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#Florian Aigner: „Es darf sich in unserer Gesellschaft nicht lohnen, ein egoistisches Ekelpaket zu sein. Sonst ist all unser Wissen einfach umsonst.“

#Elvira Rosert hat in Ergänzung dieses durchdachten Threads einen klugen „twitter-essay“ zum „autoritären Charakter“ des Querdenkertypus geschrieben, der über ein erzieherisches Muster von Strafe und Belohnung gelernt hat, seine eigenen Bedürfnisse über die anderer zu stellen.

Ich möchte diese beiden Stränge weiterdenken und einen pädagogischen Blick in die Realität unserer Kinder wagen.

Situation 1: Ein Kind erhält zur Einschulung eine besonders große und aufwändige Schultüte. Die Eltern weisen das Kind darauf hin, dass es wirklich die größte Tüte hat.

Situation 2: In der Klasse wird jedes Jahr zum Martinstag ein gespendeter Riesenweckmann mit einer Pfeife zeremoniell geteilt. Jedes Kind bekommt ein etwa gleich großes Stück. Man spricht über den „Martinsgedanken“. Ein Kind bekommt die Pfeife. Mail an die Elternvertreter im Nachgang: man möge bitte nächstes Jahr keinen gespendeten Weckmann mehr teilen, sondern so viele kleine Weckmänner kaufen wie Kinder in der Klasse sind. Es sei ungerecht, dass es ungleich große Stücke Weckmann gäbe und das eigene Kind die Pfeife nicht bekommen habe.

Situation 3: Ein Kind steht beim Zahnarzt an der „hast-du-tapfer-gemacht“-Geschenkebox und kramt selbstvergessen darin herum. Ein anderes Kind wartet dahinter. Es wird von der Mutter aufgefordert, nicht zu warten, sondern in die Box zu greifen, weil sonst gleich „das Beste weg ist“.

Situation 4: Ein Junge hört von seinem Vater wiederholt während der Grundschulzeit die Ermahnung, er möge darauf achten, immer besser als die Klassenkameraden zu sein.

Situation 5, 6, …10, … 274,… ich könnte ein Buch schreiben.

Man mag nun einwenden: diese Situationen sind „Einzelfälle“. Ja, ich habe sie nicht repräsentativ wissenschaftlich erfasst, untersucht und ausgewertet. Ich habe sie einfach nur beobachtet oder werde mit ihnen aufgrund meiner Funktion und aus meiner Erfahrung als Mutter in vielen Situationen alltäglich konfrontiert.

Es sind nicht nur „Einzelfälle“. Es ist eine grundsätzliche Beobachtung der Kälte und Härte in Hunderten von Situationen, eine grundsätzliche Beobachtung von Rücksichtslosigkeit und Egoismus, eine grundsätzliche Beobachtung, das beste Stück für sich zu ergattern – und sich dann davon zu machen. Eine Beobachtung von Erziehung, die neben und vor allen solidarischen Jugendaktivitäten, allem Sozialengagement, aller Hilfsbereitschaft und allem berechtigten Aufbegehren der Jugend gegen die Politik der Eltern steht. Das Engagement der Eltern reicht oft nur bis zu einer bestimmten Grenze, man hilft gerne in der Cafeteria des Sommerfestes im Kindergarten, nimmt am Klassenfest teil, backt Kuchen für die Nikolausfeier des Turnvereins. Und hat gute Begründungen, nein zu sagen, wenn das Kind aus benachteiligten Familienverhältnissen ein Schulheft braucht.

Zu was erziehe ich ein Kind, wenn ich ihm den Blick schärfe, im Vergleich zu anderen wahrzunehmen, dass es „die größte Tüte“ hat? Zu was erziehe ich ein Kind, wenn ich ihm den Blick schärfe, teilen als „ungerecht“ anzusehen? Zu was erziehe ich ein Kind, wenn ich ihm den Blick schärfe, wer wartet, bis er dran ist, bekommt nicht mehr „das Beste“? Zu was erziehe ich ein Kind, wenn ich ihm den Blick schärfe, immer „besser“ als andere sein zu müssen?

Ich erziehe ein Kind zu egoistischem Empfinden, zu amoralischem Verhalten, zur Fokussierung auf die eigene maximale Wunsch- und Bedürfniserfüllung, zu einer Selbstsicht, der Beste sein zu müssen. Bedingung dafür ist, dass es Verlierer geben muss, andere, die weniger bekommen, das Minderwertigere, andere, die schlechter sind und damit einhergehend niedrigeren Status, Verdienst, Ansehen… haben müssen.

