„Die Marktwirtschaft ist damit diejenige Wirtschaftsordnung, die ein Maximum an Produktivität, Wohlstandsvermehrung und persönlicher Freiheit verbindet.“ So verkauft der Mann mit der Zigarre die neue Ordnung, die dem zertrümmerten Deutschland Glanz und Glorie verleihen soll. Ludwig Erhard gilt als „Vater der Sozialen Marktwirtschaft“, obwohl er dauerhaft verdeutlichte, dass es im Allgemeinen um die Marktwirtschaft ging, denn das „sozial“ ist letztlich ein Attribut, welches sprachlich und symbolisch eine beruhigende Wirkung haben mochte. Evident ist das unter anderem hier: „Ich meine, daß der Markt an sich sozial ist, nicht daß er sozial gemacht werden muß“. Am Ende versteckte der geflügelte Begriff der „Sozialen Marktwirtschaft“ neoliberale Positionen der Union in der Nachkriegszeit, so dass sich heutzutage alle Parteien darauf beziehen und wir viel zu selten den Kern der Wirtschaftsordnung angreifen.
https://taz.de/70-Jahre-soziale-Marktwirtschaft/!5591244/
Die immer noch andauernde Pandemie hat uns schauerlich vor Augen geführt, welche Gefahren in den Worthülsen der Politiker*innen liegen, wenn sie kontinuierlich versuchen, uns das aktuelle Modell als idealtypisch zu verkaufen. Wie einst Erhard wird dabei die persönliche Freiheit und Individualität als hohes Gut deklariert, welches nur in einer Marktwirtschaft erreicht werden kann, denn im Sozialismus würde derzeitiger Alltag zum Luxus. Als Freund persönlicher Freiheiten finde ich diese Argumentationsstruktur jedoch hinfällig, wenn ich mir die Umstände unseres Seins vor Augen führe.
Ich beziehe mich damit keineswegs darauf, dass die Bekämpfung einer gefährlichen Krankheit zu Ausgangseinschränkungen geführt hat, denn diese Schritte waren und sind nötig, um ein anderes hohes Gut, die Gesundheit, zu schützen. Ich ziele mit meinem schriftlichen Tortenwurf auf die Clowns, die glauben, dass inhaltsleere Aphorismen wie das Eingangszitat von Erhard über das Elend der Existenz hinwegtäuschen.
Unsere Realität findet viel mehr Geltung im Zitat Gerard Dunkls: „Freie Marktwirtschaft bedeutet für viele die Freiheit, aufgrund mangelnder finanzieller Mittel kaum Freiheiten zu haben.“ Die Verblendung durch ein eingeschobenes Adjektiv muss überwunden werden.
Fast vier Millionen Menschen leben von Hartz IV, einem a-sozialen Konstrukt, welches die Empfänger*innen nicht in Würde lässt, sondern viel mehr als „zu-viel-zum-Sterben“-Grund eingeführt wurde, dazu kommt die Möglichkeit der Sanktionen, wenn der Mensch nicht nach dem Willen des Staates als produktives Mittel wirkt. Das ist keine persönliche Freiheit und schon gar keine Chance auf Selbstverwirklichung. Das ist diese Produktivität, von der Erhard gesprochen hat.
Wie steht um ein anderes hohes Gut unseres Daseins – dem Wohnen? Weder haben wir in Deutschland ein grundsätzliches Recht darauf, aber vor allem kein Recht darauf, in bestimmten Stadtteilen zu wohnen. Mieten explodieren, Deutsche Wohnen und Vonovia wollen sich zusammenlegen, um Profite noch weiter in Höhe schießen zu lassen. Studierende, Alleinerziehende und sogar Menschen mit staatlich anerkannter Ausbildung und Vollzeit-Job schaffen es nicht, angemessene Wohnungsmöglichkeiten zu ergreifen. Das ist keine persönliche Freiheit und schon gar keine Chance auf Selbstverwirklichung.
Das Wahlrecht ab 18 Jahren schließt etwa 14 Millionen Menschen von dieser Partizipation aus. Somit sind etwa 17 % der Menschen in Deutschland nicht durch die Abgeordneten vertreten – und das lassen diese sie spüren. In der Pandemie waren Schüler*innen Spielball der Politik, den man sich gelegentlich zu spielen konnte, wenn man Ablenkung vom eigenen Versagen brauchte. Bildung und soziale Teilhabe wurden zu magischen Begriffen, die ich überall lesen konnte, die Realität sieht so aus, dass Kinder und Eltern kaum bei der Impfpriorisierung bedacht wurden, dass ihre Stimme viel zu selten für sich selbst sprechen konnte und unter anderem der Lufthansa Geld in den Rachen geworden, welches gierig verschlungen wurde, aber die Luftfilter in Schulen brauchten ein Jahr, um überhaupt angeboten zu werden. Das ist keine persönliche Freiheit und schon gar keine Chance auf Selbstverwirklichung.
https://www.magzwei.de/eltern-sind-der-letzte-rest/
Das Zitat von Erhard muss daher auf die Realität gemünzt werden und dann verändert sich die Bedeutung zu einer ungenießbaren Wahrheit: Menschen dienen der Produktion und der erwirtschaftete Wohlstand erlaubt persönliche Freiheit, solange das nicht der Produktion schadet.
Anders ist es nicht zu werten, dass in einer gesellschaftlichen Krise Kulturschaffende, Selbstständige, Kinder und Menschen ohne finanzielle Sicherheit die Leidtragenden sind, während die Reichen ihr Stück vom Kuchen immer noch vergrößern und keinerlei Verständnis haben, dass wir in einer anderen Realität von persönlicher Freiheit leben, dessen Gegenteil uns jahrzehntelang vom politischen Theater vorgegaukelt wurde. Es ist ein Märchen, dass wir nicht länger hören wollen.
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