Ich bin seit vielen Jahren in eigener Kassenpraxis als Kinder- und Jugendpsychologe niedergelassen. Immer wieder werden mir Patient:innen explizit wegen Mobbings vorgestellt, weil sie infolge der Übergriffe unter sozialen Ängsten, Schul-Absentismus oder psychosomatischen Beschwerden leiden. Bei anderen Kindern und Jugendlichen, die Hilfe etwa wegen Zwängen, Depressionen und selbstverletzendem Verhalten aufsuchen, zeigte sich im Zuge meiner Anamnese, dass sie in der Vergangenheit Opfer verbaler und physischer Gewalt in der Schule geworden sind. Um das Ausmaß des Leids zu dokumentieren, möchte ich einige anonymisierte Beispiele (etwaige Namen und Altersangaben sind geändert) aus meiner langjährigen Praxis vorstellen. Im Anschluss werde ich Lösungen mit dem Ziel des Opferschutzes formulieren. Es folgen zunächst die Fallschilderungen:

·         „Geh Dich doch aufhängen!“ bekam ein 16jähriges Mädchen von ihren Mitschüler:innen zu hören, nachdem in der Klasse bekannt wurde, dass sie unter Depressionen litt. Ihr Leiden verschlimmerte sich daraufhin und sie begann, sich selbst zu verletzen.

·         Ein 11jähriger Junge wurde mit Drohbriefen („Wir stechen Dich ab!“) dazu erpresst, 40,- € in einem Versteck zu deponieren und reagierte mit starken Kopfschmerzen und Schulverweigerung. Seinen Eltern mochte er sich aus Angst vor den Täter:innen nicht anvertrauen. Erst bei seiner Kinderärztin brach er sein Schweigen.

·         „Ich wette, dass Hanna bald wieder in die Klapse geht. Wer hält dagegen?“ Hanna hatte eine schwere Angststörung, war in stationärer Behandlung gewesen und saß im vollen Klassenraum, als ihr Sitznachbar sich wie oben beschrieben äußerte. Hanna war nach diesem Vorfall für ein halbes Jahr kein Schulbesuch möglich.

·         Ein 18jähriger Gymnasiast, der sich zu seiner Homosexualität bekannt hatte, wurde in seiner Schule immer wieder als „kleine Schw***tel“ oder „T***e“ beschimpft und entwickelte eine ausgeprägte Depression.

·         Bei einer kurdischen Jugendlichen führten rassistische und antimuslimische Beleidigungen zu Kreislaufproblemen und sozialem Rückzug.

·         Ein 9jähriger Junge wurde auf dem Schulweg über Monate verprügelt und durch gegen seine übergewichtige Mutter gerichtete Beleidigungen gedemütigt. Er wurde mir wegen akuter suizidaler Äußerungen vorgestellt.

·         Eine 15jährige Jugendliche wurde jahrelang durch Bodyshaming diffamiert und entwickelte eine massive Essstörung.

·         Ein Fünftklässler hatte es versäumt, seine Mathematik-Hausaufgaben zu erledigen. Sein Lehrer, der auch Sport unterrichtete, verhängte als Strafe einen 1500-Meter-Lauf für die gesamteKlasse. Der Schüler litt infolge dieses Erlebnisses jahrelang an schlimmsten sozialen Ängsten.

·         „Max, Deine Dummheit ist wirklich legendär!“ musste sich ein 14jähriger nach einem verpatzten Physiktest von seiner Lehrerin anhören - im Beisein aller Mitschüler. Max bekam in der darauffolgenden Unterrichtspause die erste Panikattacke seines Lebens.

Was unternahmen die Schulen? Die mir berichteten Reaktionen der Lehrkräfte und Schulleitungen auf das Mobbing reichten von vorbildlichem Engagement für die Opfer über Gleichgültigkeit („Das müsst ihr unter euch regeln!“) bis hin zu Faktenignoranz („An dieser Schule gibt es kein Mobbing!“) und einem gezielten Decken der Täter:innen.

Was ist zu tun? Ich komme nunmehr zu den Lösungen, die ich bewusst als Forderungen formuliere.

1. Der Schutz der Opfer muss oberste Priorität haben. Es darf keinerlei Toleranz für Mobbing geben. Übergriffe müssen sofort beendet werden. Dies entspricht den Grundsätzen der Traumatherapie, die nur dann sinnvoll durchführbar ist, wenn die Opfer keinerlei Gewalt mehr ausgesetzt sind.

2. Den Täter:innen muss konsequent disziplinarisch und/oder strafrechtlich begegnet werden. Sie müssen ggf. die Schule verlassen, nicht die Opfer. Diese Prinzipien müssen auch für mobbende Lehrkräfte gelten.

3.  Es muss eine Offenlegung der Übergriffe erfolgen. Eine Vertuschung oder ein Verschweigen von Tat und Täter:innen schadet den Opfern in ähnlichem Maße wie die eigentliche Tat.

4. Einen Täter:innen-Opfer-Ausgleich kann es nur geben, wenn die Opfer dies ausdrücklich wünschen.

5. Ausflüchten oder Beschwichtigungen der Täter:innen muss mit einer klaren Haltung begegnet werden, die da lautet: Deine Absicht ist unerheblich. Was zählt, ist die Wirkung Deines Verhaltens. Und diese Wirkung ist schädlich und verletzend.

6. Bereits ab dem Kindergartenalter sind Präventionsprogramme einzusetzen. In der Schule ist ein Fach „Menschenwürde und Respekt“ einzuführen.

7. Der adäquate Umgang mit Mobbing muss integraler Bestandteil der Lehrer:innen-Ausbildung werden.

Mein Wunsch für die Zukunft, der auch von allen gemobbten Patient:innen geteilt wird, lautet: Lasst die Schulen zu einem wirklich sicheren Ort werden, denn dann werden Kinder und Jugendliche dort eine gesunde Basis für ein glückliches Leben entwickeln können.

Ergänzend ein Link zu einem Artikel über die mobbingbezogenen Teil-Ergebnisse der letzten PISA-Studie.

http://www.sueddeutsche.de/bildung/pisa-studie-in-jeder-zweiten-klasse-wird-ein-kind-gequaelt-1.3470907!amp