Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann.

Fundstücke

1) Twelve Years of Being the Most Responsible Guy in the Room

The sad spectacle accomplished something else. It set a precedent, among policymakers and especially the media, that the debt ceiling in divided government was a time for negotiation and compromise. It legitimized the hostage-taking event. The way the debt ceiling is covered now, chiding Biden’s previous stance of no negotiations as “increasingly untenable,” flows right from the 2011 standard. Of course, that standard is only applicable when the divided government involves a Democratic president and Republicans in some leverage position in Congress. In 2019, under a Trump administration and a Democratic House, Democrats—proudly—did not demand the rollback of the Trump tax cuts, more spending on social programs, or new rules favoring renewable energy in exchange for enabling continued federal borrowing. That’s because Democrats in Washington like nothing more than being seen as respectable. And when Democrats have the White House, they’ll “do the right thing” by defusing the debt ceiling time bomb, which comes down to negotiating the terms of the ransom. Random Democratic frontliners have been calling for negotiations for several days now. That’s clearly where we are headed. (David Dayers, Prospect)

Die Versuche, sich mit den Republicans zu einigen, gehören nicht eben zu den Sternstunden von Obamas Amtszeit. Andererseits sehen wir ja heute auch wieder, dass es schwer ist, Alternativen aufzuzeigen. Wenn Obama 2011 hart geblieben wäre, wären die Republicans dann eingeknickt? Ich kann mir das schwer vorstellen. Diese Leute sind völlig verantwortungslos und bereit, die amerikanische Wirtschaft zu zerstören - nur um politische Punkte zu machen. Es ist für die Democrats auch schlicht nicht möglich, eine Retourkutsche zu fahren, weil sie dafür zu verantwortungsbewusst sind. Dass die moderaten Journalist*innen sich weigern, das zur Kenntnis zu nehmen, ist das eigentlich Ärgerliche.

2) Warum die Leistungen der Schüler schlechter werden: Die Mütter fallen als Hilfstruppe aus

„Beim Ganztag, wie wir ihn in der Regel haben, handelt es sich um eine Nachmittagsbetreuung. Damit ist gewährleistet, dass die Kinder gut aufgehoben sind, während die Eltern arbeiten. Mehr aber meist auch nicht. Dabei geht es natürlich ums Geld. Betreuen ist die billiger als schulisches Fördern“, erklärt der Bildungsforscher Prof. Wilfried Bos vom Institut für Schulentwicklungsforschung der TU Dortmund. „Der Bund hat zwischen 2003 und 2009 vier Milliarden Euro für den Ausbau des Ganztags in Deutschland aufgewendet. Die Länder hingegen wollten möglichst wenig ausgeben. Zusätzliche Lehrerstellen hätten sie nach der bestehenden Aufgabenverteilung finanzieren müssen. Also kam man auf die Lösung: Betreuung, denn fürs Betreuungspersonal sind die Schulträger, also die Städte und Gemeinden, zuständig. Und die können für Betreuungsangebote von den Eltern Gebühren nehmen, was für ein schulisches Angebot gesetzlich nicht ginge.“ [...] Parallel zum Anstieg der Betreuungsquote wuchs die Beschäftigungsquote in Deutschland – und zwar vor allem die der Frauen. Sie stieg von 65 Prozent 2006 auf mittlerweile knapp 75 Prozent. „2016 gingen hierzulande 18,3 Millionen Frauen im Alter von 20 bis 64 Jahren einer Arbeit nach“, so meldete Statista, das Statistische Bundesamt. Das bedeutet: Offensichtlich ist dem deutschen Bildungswesen im vergangenen Jahrzehnt ein Millionenheer an unentgeltlich arbeitenden Förderkräften abhandengekommen – und einen echten Ausgleich dafür gab es nicht. Das ließe sich auch monetär ausdrücken: Setzt man eine qualifizierte Förderstunde im Einzelunterricht, wie auf dem Nachhilfemarkt üblich, mit 45 Euro an, ist für die Gruppenbetreuung lediglich ein Fünftel pro Kind fällig. Hochgerechnet ergibt das in etwa eine Summe von gut und gerne 15 Milliarden Euro im Jahr, die dem Bildungssystem verloren gegangen sind. Von dieser Summe ließen sich grob überschlagen 150.000 Lehrer bezahlen. Die Auswirkungen sind messbar – die Leistungen insbesondere der Grundschüler, das belegt gleich eine ganze Serie von großen Bildungsstudien wie VERA und IGLU, gehen an breiter Front zurück. (News4Teachers)

