„Ich hätte gerne eine Auswahl von einbeinigen und blickdichten Nylonstrumpfhosen.“
Die Verkäuferin sah den Kunden verunsichert an.
„Wir führen nur Nylonstrümpfe als Paar.“
„Ich bin Single und benötige nur einen Strumpf.“, stellte der Mann klar, der sich hinter einer dunklen Sonnenbrille und einem ausufernden Vollbart, sein Antlitz weitgehend verbarg.
„Leider kann ich Einzelstrümpfe nicht verkaufen, da ich den zweiten Strumpf, der ja dann alleine zurückbleibt, kaum loswerde. Frauen wollen stets ein Paar.“
„Ich bin keine Frau.“, ordnete der Mann sein Geschlecht ein.
„Ja, jetzt wo Sie das sagen ...“, sagte die Verkäuferin und lächelte gequält.
„Also kann ich denn nun eine einzelne Strumpfhose bekommen?“
„Ich hätte da noch einen Restposten. Zwei zum Preis von einem.“
„Der Preis ist nicht entscheidend. Auf die Anzahl kommt es an. Zwei wären ja Verschwendung, weil ich ja nur einen benötige.“, betonte der Mann noch einmal deutlich sein Kaufziel.“
„Ich bedaure, aber mir würde es das Herz brechen, wenn ich ein Paar voneinander trennen müsste.“
„Sie sind ja sehr mitfühlend zu ihren Strümpfen.“
„Mein ganzes Leben habe ich ihnen gewidmet.“
„Sie sind eine bemerkenswerte Verkäuferin. Mit herz und Seele.“
„Und Sie sind ein sonderbarer Kunde.“
„Ich bin nur ein normaler Mann, der weiß, was er will.“
Sie lächelten sich gegenseitig zu.
„Sind Sie verheiratet?“
Mit dieser doch sehr persönlichen Frage überraschte die Verkäuferin und überschritt damit ihre Kompetenzen.
„Wie ich bereits erwähnte, ich bin single.“
„Ja schon, aber wie Sie aussehen, mochte ich es nicht glauben.“
„Oh, ich nehme das als ein Kompliment dankend an.“
„Ja unbedingt. Hier verirren sich leider selten Männer herein. Das mag auch an unserer Büstenhalterkollektion im Schaufenster liegen. Auf manche Leute wirkt sie provokativ und abschreckend.“
„Die sind mir gar nicht aufgefallen. Aber ich bin auch nicht so ängstlich.“, beruhigte der Mann.
„Die hätte ich auch einzeln da.“, versuchte die Verkäuferin ihr Glück.
„Leider sind BH`s mir nicht dienlich. Nur eine einzelne blickdichte Nylonstrumpfhose könnte mein Glück vollkommen machen.“
Plötzlich und sehr überraschend, begann die Verkäuferin leise zu singen.
„Es waren zwei Königskinder,
Die hatten einander so lieb, ...“
Und er stimmte mit ein, gefühlvoll und doch voller Wehmut.
„Sie konnten zusammen nicht kommen,
Das Wasser war viel zu tief.“
Nachdem der letzte Ton verklungen war, lag eine schwere bleierne Stille über dem Fachgeschäft für elastische Feinstrumpfhosen.
„Leider kommen wir weder so noch so zusammen.“, beendete der Kunde die kaum noch auszuhaltende Stille.
Die Verkäuferin seufzte aus ganzen Herzen und nickte ihm beipflichtend.
„Ich bedauere es, beruflich wie privat.“
Wortlos verließ er den Ort unerfüllbarer Wünsche, auch um ihr seine Tränen vorzuenthalten.
In der kalten anonymen Welt eines Kaufhauses kehrte er ein und fand in der Feinstrumpfabteilung, was er suchte. Dort, auf einem Stapel von Massenstrumpfhosen, lag eine geöffnete Packung, aus der ein einzelner Strumpf entnommen wurde.