Eltern wollen „das Beste“ für ihre Kinder. Diese uns Eltern allen wohlbekannte und eigentlich positiv gemeinte Haltung, die nichts anderes aussagt als das Bestreben der Eltern, ihren Kindern optimale Bedingungen zu gewähren, bedarf der Reflexion, wenn in einer Zeit des Überflusses und der ständigen Verfügbarkeit aller Güter die Angst steigt, nicht das zu haben oder zu sein, was von der Masse abhebt, zu kurz zu kommen (obwohl alles da ist), zu wenig zu haben (obwohl genug vorhanden ist), Minderwertiges zu bekommen (obwohl hohe Qualität verfügbar ist). Das „Beste“ mutiert von einem „für mein Kind Besten“ zu einem vermeintlich „absoluten Besten“, das nur einer haben kann. Dieser Eine ist dann das eigene Kind – auf Kosten und zum Nachteil der anderen Kinder. Oft ist das getarnt – wie bei dem Beispiel mit dem Weckmann – mit Argumenten, dass doch auch für die anderen Kinder der Gruppe die eingeforderte Lösung „besser“ sei, aber die Motivation des Agierens ist der befürchtete oder erlebte Nachteil des eigenen Kindes. Der eigene egoistische Anspruch – gnädig auch anderen gewährt – wird zum Ersatz für Solidarität.

Die aktuellen Bestrebungen, Kindergärten/-tagesstätten und Schulen wieder zu öffnen, teilweise sogar ohne Ansehen des Infektionsgeschehens, werden in langen Ausführungen begründet: mit der Situation benachteiligter Kinder, denen es im Lockdown noch schlechter gehen könnte, mit Bildungsnachteilen, mit der Zunahme von Medienkonsum und Depressionen, mit der Berechnung von Einbußen des späteren Einkommens bis hin zu verkürzter Lebenszeit und mit einer Retraditionalisierung der Mütter. All diese Aspekte sind zu beachten und müssen diskutiert werden. Und in jedem Aspekt liegt ein guter Grund, Maßnahmen, die Familien betreffen, gut zu durchdenken. Es müssten Lösungen gefunden werden, die all diese Folgen (zu denen es jeweils aber auch Gegenpositionen gibt bspw. eine Untersuchung, die nicht weniger, sondern sogar mehr Bewegung von Kindern im Lockdown ermittelte) im Blick haben und abfedern. Dazu wären schon seit Monaten politische Entscheidungsträger aufgerufen gewesen. Die Forderungen nach Öffnung der Einrichtungen werden letztlich mit Schäden begründet, die einer ganzen Generation drohen – der Generation, zu der auch das Kind mit „der größten Schultüte“ gehört und das Kind vor der „Geschenkbox des Zahnarztes“. Schaut man sich an, welche Eltern die Schulöffnungen so lautstark fordern bis hin zur Klageeinreichung, Demonstrationen für das Recht auf Bildung organisieren, ihre Kinder mit Pappschildern wie „ich vermisse meine Freunde“ auf die Straße stellen und sie loben, wenn sie „ich hasse Masken“ in ein Mikro schreien, sehen wir nicht etwa die Eltern sozial benachteiligter Familien, die keine ausreichende Internetverbindung für das Distanzlernen haben, die unter beengten Wohnverhältnissen leiden, die kein Geld haben, ihren Kindern FFP2-Masken zu kaufen, die selbst nicht den gut ausgebildeten oder akademischen Bildungsgrad haben, Fragen ihres Kindes zu Mathe und Englisch zu beantworten. Nein, wir sehen Eltern, die mindestens zur gut ausgebildeten/studierten Mittelschicht gehören und in den (sozialen) Medien die eigene Überforderung im Spagat zwischen Beruf und Kinderbetreuung beklagen. In ihren Aufrufen und Forderungen dienen die Nöte und Bedürfnisse benachteiligter Familien zur Rechtfertigung der Lösungserwartung für die eigenen Probleme. Es scheint moralisch wenig opportun, als wirtschaftlich ausreichend situierte Familie mit Kindern, denen außerschulisch alle nur erdenklichen Bildungsmöglichkeiten offen stehen, die Öffnung der Schulen zu fordern und die Gesundheitsgefährdung vieler Kinder, ihrer Familien und Lehrer in Kauf zu nehmen. Um die Gesundheitsrisiken Vieler geringer zu achten als den befürchteten angeblichen Bildungsnachteil der eigenen Kinder, bedarf es mehr: die Nutzung derer, die wirklich zu den Verlieren gehören, weil weder die Schulöffnung fordernden Eltern noch die Politik ausreichend Unterstützungswillen zeigen, trotz Lockdown, trotz Schließung/Distanzlernen genau für diese Situationen Lösungen für die ins Felde Geführten zu entwickeln. Damit wird die Forderung nach der „besten“ Lösung für das eigene Kind bzw. die eigene Situation moralisch gerechtfertigt.