Ich kann dazu anekdotische Evidenz beisteuern, bevor ich einen generellen Punkt machen möchte. Meine Frau und ich sind ja beide Vollzeit berufstätig. Wir merken den Effekt ständig, dass wir nicht die Zeit und Kraft haben, so hinter den Schularbeiten des Sohnemanns herzusein, wie das an und für sich notwendig wäre - mit all den negativen Folgen für den Schulerfolg, die das hat. Wer irgendwie mit Eltern zu tun hat kennt die Dauerbeschwerde der Hausaufgaben. Sie sind ständiger Streitpunkt in Familien, kosten wahnsinnig viel Zeit und Nerven und sind zu allem Überfluss auch noch nutzlos. Vom Lernen auf Tests und Klausuren gar nicht erst angefangen.

Und das ist das generelle Problem: das deutsche Schulsystem ist komplett darauf aufgebaut, dass die Eltern pro Tag ein bis zwei Stunden Arbeit investieren, die in meinen Augen Aufgabe der Schulen wäre. Wir wissen seit mindestens der ersten PISA-Studie, wie sehr das zur Chancenungleichheit in Deutschland beiträgt, was Kinder von Einwanderungsfamilien angeht, genauso aber natürlich auch Kinder aus bildungsfernen Haushalten. Zunehmend betrifft das auch andere Kinder. Das System ist einfach auf massiver unbezahlter Elternarbeit (üblicherweise: Mütterarbeit) aufgebaut. Unhaltbar eigentlich, aber wird sicher weiter gehalten.

3) Systemrivale China muss Druck des Westens spüren

Anstatt der Illusion der Zusammenarbeit nachzujagen, braucht der Westen eine neue Strategie. Die Spieltheorie lehrt, dass Kooperation ein Ergebnis von übereinstimmenden strategischen Interessen und nicht Hoffnung in das Verhalten anderer ist. Die Bundesregierung sollte in ihrer Nationalen Sicherheitsstrategie klare Ideen formulieren, wie der Klimaschutz vorangebracht und China zum Partner gemacht werden kann. [...] Nur zusätzliche Druckmittel dürften die Regierenden in Peking davon überzeugen, Klimapolitik als einen Bereich der Zusammenarbeit und nicht der Systemrivalität zu betrachten. (Guntram Wolff, FAZ)

Ich kann nur sehr schwer abschätzen, inwieweit Deutschland relevanten Druck auf Peking ausüben kann und inwieweit dieser dann Erfolg hat, aber ich bin ziemlich zuversichtlich, dass "Handel durch Wandel" dort genauso wenig fruchten wird wie in Russland. Gerade hier sehe ich den Wert der "wertegeleiteten Außenpolitik": sich klarzumachen, dass unsere Werte und unsere Interessen weitgehend deckungsgleich sind. Hier wird jetzt über die Klimakrise gesprochen, in der auch eine Interessendeckung existiert, aber wenn man an die Problematik mit Taiwan denkt, sieht man schnell, dass das Bestehen auf Einhaltung von liberalen Grundwerten - Anerkennung von Souveränität, Freiheit der Meere, etc. - völlig in unserem Interesse ist und dass eine Abschreckung Chinas sicherlich besser für uns ist als Beschwichtigung.

4) The Worst Thing to Come Out of Trump’s Town Hall Didn’t Come From Trump

In one way, the claim is itself a form of old news, a mandate so tired and obvious as to be meaningless. CNN is in the news business. Of course its job would involve the making of news. But make a lot of news as the end point—as the sum of CNN’s work—is also profoundly outmoded. Trump has changed journalism’s equations. The new media environment has changed them as well. It is not, in fact, CNN’s job to make news. It is CNN’s job to report the news, to explain the news, to make sense of the news. Providing a stage for a known liar to tell his lies is not journalism. It is a costly act of concession. [...] When news networks amplify Trump, their reasoning is often similar: They will hold him to account, they claim, in ways others have failed to do. Collins arrived at the town-hall stage armed with tough questions and a clear mission to keep Trump in check. It’s not her fault that she failed; everyone will. Live television, for Trump, is both his weapon and his turf. He will use it shamelessly. Anyone who tries to treat a live event with him as common ground, or as a site of political discourse—or as a place to make news—has already lost the battle. (Meghan Garber, The Atlantic)

Die Entscheidung von CNN, eine Townhall mit Trump zu veranstalten, hat harsche Kritik hervorgerufen. Dass der Informationswert im besten Fall null betragen, vermutlich aber eher negativ sein würde, war genauso zu erwarten wie eine Sturmflut an Lügen und Propaganda. Wer an der Kritik interessiert ist, finder hier eine weitere, und hier gibt es eine Presseschau. Ich will an der Stelle aber auf einen anderen Punkt eingehen: Trump wird nach aktuellem Stand der Präsidentschaftskandidat der republikanischen Partei. Die Idee, dass CNN ihn ignorieren könnte, ist absurd. Auf der anderen Seite ist aber die ständige Desinformation Trumps ein Dauerproblem. Bisher hat noch niemand den Code geknackt, wie einerseits die politische Rolle als potenzieller Präsident und andererseits die Zerstörung jeglicher Glaubwürdigkeit unter einen Hut gebracht werden können, von den Gefahren für die amerikanische Demokratie einmal ganz abgesehen.