„Vermutlich gestohlen von einer Einbeinigen mit krimineller Energie.“, dachte er und ging mit der achtlos zurückgelassenen und verwaisten Strumpfhose in eine Umkleidekabine.
Dort probierte er das Einzelteil an und er zeigte sich mit der Größe und der Passform zufrieden. Um an der Kasse keine Probleme zu bekommen, denn aus der Erfahrung wusste er ja nun, das Einzelteile nicht zu kaufen waren, sah er sich gezwungen, sie zu klauen. Mit Schuld auf sich geladen, fuhr er mit der Rolltreppe nach unten. In jedem Kunden, an dem er vorbeikam, glaubte er einen Hausdetektiv zu erkennen. Er setzte sich ein bewusst schuldloses Gesicht auf und so täuschte er alle. Nachmittags, als er zu einem kleinen Nickerchen ansetzte, plagten ihnen Gewissensbisse, die er jedoch ignorierte.
Als er erwachte, längst war die Nacht angebrochen, zog er sich seine Arbeitskleidung an, denn auch ein Mann wie er, muss sich ja sein Tagwerk verdienen, wenn auch nachts.
Zu der schwarzen Hose trug er eine farblich darauf abgestimmte Jacke und eine ebenso passende Pudelmütze.
„Du musst hierbleiben. Herrchen geht jetzt arbeiten.“, erläuterte er seinem kleinen Pudel, der an ihm hochsprang und seinen Begleitservice anbot. Mit einem raffinierten Ablenkungsmanöver, er warf einen kleinen Ball in Richtung Wohnzimmer und der Pudel lief hinterher, schloss er hinter sich die Haustür. Dann fluchte er leise und schloss die Tür leise wieder auf. Begrüßt wurde er von dem Pudel, der ihm den Ball in seiner Schnauze präsentierte. Er ließ sich den Ball aus dem Maul nehmen und der flog sogleich wieder durch den Flur. Der Pudel fiel nun schon zum zweiten mal auf den Trick herein und rannte hinterher. Das Herrchen schnappte sich einen kleinen schwarzen Koffer und schloss die Tür hinter sich.
Lautlos schlich er, geschmeidig wie ein schwarzer Panther, das Treppenhaus hinunter. Doch die alten Holzstufen knarzten unter seinem Gewicht. Vorsichtig sah er sich bei jedem Knarren des Holzes um. Eine alte Berufskrankheit. Die Straßen der Stadt waren fast menschenleer. Die Stadt war schlafengegangen. Dies war ihm nur recht. Bewusst hatte er sich einen Beruf gesucht, wo er möglichst wenig mit Menschen in Berührung kam. Als Selbstständiger konnte er sich seine Arbeitszeit und auch seinen Arbeitsort selbst bestimmen. Eine Freiheit, die er sehr zu schätzen wusste. Unterwegs traf er auf einen Kollegen, der ebenfalls zur Arbeit unterwegs war. Sie fachsimpelten etwas und verabredeten sich für kommenden Freitag, an dem wieder der Stammtisch stattfinden würde. Er verabschiedete sich und freute sich darauf, wieder einmal im Kreise der Berufskollegen sich auszutauschen. Und dann ging jeder seiner Wege.
Plötzlich blieb er stehen und griff erschrocken in seine Jackentasche. Erleichtert nahm er sie wieder heraus und setzte seinen Weg unbeirrt fort.
Am Ende einer langen Straße, die an einem großen Eisentor endete, blieb er stehen. Fast eine Stunde war er gelaufen. Jetzt frühstückte er erst einmal. In Ermangelung einer gemütlichen Parkbank musste er mit einem harten Grenzstein sich zufriedengeben. Eine Butterstulle mit Doppelkäse und Dreifachschinken, dazu ein Solei und eine Flasche Wasser, der Kohlensäurestufe medium. Eben ein richtiges Männerfrühstück. Während er herzhaft in die Stulle biss, ging sein Blick Richtung Park, der ihn nur durch das Eisentor trennte. Nachdem er alles verzehrt hatte, gekrönt von einem Bäuerchen, prüfte er das Tor. Es war verschlossen.
