Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.

Fundstücke

1) Moral Ambition — Rutger Bregman on a different kind of success for smart workers

In seinem neuen Buch Moral Ambition fordert Rutger Bregman eine radikale Neubewertung beruflichen Erfolgs. Statt Karrieren in lukrativen, aber sinnentleerten Branchen wie Beratung oder Finanzwesen zu verfolgen, ruft er dazu auf, sich den großen Herausforderungen unserer Zeit zu widmen – etwa Klimakrise, Ungleichheit oder Pandemien. Moralische Ambition bedeute, die eigene Arbeitskraft in den Dienst einer besseren Welt zu stellen. Bregman argumentiert, dass kleine Gruppen engagierter Idealisten historischen Wandel herbeiführen können, wie etwa die Abolitionisten im 19. Jahrhundert oder moderne Aktivisten wie Rob Mather, Gründer der Against Malaria Foundation. Dabei wirbt Bregman für pragmatische Bündnisse und warnt vor einer rein „reinen“ Aktivismus-Logik ohne Wirkung: „100 Prozent rein, 0 Prozent effektiv.“ Seine Erzählweise bleibt optimistisch, inspiriert durch reale Vorbilder und zeigt, dass engagiertes Handeln nicht nur notwendig, sondern auch erfüllend sei. Serendipität, so legt er nahe, könne der erste Schritt zu einer lebensverändernden Wirkung sein. (Isabel Berweck, Financial Times)

Ich habe das Buch noch nicht gelesen, aber ich stimme Bregman zu 100% darin zu, dass Effektivität eine wichtige und von Idealist*innen permanent übersehene oder gar geringgeschätzte Qualität ist. Man kann nur etwas erreichen, wenn man etwas erreicht. Diese Tautologie wird aber immer wieder durch Beispiele aus der Praxis belegt. "Reinheit" ist ohnehin so überschätzt, aber gerade unter idealistischen Personen viel zu sehr verbreitet, was ihre Effektivität gegenüber den Zuständen, die sie überwinden wollen, deutlich reduziert. Inwiefern es möglich ist, durch Aufrufe Expert*innen dazu zu bringen, auf eine lukrative Karriere im Privatsektor zu verzichten und ihre Fähigkeiten in den Dienst der Allgemeinheit zu stellen, steht natürlich auf einem anderen Blatt. - Eine weitere Rezension hat der Guardian.

2) Zur Abschreckung hergezeigt und vorgeführt

In seinem Essay beschreibt Jonas Schaible eindrücklich, wie das Lager als politische Praxis in die Weltpolitik zurückkehrt. Anhand eines offiziellen Videos aus El Salvador, in dem inhaftierte, aus den USA deportierte Männer als Abschreckung inszeniert werden, argumentiert er, dass diese Form der öffentlichen Grausamkeit keine Begleiterscheinung, sondern „das Programm“ sei. Lager, so schreibt er, seien Orte, an denen Menschen nicht als Individuen, sondern als Kollektiv festgehalten werden – nicht für das, was sie getan haben, sondern für das, was sie (vermeintlich) sind. Schaible zieht Parallelen zu anderen globalen Entwicklungen: den Lagern in Xinjiang, der US-Grenzpolitik oder Europas Flüchtlingspolitik. Die zunehmende Willkür, etwa in der Festnahme einer türkischen Doktorandin, illustriere die Aushöhlung rechtsstaatlicher Prinzipien. Ein Zitat des Historikers Timothy Snyder bringt das Dilemma auf den Punkt: „Ohne faires Verfahren hast du keine Chance, das Gegenteil zu beweisen.“ Der Text ist ein eindringlicher Appell, „das Schlimmste für möglich zu halten“ – nicht aus Pessimismus, sondern aus politischer Wachsamkeit. (Jonas Schaible, beimwort)

Die Rückkehr des Lagers ist für mich vor allem deswegen so erschreckend, weil sie so geräuschlos vor sich geht. Wenn es "die Richtigen" erwischt, sind auch unsere westlichen Gesellschaften nur zu sehr bereit, selbst katastrophale Verhältnisse in Lagern zu akzeptieren. Ob in Moria oder in den ICE-Lagern in den USA, überall gibt es diese Dinger, und es interessiert praktisch niemanden. Man läuft auch mit der Warnung gegen Wände, dass diese Lager die Eigenheit haben, Grenzen zu beschädigen und gewissermaßen in die eigentliche Zivilgesellschaft zu "bluten". Wann auch immer im Kampf gegen äußere Elemente Grund- und Menschenrechte, internationale Abkommen und dergleichen ignoriert werden, weil es ja nur gegen Gemeinschaftsfremde geht, wird die Gewöhnung daran irgendwann auf die eigene Bevölkerung zurückschlagen. Ob das wie derzeit in den USA dadurch passiert, dass Menschen einfach aus der Gemeinschaft herausdefiniert werden oder dadurch, dass die Methoden einfach zu attraktiv sind, um nicht auch im Inland benutzt zu werden, ist dabei egal. Es ist eine abschüssige, schlüpfrige Bahn, auf der ein demokratischer Rechtsstaat immer irgendwann ausrutschen wird, es ist nur eine Frage der Zeit.