Damit das eigene Kind „das Beste“ bekommt – oder was man für „das Beste hält – bedarf es also derer, die auf der Strecke bleiben, würde man all seine Vernetzung, sein Geld, seine (politische) Macht und Reichweite für Unterstützung dieser Familien im Distanzunterricht einsetzen, gäbe es das emotional wirkungsvolle Argument der „benachteiligten Familien“ nicht mehr und die Forderung nach „dem Besten“ für das eigene Kind verlöre die gesellschaftlich akzeptierte Tarnung. Die Forderung würde sich als das offenbaren, was sie ist: Egoismus.

Ja, ich glaube inzwischen, dass der bildungsbürgerliche Mittelschicht-Gutmensch im Grunde egoistisch fühlt. Menschen der Generation, die diese Kinder erziehen, setzen sich im Lockdown I auf das Kassenband eines Supermarktes, zwei Pakete Klopapier unter dem Arm, statt des erlaubten einen Paketes. Sie ziehen durch die Straßen und schreien danach, keine Maske tragen zu wollen, weil es sie und ihre Kinder angeblich irreparabel schädigt. Sie sehen eine Diktatur heraufziehen, weil sie (symbolisch) „den Weckmann teilen sollen“...

Sind die Demonstranten aller Couleur inzwischen recht leicht zu erkennen, ist es viel schwieriger, die zu identifizieren, die zu Hause, in der Schule, im Verein, im angepassten gutsituierten ruhigen Leben, im normalen Alltag freundlich und hilfsbereit wirken („Ich habe in den letzten Jahren immer Kuchen für‘s Klassenfest gebacken.“) und im Grunde doch ihre Kinder dazu erziehen, besser als andere zu sein und mehr als andere zu bekommen („Pass auf, dass du nicht als Letzter drankommst.“). Die Perfidie dieser vorpandemisch nicht auf Anhieb zu erkennenden Haltung wird in der Krise plötzlich erschreckend sichtbar, wenn Eltern ihre nicht vorerkrankten Kinder mit Attesten von der Maskenpflicht befreien lassen oder Präsenzunterricht einklagen, weil sie für ihr eigenes Kind Nachteile befürchten. Damit fördern sie in einer für Viele mit großem Leid und Tod einhergehenden Pandemie nicht nur die Haltung ihrer Kinder, „mehr“ zu bekommen, als andere, sondern die eigenen Bedürfnisse über die Gesundheit und das Leben, mithin die Bedürfnisse anderer zu stellen – unbeachtend, dass auch das eigene Leben oder das von Angehörigen über kurz oder lang davon betroffen sein kann. Dieser „Siegfriedsglaube“ ist zu gegebener Zeit einen anderen Artikel wert.

Auch die Erziehung bricht in der Pandemie auf, eine existentielle (oder als solche empfundene) Situation lässt Menschen auf das zurückfallen, was unser Erbe aus Zeiten ist, als wir das Mammut jagten. Was uns davon abhebt und ethische Errungenschaft der Menschheit ist (oder sein sollte) muss auch in einer Pandemie offenbar erneut verteidigt und bewusst gemacht werden.

Die Pandemie offenbart, welche (gesellschaftlichen) Problemlösungsstrategien Familien entwickeln und ihren Kindern mit auf den Lebensweg geben in ihre Zukunft und in die Zukunft der Gesellschaft, die diese Kinder prägen und gestalten werden: Strategien der Empathie und gesellschaftlichen Rücksichtnahme, auch wenn man selbst zunächst etwas abtreten muss...? Oder Strategien des Egoismus und der Ausnutzung jeder Möglichkeit, die eigenen Bedürfnisse über die anderer zu stellen...?

Florian Aigners Forderung nach moralischer Erziehung beginnt mit dem Weckmann – Elvira Roserts Persönlichkeitsbetrachtung beginnt an der Geschenkebox des Zahnarztes. Leider lohnt es sich, ein egoistisches Ekelpaket zu sein, weil dafür im Kindesalter „belohnt“ wird. Es lohnt sich, autoritär zu denken, weil dafür im Kindesalter Angst gesät wird, „gestraft“ zu sein, wenn nicht das Beste abfällt.

Fakten und Wissen, Bildung und Reflexion dagegen lohnen sich nicht und Hilfsbereitschaft und Rücksicht können eine Maskierung sein.

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