„Sehr vorbildlich.“, dachte er und kletterte das Tor hinauf.
Kaum oben angekommen, kletterte er ebenso geschickt wieder auf der anderen Seite herunter. All dies unfallfrei, was ihn als einen absoluten Fachmann, mit langjähriger Berufserfahrung, ausweist. Jeder Laie hätte sich jetzt schon die Hose zerfetzt, die Hände blutig aufgescheuert oder ein Auge an den Gitterspitzen zurücklassen müssen. Spätestens bei dem zweiten Gittertor müsste ein Laie den Beruf wechseln, wegen fehlender Aussichten. Ein Profi lacht nur über so ein Tor, was sich so leicht überwinden lässt.
Doch lautes Lachen ist in seinem Metier verpönt. Lachen erzeugt Aufmerksamkeit. Und auf Aufmerksamkeit legt unser Mann keinen gesteigerten Wert, denn er ist sehr bescheiden und mag keinen Rummel um seine Person.
Vor ihm liegt ein weitläufiger Park. Leider kann er, wegen der nächtlichen Uhrzeit, nichts davon erkennen. Die ganze Anlage ist in ein tiefschwarzes Dunkel gehüllt. Nur in der Ferne leuchtet ein schwaches Licht. Das genügt ihm und er nutzt es schamlos als Sehhilfe aus. Er hat zwar eine Diensttaschenlampe in seiner Tasche, aber wenn man Betriebskosten sparen kann ...!
Er lauscht, ob vielleicht irgendwo ein zähnefletschender Hund sich herumtreibt oder ein aggressives Eichhörnchen mit Besitzanspruch. Doch es ist nichts zu hören.
„Dann haben sie wohl Fische.“, kombiniert er und schätzt die Bedrohung als gering ein.
Jeden Schritt, der ihn sein Ziel näher bringt, geht einher mit einem leisen Knacken. „Entweder“, so vermutet er, „gehe ich auf einem Kieselweg oder hier kriechen tausende von Weinbergschnecken.“
Er kommt dem Licht immer näher und dann erkennt er, was es für ein Leuchtmittel ist. Im ersten Stock des Hauses hängt ein sechszackiger goldener Stern im Fenster, mit fünf defekten Glühbirnen.
„... und ein Stern wies ihnen den Weg!“, rezitiert und interpretiert er recht frei die Bibel, wo Drei Könige dem Stern folgten und das Jesuskind in einer Wiege fanden.
Der Bibelaffine ging um das Haus herum und kontrolliert Türen und Fenster auf ihre Einbruchsicherheit. Alles war hermetisch abgeriegelt.
„Da drin muss ja schlechte Luft herrschen.“, stellte er der Hausfrau ein mieses Zeugnis, in Bezug auf ihr Lüftungsverhalten aus. Auch zeigte er sich besorgt wegen der drohenden Gefahr von Schimmelbildung. Über dem Eingangsportal war eine große Glocke angebracht, an der etwas lustlos ein dickes Seil herunterhing. Er besah sich die beiden miteinander in Verbindung stehenden Dinge an und glaubte zu wissen, welchen Zusammenhang sie wohl miteinander hätten.
Die alten, längst verschollen geglaubten Kenntnisse, die er im Physikunterricht dereinst erlernt hatte, kamen nun wieder zum Vorschein.
„Wenn man hier am unteren Seil zieht, geht der Schwung wellenförmig nach oben und versetzt die Glocke in Schwingung. Wenn im inneren der Glocke sich ein Klöppel befinden sollte, was recht wahrscheinlich ist, gerät jener in helle Aufregung und beginnt langsam zu schunkeln, wie man es sonst nur vom Karneval her kennt. Je extatischer er dies tut, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass er an das Glockeninnere anschlägt, was dann einen Ton verursacht. Wenn er dann zurück pendelt auf die andere Glockenseite, lässt auch die sich nicht lumpen und gibt einen identischen Ton ab. Dies wird im Haus dann vernommen und die Bewohner vermuten, da ist ein Besucher.“
Zufrieden mit seiner Analyse unterlässt er es, dies nun auch praktisch zu überprüfen.