3) Texte anderer Leute?

Der Artikel beleuchtet, dass Wolfram Weimer, designierter Kulturstaatsminister, in mehreren seiner Bücher Textstellen verwendet hat, ohne diese als Zitate zu kennzeichnen. Besonders betroffen sind Das konservative Manifest und Sehnsucht nach Gott, die laut Analyse der ZEIT in weiten Teilen identisch sind – teilweise lediglich durch Ersetzung einzelner Begriffe wie „religiös“ und „konservativ“. Zudem wurden Passagen von prominenten Autoren wie Joseph Ratzinger und Wolfgang Huber übernommen, ohne ordnungsgemäße Quellenangabe. Weimer räumt in einer Stellungnahme ein, dass es sich um „essayistische Texturen mit sehr freien Zitationen“ handele und keine wissenschaftlichen Arbeiten. Dennoch bleibt fraglich, ob dieses Vorgehen dem Anspruch an intellektuelle Redlichkeit eines Kulturpolitikers gerecht wird. Während frühere Fälle – etwa bei Annalena Baerbock – teils scharf verurteilt wurden, scheine es hier bislang keine vergleichbare öffentliche Reaktion zu geben. Kritisiert wird nicht nur die fehlende Kennzeichnung, sondern auch der ideologische Gehalt einiger Aussagen, die stark polarisieren. Der Fall wirft grundsätzliche Fragen auf zur Rolle von Zitierstandards, zur politischen Doppelmoral und zur Verantwortung von Kulturpolitik in einer aufgeheizten Debatte um Werte und Identität. (Florentin Schuhmacher, ZEIT)

So langsam ist es nur noch albern. Acht Stellen mit "unsauberen" Übernahmen in einem effektiv essayistischen Text, der nur dazu geschrieben wurde, dass der Autor ein bisschen intellektuell-konservative Meriten aufhübschen kann. Quasi die Frage, ob man nun zu Recht "Völkerrechtlerin" in die Vita schreiben kann oder nicht. Ich stimme Weimer völlig zu, dass das Ding keinen wissenschaftlichen Anspruch hat und mehr eine "Textur" ist. Dasselbe gilt auch für andere solche Ergüsse, auch wenn sie von Baerbock kommen. Das sind programmatische Schriften, die legen eine Weltsicht dar. Böse Zungen würden "Ideologie" sagen. Sie helfen, einzuschätzen, woher diese Leute kommen und wie sie Welt sehen. Zudem sollen sie der eigenen Basis den Standpunkt kommunizieren. Das alles erfüllt Weimers Schrift. Wenn vorher behauptet worden ist, dass das anders wäre und Weimer ein ernsthafter Intellektueller wäre, in dem Sinne, dass er irgendwelche tiefgreifenden neuen Sachen produziert, dann wäre das was anderes. Aber meines Wissens nach hat niemand diese Behauptung aufgestellt, und diese Obsession mit dem Plagiate jagen ist einfach nur noch albern und saugt Sauerstoff aus dem Raum, wo man sich mit ernsthaften Fragen beschäftigen könnte. Zum Beispiel, was Weimer als Kulturstaatsminister tun würde und welche Macht er tatsächlich hat. Oder ob Baerbock eine geeignete Kanzlerin gewesen wäre. Stattdessen kann man natürlich über "Texturen" diskutieren oder Lebensläufe.

4) Australia re-elects Anthony Albanese as Labor rides anti-Trump wave to seal crushing win

Australiens Premierminister Anthony Albanese hat bei der Parlamentswahl 2025 eine deutliche Wiederwahl errungen. Seine Labor-Partei konnte trotz anfänglich schwacher Umfragewerte eine klare Mehrheit erzielen, während Oppositionsführer Peter Dutton nicht nur die Wahl verlor, sondern auch seinen eigenen Sitz. Die Wahlkampagne der Konservativen wurde als desaströs bewertet und konnte sich nicht von Trump-naher Rhetorik distanzieren, was durch US-Zölle auf australische Exporte weiter verschärft wurde. Albanese präsentierte sich als verlässlicher Krisenmanager in unsicheren Zeiten und betonte australische Werte wie „Fairness, Aspiration und Chancengleichheit“. Er hob hervor, dass Australien „keine Vorbilder im Ausland“ brauche, sondern seine Stärke aus eigenen Traditionen schöpfe. Dutton gestand die Niederlage ein und übernahm die volle Verantwortung. Beobachter sehen in der Niederlage der Konservativen Parallelen zur Wahl in Kanada, wo sich ein ähnlicher Trend zeigte. Die Wahl wurde von einem Anstieg unabhängiger Kandidat*innen geprägt, während die Grünen Rückschläge hinnehmen mussten. Die endgültige Sitzverteilung steht noch aus. (Sarah Besford Canales, The Guardian)