5) Lustiger Gruppenchat mit bitterem Ende

Die Beamten aus Erfurt weisen selbst darauf hin, dass bereits der bloße Besitz strafbewehrt ist. Wenn ihr euch also auf einer Polizeidienststelle als „Besitzer“ solchen Materials outet, können die Beamten praktisch gar nicht anders, als ein Ermittlungsverfahren gegen euch einzuleiten. Das ist nie eine Bagatelle, die aktuelle Mindeststrafe für den Besitz kinderpornografischer Inhalte beträgt ein Jahr Gefängnis (§ 184b StGB). Geldstrafe ist nicht mehr möglich, eine Einstellung wegen Geringfügigkeit auch nicht mehr. [...] Aber nicht jeder Jurist ist vernünftig. Außerdem geschieht das alles natürlich erst nach der Hausdurchsuchung in eurer Wohnung oder am Arbeitsplatz. Schon das kann zu einer Vernichtung der sozialen Existenz führen. Ein glorreicher Freispruch einige Monate später hilft dann auch nicht mehr. (Udo Vetter, Lawblog)

Ein Kumpel von mir ist bei der Kriminalpolizei und hat genau mit diesem Kram zu tun. Er hat mir letzthin erzählt, wie dieser Mist abläuft: da wird auf Basis von ein oder zwei Jahren alten Vorkommnissen eine Hausdurchsuchung gemacht (die wie Vetter hier beschreibt Existenzen zerstören kann), Handys und Computer konfisziert, für sechs bis neun Monate einbehalten und dann das Verfahren häufig genug eingestellt. Ein riesiger Personalaufwand, Flurschäden bei den Betroffenen - alles für nichts. Und warum? Weil man völlig hirnlos Gesetze verschärft hat, um Handlungsfähigkeit zu demonstrieren. Das ist jedes Mal bei so was die gleiche Kacke. In der Zwischenzeit könnten die betroffenen Beamt*innen sinnvolle Dinge tun, und man könnte Schäden vermeiden. Aber die politischen Dynamiken erlauben kann einen Rückbau hirnoser Verschärfungen, weil es sich niemand leisten kann, nicht "tough on crime" zu wirken.

Resterampe

a) Ein empirischer Verriss von Harald Welzers Medienkritik.

b) So sehr ich die FDP gelegentlich kritisiere, das schießt weit über das Ziel hinaus.

c) Ich bin ja immer für revisionistische Takes zu haben, aber was in dem Artikel zum Thema Atombombe und amerikanischer Bedeutung im Zweiten Weltkrieg steht ist einfach Kokolores.

d) Sehr guter Thread zum Thema Grüne und Lobbyismus.

e) Asphaltdschungel am Beispiel.

f) Macron schlägt vor, dass es Prämien nur noch für europäische eAutos geben soll, quasi eine EU-Antwort auf den IRA. Klingt grundsätzlich sinnvoll, aber beißt sich mit der deutschen Strategie, den IRA über die WTO zu bekämpfen.

g) Ich bin ja schon immer gegen die Klimaräte, aber wenn ich noch einen Grund gebraucht hätte: hier ist eine kurze Beschreibung, wie die erstellt werden.

h) Ganz gute Analyse von Chinas aktueller Wirtschaftspolitik.

i) Jonathan Chait hat eine riesige Coverstory im New Yorker zum Thema "republikanischer Krieg gegen die Schulen". Ich hab das hier schon so oft kommentiert, ich spar mir das und empfehle die ganze Story zur Lektüre. Im Gegensatz zur Cancel-Culture-Panik passiert das hier real. Related: Why Republicans Are Targeting Professors’ Job Security.

j) Keine bösen Überraschungen.

k) Die FDP fordert massive Subventionen für den Strompreis. Nachvollziehbar, aber einmal mehr der Beleg, dass das mit der CO2-Steuer nicht klappen kann. Wenn die Preissignale wirken, kommen Subventionen - auch von liberaler Seite. Das kann in einer Demokratie kaum anders sein.

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