Denn es ist Nacht und da kommt unangekündigter Besuch meist ungelegen. Außerdem hat er einen Berufsethos der besagt: „Suche einen anderen Weg, wenn du niemanden belästigen möchtest.“
Sein Ansporn war es schließlich, unerkannt ins Haus zu gelangen und ebenso wieder es zu verlassen. Er öffnete seine Aktentasche, in der einiges nützliche Werkzeug sich versammelt hatte und ungeduldig darauf wartete, zum Einsatz zu kommen. Längst hatte er sich mit einem Fenster, welches praktischerweise im Parterre des Hauses angebracht war, angefreundet. Das Fenster wies sein Freundschaftsangebot auch nicht zurück. Rasch fand er seinen Glasschneider, der schon bei der Stiftung Warentest mit Bestnote abschnitt. Nun konnte er zeigen, was er in dem Volkshochschulkurs: „Wir basteln uns eine Tiffanylampe“, gelernt hatte.
Lautlos, wie durch ein zimmertemperiertes Stück Butter, zog er den Glasschneider über das Fensterglas und schon fiel ihm ein quadratisch praktisches Stück heraus, was er geschickt auffing. Jetzt konnte endlich Frischluft ins Zimmer dringen und das Zimmer atmete dankbar auf. Aber nicht nur das. Auch unser nächtlicher Besucher ließ es sich nehmen, das Zimmer aufzusuchen. Durch die praktische Öffnung im Fenster konnte er es leicht entriegeln und Kraft seiner muskulös definierten Oberarme, schwang er sich nach oben und hinein ins frisch gelüftete Zimmer.
Jetzt kam, um die hauseigenen Energiekosten nicht unnötig zu belasten, seine Taschenlampe zum Einsatz. Er beleuchtete das Zimmer und erschrak fast zu Tode.
Der Inhalt des Spiegels, den er anleuchtete, war Auslöser dafür.
Der Schreck resultierte nicht in erster Linie durch sein Aussehen, denn daran war er gewöhnt, sondern vielmehr wegen seiner unvorschriftsmäßigen Berufskleidung. Sofort griff er in seine Jacke, zog den Nylonstrumpf hervor und zog ihn sich über den Kopf. Nun da er komplett eingekleidet war, so wie es die Innung verlangt, würde im Notfall auch die Berufsunfallversicherung greifen. Er sah sich weiter um, doch das Zimmer bot wenig, was sein Interesse fand. Eine gewisse Enttäuschung legte sich wie Mehltau auf sein Gemüt. Aber bewusst hatte er sich ja bereits im Vorfeld für ein Haus mit mehreren Zimmern entschieden, falls eine Niete dabei sein sollte. Er empfand es als großes Privileg, ein Zimmer nach dem anderen inspizieren zu können. Wenige Berufsbilder bieten einen ähnlich spannenden Einblick in die Wohnkultur anderer Menschen. Auch die anderen Zimmer, die er aufsuchte, boten ein Bild der Tristesse. Die Wände blank und leer. Kein Renoir, kein Picasso, nicht einmal ein kleiner van Gogh zierten das gesamte Untergeschoss. Eine einzige Enttäuschung, die sich ihm da bot. Seine Frustration wuchs.
„Ob hier wohl nur Kunstbanausen leben?“, dachte er und hoffte, sich zu irren, denn sonst war der Arbeitstag vergebens.
Noch gab er die Hoffnung nicht auf, denn schließlich hatte er sic bewusst für ein dreigliedriges Haus entschiedene. Wahrscheinlich gab es im Obergeschoss oder wenigstens im darüberliegenden Dachgeschoss mehr zu sehen, bewundern und mitzunehmen. Die Vorfreude wuchs. Leichtfüßig trat er den Weg in die oberen Gefilde an, wo er auf einige lohnende Dinge hoffte, die möglichst handlich waren, denn wegen eines Wirbelsäulenschadens durfte er nur begrenzt Gegenstände tragen. Der erste Stock erwies sich als eine Dauerausstellung von IKEA.