Mir scheint, eine nicht unberechtigte Hypothese dieser Tage ist, dass die Politik global immer interdependenter wird. War 2024/25 eine Saison der Abwahlen bestehender Regierungen, gleich welcher ideologischen Färbung, scheint es nun einen globalen Anti-Trump-Backlash zu geben. Wenn sich das bewahrheitet, wird Politik aus einer ganz anderen Richtung ihrer Gestaltungsspielräume beraubt. Welche Bedeutung haben Wahlkämpfe und politische Strategien schließlich, wenn globale Trends so beeinflussend sind? Natürlich hängt das davon ab, dass die Hypothese zu trifft, aber es ist grundsätzlich durchaus interessant.

5) Das Fast-Food-Problem des Sozialstaats

In seiner Kolumne setzt sich Alan Posener mit dem Spannungsverhältnis zwischen individueller Lebensführung und der Solidarität im Sozialsystem auseinander. Ausgangspunkt ist die verbreitete Haltung, wonach Menschen für selbstverschuldete Gesundheitsprobleme – etwa durch Alkohol, Rauchen, Fast Food oder Risikosport – selbst zahlen sollten. Diese Sichtweise werde besonders deutlich, wenn es um konkrete Kosten für medizinische Behandlungen gehe. Posener erinnert jedoch daran, dass die Solidargemeinschaft gerade darin bestehe, auch für unvernünftige oder riskante Entscheidungen anderer aufzukommen. Der Sozialstaat dürfe nicht zur „Tyrannei des Gemeinsinns“ werden, wie es Richard Herzinger formulierte. Vielmehr solle er die Großzügigkeit bewahren, niemanden auszuschließen – auch nicht die alte Dame mit der neuen Hüfte oder den Skifahrer mit dem kaputten Knie. Der Autor plädiert dafür, individuelle Freiheit und gemeinschaftliche Verantwortung nicht gegeneinander auszuspielen. Wer beginne, Leistungen nach persönlichem moralischem Maßstab zu verteilen, gefährde den Zusammenhalt der Gesellschaft und öffne Tür und Tor für Ausgrenzung. Die Solidarität dürfe nicht durch „miesepetrige und selbstgerechte Puritaner“ unterlaufen werden. (Alan Posener, Welt)

Posener spricht einen sehr relevanten Punkt an. Gerade diese Kritik an dem, was durch die Sozialgemeinschaft abgedeckt wird, bezieht sich immer auf das, was man selbst nicht macht. Leute, die keinen Sport betreiben, haben wenig Verständnis dafür, Bungee-Jumping-Unfälle mitzubezahlen. Ich als Nichtraucher und Nichttrinker sehe eine Finanzierung von Raucherlunge und Alkoholleber auch eher als auslassbar. Und so weiter. Aber letztlich ist die Solidargemeinschaft nur dann tragfähig, wenn wir nicht ständig versuchen, andere herauszuschubsen. Nur ist da natürlich auch die andere Seite der Medaille: wenn man einfach alles mitträgt, wird das System irgendwann überlastet. Wo also die Grenze gezogen wird - weil irgendwo muss eine gezogen werden - ist eine schwierige Frage, die man dann vielleicht nicht unbedingt Leuten aus der Jungen Union überlassen sollte.

Resterampe

a) "Reality Check" zu LLM. (Wheresyourat)

b) Zum Thema Ungleichheit vom letzten Vermischten. (Twitter)

c) Zum Thema Wettrüsten interessante historische Analogie. (Twitter)

d) Zu den 15€ Mindestlohn. (ZEIT)

e) Manuel Schwalm zu Polen und den USA. (Twitter)

f) Doppelstandard. (Twitter)

g) Rückblick auf Dieter Schnaas' Essays seit Trumps Machtübernahme. (Bluesky)

h) The confidence to tear down things you don't understand at all. (Bluesky)

i) DOGE von links. (ZEIT)

j) Noch was zur Schwäche der Milliardäre. (FAZ)

k) Idiotie bei Stegner. (Twitter)

l) Lehrkräfte im Abi-Stress: Betroffene kritisieren zu kurze Korrekturfristen (mit Gefährdungsanzeigen) – und warnen vor Qualitätsverlust (News4Teachers) Kann ich bestätigen, die Fristen sind komplett bekloppt dieses Jahr.

m) Privileg. So wahr. (Twitter)

n) Sehr wichtige Perspektive auf die Frage der "Befreiung" am 8. Mai. (Welt)

o) Weimers erste Akte (BILD).

p) Chartbook 381 Trumpite futurism Part 2: Taking Musk's "space junk" seriously. (Chartbook)

q) Spannender Artikel zur Pädagogik des Holocaust. (Spiegel)


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