitätsfrage unbeantwortet bleibe. Nötig sei eine nüchterne Debatte, wo Globalisierung Risiken schaffe und wo gezielte Re-Nationalisierung sinnvoll sei (Grenz-, Lieferketten-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik), ohne in Abkoppelung zu verfallen. Der anhaltende Zuspruch für AfD und Trump werde weniger als Laune, sondern als Stärke dieser Idee gedeutet; wer sie eindämmen wolle, müsse überzeugend zeigen, wie demokratische Handlungsfähigkeit im Nationalstaat unter globalen Bedingungen gesichert werden könne. (Anna Hähnig, ZEIT)

Wo wir es in Fundstück 3) von Puzzlestücken hatten, das hier ist in meinen Augen ein zentrales. Denn auch das gehört zu der angesprochenen "Kontrolle". Dieses Gefühl, dass man die Kontrolle über das eigene Leben und die eigene Nation verloren hat, ist ein durchgehendes, das sich auch leichten Zuordnungen der politischen Gesäßgeografie entzieht. Und dazu gehört eben auch Migration. Es spielt dafür auch keine große Rolle, ob der Kontrollverlust real ist oder nicht; er wird gefühlt, und dadurch wird er zumindest politisch real. Gleiches gilt für diesen Anti-Globalisierungs-, Anti-Freihandelskurs. Das mag wirtschaftspolitisch ein Irrweg sein, aber es ist politisch ähnlich unbeliebt wie Migration, nur reden wir viel weniger drüber. Oder die Lebenshaltungskostenkrise. Oder die Kriminalität. Das ist ein ganzer Komplex, und es hilft gar nichts zu sagen "hey, die Zahlen geben das nicht her" oder "hey, das ist aber nur gefühlt" oder "hey, da kann man nichts machen" oder was auch immer.

Resterampe

a) Wehrpflicht: Frauen an die Waffen, Männer in Elternzeit, das wäre gerecht (Spiegel). Zur Pflichtdienstdebatte im letzten Vermischten.

b) Superinteressantes Video zu den Personalkosten von Kriegsführung am Beispiel Russlands in der Ukraine. (Youtube)

c) Die SPD nutzt Merz‘ respektvollen Stil fast schamlos aus (Welt). Beyond parody.

d) Wenn die Wahrheit verloren geht (beimwort).

e) Erinnert sich noch wer an dieses linke Cancel-Culture-Phänomen, dem eine Kultur der Meinungsfreiheit entgegengesetzt werden musste? (The Bulwark) Irgendwelche Ausladungen durch linke Studierendengruppen waren riesiges Thema bei Springers. Das hier nicht.

f) Für die SPD fängt "reich" bei 68k im Monat an. (Twitter) Wäre auch das geklärt.

g) Diese Geschichten aus dem Dritten Reich und der unterbliebenen Sühne sind und bleiben schrecklich. (Twitter)

h) Steven Pinker, oh Mann... (Twitter)

i) Zu Harris und Biden. (Washington Monthly)


Fertiggestellt am 12.09.2025

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