„Geschmacklos! Was wohnen hier nur für Banausen.“, fluchte er leise vor sich hin.
Wenigstens befand sich kein Bewohner auf dem Stockwerk, der ihn ungefragt in ein Gespräch verwickelt. Immerhin ein Lichtblick. Aber sonst war dies alles eine einzige Enttäuschung. Wenn nun im Dachgeschoss sich alles genau so trostlos darstellt, dann würde er dem Besitzer aber einen geharnischten Brief schreiben. Seine Frustration wandelte sich langsam in Wut.
„Wenn es nur noch Leute wie diese hier gibt, wie soll denn dann ein ehrlicher anständiger Facharbeiter seinen Beruf ausüben, der ihn als seine Berufung ansieht.“
Das würden die ersten Worte sein, die er ihnen schreiben würde. Dann sollten Vorwürfe, mit einigen beleidigenden Einsprengsel folgen. Als er im Dachgeschoss ankam, hatte er seinen Brief in der Theorie bereits ausformuliert. Er war stolz darauf und konnte es kaum noch abwarten, zuhause ihn schriftlich zu fixieren und ihn auf seinem neuen Briefpapier, mit Wasserzeichen und selbst gestaltenden Briefkopf auszudrucken und ihn hierher zu schicken. Doch sollte es zu seinem Vorhaben nicht kommen, denn alles kam anders als vorgeplant.
Die ersten beiden Dachgeschosszimmer erwiesen sich als Fortsetzung der unteren Räume. Jetzt blieb ihm nur noch ein Zimmer, doch hatte er wenig Hoffnung auf einen finanziellen Durchbruch. Inzwischen würde er ja bereits eine Rolle ein Cent Münzen als Erfolg verbuchen.
So düster sah seine Prognose aus. Er empfand es als mangelnde Wertschätzung seiner Person gegenüber. Geradezu rücksichtslos. Wenn das schule machen würde, dann wird es schon bald dieses ehrwürdige Alte Handwerk nicht mehr geben. Und das nur weil die Menschen egoistisch geworden sind. Keiner ist mehr bereit seinen Besitz mit anderen zu teilen.
Die Schuld sieht er auch bei der Presse, die mit ungerechtfertigten, ja geradezu böswilligen Schlagzeilen Stimmung gegen eine ganze Branche macht. Schon lange vermisst er die gesellschaftliche Anerkennung. Das führte bereits dazu, dass der Rückhalt in der Bevölkerung nachlässt. Auch Banken, die immer mehr Schließfächer und Depots anbieten, arbeiten gegen seinen Berufsstand. Von den Sicherheitsfirmen, die mit ihren übertriebenen Alarmanlagen sic gesundstoßen, nicht zu sprechen. Die waren ihm ein Dorn im Auge und ein rotes Tuch. Wenn es nach ihm ging, müsste man solche Auswüchse eliminieren. Eine entsprechende Bitte hat er bereits dem Verband der Berufsmörder zugesandt, doch noch keine Antwort erhalten. Deren Mitglieder sind auch ein sehr eigenes Völkchen, wie er aus eigener Erfahrung wusste. Für einen Eilauftrag hatte er einmal mit einem solchen Kollegen zusammengearbeitet. Einmal und nie wieder. Man hatte ihm einen absoluten Anfänger geschickt, der sich schon beim ersten Kennenlernen versehentlich erschossen hat. So nervös war der. Seitdem arbeitete er lieber alleine und verzichtete auf fachfremde Subunternehmer. Das war ihm eine Lehre.
Doch jetzt konzentrierte er sich auf das letzt verbliebene Zimmer, auch wenn er wenig Zuversicht ausstrahlte, dort das Paradies zu finden.
„Vielleicht ist es ja das Kunstzimmer, ausgerüstet mit einem, wegen Überfüllung, offenen Tresor.“
So seine Vorstellung des Paradieses.
Vorsichtig drückte er die Klinke runter und öffnete leise die Tür. Der Schein der Taschenlampe illuminierte den raum, als plötzlich eine Sirene losging. Ihr Heulen ließ seinen ganzen Körper erzittern.
Er leuchtete dorthin, von wo der ohrenbetäubende Lärm herkam. Und im Lichte der Taschenlampe wurde ein Bett sichtbar, indem, aufrecht sitzend, die Lärmquelle war.
„Ich wollte nicht stören.“, sagte er kleinlaut und auch etwas peinlich berührt, denn die Lärmquelle war nicht nur extrem laut, sondern auch auffällig nackt.
Besonders Letzteres irritierte ihn zunehmend, je länger er sie ansah. Er war getrieben von der Sorge, nicht wegsehen zu können. Einfach darüber hinwegsehen und das Thema auf das Wetter zu lenken, wäre sicher eine Möglichkeit gewesen. Aber da er ja durch die stockdunkle Nacht hergekommen war, sah er nicht, wie das Wetter so war. Zudem konnte er sich, wegen ihres unaufhaltsamen hysterischen Schreiens schlecht konzentrieren.
„Nehmen Sie mich, aber lassen sie mich am Leben.“, bot sie sich wie Sauerbier an.
„Danke.“, gab er höflich zurück.
„Danke Ja oder Danke nein?“, forderte die Nackte eine Entscheidung und hoffte wohl, es würde zugunsten ihres Körpers ausfallen.
Doch was er sah und er sah alles, ließ bei ihm keinen Zweifel aufkommen, das sein Urteil eindeutig Richtung „Nein“ tendierte.
Höflich teilte er ihr seine Entscheidung mit, die sie mit Unverständnis aufnahm.
Zwar hatte sie nun ihr Geschrei eingestellt, doch nun schien sie dafür beleidigt zu sein. Jedenfalls deutete ihr faltenüberströmtes Gesicht darauf hin. Und das war nicht das Einzige, was ihren Verfall symbolisierte. Schon als er vor ein paar Tagen das alte verwitterte Anwesen auskundschaftete, hätte es ihm in den Sinn kommen können, das darin ebenso etwas altes wohnen würde. Jetzt war es jedoch zu spät, da er gezwungen war, sich der Fleischauslage zu stellen. Ein bewusstes Wegschauen könnte sie womöglich als Affront auffassen. So sah er sich das Verschrumpelte eben weiter an.
„Entschuldigen Sie, aber ich habe einen so guten Schlaf, dass ich ihr klingeln nicht gehört habe.“
„Ich wollte Sie auch gar nicht aufwecken.“, bekannte er ganz offen.
„Was für ein höflicher und gut erzogener junger Mann sie doch sind.“, stellte die Freikörperaffine fest.
„Ja eine gute Erziehung ist das A und O.“, lobte nun auch er im Nachhinein seine Eltern.
Für einen Augenblick ließ er seine Gedanken schweifen, die ihm seine unbekümmerte Kindheit zurückbrachten, als er sich zu einer Korrektur veranlasst fühlte.
„Persönlich habe ich meine Erzeugergemeinschaft nie kennengelernt, da sie anonym bleiben wollten. Mich zogen zwei miteinander liierte Nonnen auf, die mich in einem Bastkörbchen fanden, was auf dem Rhein trieb.“
„Was für eine reizende Geschichte. Die sollte man verfilmen. Ich liebe romantische Komödien.“, warf das greise Fleisch ein.
Dann ebbte das so vielversprechende Gespräch urplötzlich ab. Er sah sie etwas hilflos an. Sie lächelte ihn an. Dann endlich brach sie ihr Schweigen, denn es wurde ihr schlagartig bewusst, sie war ja als Hausherrin die Gastgeberin und hatte es schmählichst unterlassen ihm etwas anzubieten.
„Wo ist denn nur meine Brille. Ich sehe sie leider nur ganz verschwommen.“
Sie griff neben sich, wo ihr eine Apfelsinenkiste als Nachttisch diente.
„So gleich sehe ich sie deutlicher.“, frohlockte sie und setzte sich eine Brille auf.
„Oh, die scheint über Nacht kaputt gegangen zu sein. Ich erkenne sie nur schemenhaft.“, gab sie enttäuscht zu.
„Ach wie dumm von mir“, reagierte er sofort, „ich habe ja einen Nylonstrumpf an.“
„Ist das jetzt mode?“, fragte sie nach.
„Das gehört zu meiner Berufsbekleidung.“
„Was Sie nicht sagen.“
„Wir können uns ja gerne auf einen Deal verständigen. Sie lassen die Brille aus und ich ziehe die Strumpfhose aus.“, wagte er einen Vorstoß zur Völkerverständigung.
„Dann darf ich mich wohl jetzt zunächst einmal vorstellen. Mein Name ist Hendrike Gräfin Freifrau von Lichtenberg Boljakowskinski. Und mit wem habe ich das Vergnügen?“
„Das ist Berufsgeheimnis. Ich möchte, wenn es ok ist für Sie, bitte inkognito bleiben. Nennen Sie mich einfach Sie.“
„Wenn das so ist, dann verzichte ich auch auf meine volle Namensnennung und biete Ihnen ebenfalls mein Sie an.“, befand die freizügige Freifrau.
„Sie, wenn Sie mir die Frage gestatten, die eigentlich nicht statthaft ist, aber sie bewegt mich doch. Nachthemden sind in Adelskreisen wohl verpönt?“
Erschrocken nimmt sie ihre Brille wieder und er geistesgegenwärtig zieht die Strumpfhose sich über den Kopf.
„Ich bin aber in letzter Zeit auch so was von vergesslich.“, ermahnt sie sich.
„Ach das kann ja einmal vorkommen. Sie hatten ja nicht mit Besuch gerechnet.“, gab er sich gönnerhaft.
Rasch, also ihrem Alter entsprechend, stieg sie langsam aus dem Bett und präsentierte ihm nun auch noch die bisher verborgenen Körperstellen.
Er, ganz Gentleman der alten Schule, enthielt sich jeglichen Kommentars. Unterdessen suchte sie in ihrem Kleiderschrank nach adäquater Kleidung. Sie entschied sich für einen Pelzmantel tierischen Ursprungs.
Damit schloss sie die Pforten zur Hölle und er atmete erleichtert auf.
„Echtes Bärenfell.“, pries sie den Mantel an.
Seine Augen begannen zu leuchten. Es war das erste wirklich Wertvolle, was ihm unter die diebischen Augen kam.
„Den hat mein verstorbener Mann geschossen. Und hätte er nur etwas besser getroffen, wäre er vermutlich nicht verstorben. Dem Grizzly gefiel das nicht und hat ihn mit seiner Pranke erwischt. Dann fiel er um und ausgerechnet auf meinen Mann. So kam eins zum anderen und ich an meinen Mantel. Ich nenne ihn Witwentröster. Er wärmt mich besser, als es mein Mann je konnte, der ein Eisklotz war.“
Es war eine zutiefst Bewegende, ja eine tragische Geschichte, die sie hier zum Besten gab.
Er war den Tränen sehr nahe, doch gestattete er sich nicht, diese auszuleben. Außerdem hätte auch niemand seinen Gefühlsausbruch sehen können, wegen der blickdichten Strumpfhose.
Sie hingegen schien nicht sonderlich betrübt über den Verlust zu sein.
„Wollen wir nicht den jungfräulichen Morgen mit einem Kaffee beginnen?“, machte sie einen Vorschlag, der ihm nur selten gemacht wurde.
„Oh, das wäre wirklich allerliebst.“, willigte er entzückt ein, denn nun, da sie bemäntelt war, sah er sie mit ganz anderen Augen.
Angezogen wirkte sie fast schon appetitlich, musste er feststellen.
„Sechzig Jahre jünger und ich könnte nicht für mich garantieren, sie nicht erotisch zu umgarnen.“
Niemand mehr als er selbst wunderte sich über das, was er da gerade gedacht hatte. War hier plötzlich Liebe im Spiel?
Er kam ernsthaft ins Grübeln. Sollte er es tatsächlich wagen, einen diskreten versteckten Hinweis in diese Richtung zu machen? Während er ihr in die Küche folgte, wo der Kaffee entstehen sollte, ratterte sein Hirn, was sich als verwirrt wohl am ehesten beschreiben ließ.
„Sie stehen ja immer noch. Setzen Sie sich doch.“
„Ja – Danke – Tu ich.“, hauchte er ihr zu.
Sie strahlte. Er strahlte. Und die aufgehende Sonne tat es ihnen gleich. Letztere durchflutete die Küche, deren Erbärmlichkeit nun erst sichtbar wurde.
„Erzählen Sie doch etwas.“, forderte sie und bastelte aus einer Toilettenpapierrolle einen formschönen Kaffeefilter.
Nun war der Moment gekommen und er wagte das Wagnis.
„Ich liebe Sie!“
Die Worte waren gesetzt. Die Stille war förmlich zu hören. Selbst die Küchenuhr hielt den Atem an. Doch sie, der die vielsagenden Worte galten, brühte in aller Seelenruhe den Kaffee auf.
„Zucker?“
Mehr sagte sie nicht.
„Und Milch.“, stieß er mit bebender Stimme aus.
Er fühlte deutlich, wie der Raum von erotischem Knistern erfüllt war.
Schweigend saßen sie da und genossen den milchig süßen Kaffee, als hätte Amor persönlich ihn zubereitet.
Fasziniert blickte er nur in ihre Augen und bemerkte Nichteinmal wie ihm der Kaffee am Kinn herunterrann, weil die Strumpfhose im Wege war.
„Sag Du zu mir. Wenn sie wollen.“, meinte sie plötzlich.
„Ich will.“
„Du.“
„Du.“, erwiderte sie.
Mehr brauchte es nicht und ihre Liebe war mit diesem kleinen Wörtchen besiegelt. Er nahm sich ihrer nicht nur an, sondern bereits in der kommenden Nacht mit zur Arbeit. Und sie war eine gelehrige und fleißige Schülerin.
*
Nur wenige Tage später.
Da betrat ein Mann ein Strumpfwarenfachgeschäft.
„Wir haben immer noch keine Einbeinstrumpfhosen.“, murrte die Verkäuferin, die ihn gleich wieder erkannte.
„Zukünftig kaufe ich ein Paar Strumpfhosen.“, erklärte er und ließ sich ausgiebig die neue Kollektion zeigen.
Und als er schließlich zahlen wollte, stellte die Verkäuferin erschrocken fest, die Kasse war leer.
Notgedrungen schenkte sie ihm die Strumpfhosen, da sie keinen großen Geldschein wechseln konnte.
Sie sah ihm durch das Schaufenster nach, wie er in einen Wagen stieg. Und sie glaubte, nicht richtig zu sehen, denn in dem Wagen am Steuer, so ihre felsenfeste Meinung, hat ein Bär gesessen.
... Wegen Diebstahls wurde ihr noch am selben Tag gekündigt. Ihr Versuch, es einem Bären in die Tatzen zu schieben, scheiterte kläglich.
Denn noch nie in der Geschichte der Stadt, hat ein Bär in der Düsseldorfer Innenstadt einen Diebstahl begangen.
Beim Überführen von der Untersuchungshaft zum Gericht, konnte sie fliehen.
Vermutlich lebt sie in den Rocky Mountains und sucht nach dem untergetauchten wahren Täter.
Dir gefällt, was Rolf Bidinger schreibt?
Dann unterstütze Rolf Bidinger jetzt direkt: