Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.

Fundstücke

1) Wir haben keine Vorstellung davon, was auf uns zukommt

Die Kolumne von René Pfister warnt vor den gesellschaftlichen und zivilisatorischen Folgen der ungebremsten Entwicklung künstlicher Intelligenz (KI). Pfister kritisiert, dass Medien und Öffentlichkeit die Risiken zu lange ignorierten, ähnlich wie beim Aufstieg sozialer Medien, die Polarisierung und gesellschaftliche Zerrissenheit verstärkt hätten. Er beschreibt, wie KI bereits im Bildungsbereich genutzt wird, um Schülern und Lehrern Arbeit abzunehmen, wodurch wichtige Kulturtechniken wie eigenständiges Schreiben verloren gehen könnten. Pfister verweist auf den Essay des Princeton-Professors D. Graham Burnett, der die tiefgreifende Veränderung in der Geisteswelt betont, und auf Warnungen von Whistleblowern wie Daniel Kokotajlo, die vor katastrophalen Szenarien einer unregulierten KI-Entwicklung warnen. Er äußert Zweifel an Optimisten, die vor allem Chancen wie bessere Bildung, medizinische Durchbrüche und effizientere Roboter betonen. Stattdessen plädiert er für eine ernsthafte gesellschaftliche und politische Auseinandersetzung mit KI, um Gefahren wie Arbeitsplatzverluste, den leichten Zugang zu Massenvernichtungswaffen und die Manipulation menschlicher Emotionen zu verhindern. Ohne Regulierung drohe die Menschheit „die Kontrolle über eine Technik zu verlieren, die uns bald besser kennt als wir uns selbst“. (René Pfister, Spiegel)

Ich glaube, das ist alles etwas übertrieben. Wir hatten dieselbe Panik schon öfter. Im Bildungsbereich speziell darf ich darauf verweisen, welcher Buhai um Wikipedia gemacht wurde. Zu meiner Zeit war das DAS Thema, ständig mit den Befürchtungen, dass die Leute da nur rauskopieren. Inzwischen haben wir uns darauf eingestellt, dass das existiert, und Wege zum Umgang gefunden. Die LLMs sind natürlich nochmal eine Stufe krasser in den Auswirkungen, aber so verheerend, wie Pfister das hier darstellt, wird das nicht werden. Wir müssen "nur" einen Umgang damit finden. Auch werden mit Sicherheit Jobs durch die LLMs wegfallen. Aber es ist gut möglich, dass das ähnlich laufen wird wie bei der Einführung von Excel und Co: wir haben heute wesentlich mehr Buchhalter*innen als vorher, obwohl ein Großteil der klassischen Buchhaltungstätigkeiten dadurch überflüssig wurde. Die Technik hat neue und produktivere Jobs ermöglicht. Das wird, hoffentlich, bei LLMs auch so sein.

2) Die zwei Gesichter der Ann-Katrin Kaufhold

Der Artikel beschreibt die Positionen der SPD-Kandidatin Ann-Katrin Kaufhold für das Bundesverfassungsgericht. Kaufhold, Staatsrechtslehrerin an der LMU München, wird vorgeworfen, Klimapolitik zu stark mit richterlicher Arbeit zu verknüpfen. Kritiker sehen sie als „Klima-Aktivistin“, die Gerichte und Zentralbanken als Mittel nutzen wolle, um „unpopuläre Maßnahmen“ durchzusetzen, wenn Politik und Parlamente zu langsam handelten. Kaufhold äußerte, dass Institutionen wie Gerichte unabhängig seien und daher besser in der Lage, Klimaschutzmaßnahmen anzuordnen. Sie sieht Klimaklagen als „mächtigen Hebel“, um Unternehmen und Staaten zu disziplinieren. Gleichzeitig betont sie, dass das Bundesverfassungsgericht nicht dauerhaft gegen Mehrheitsmeinungen agieren könne und dass der Gesetzgeber handeln müsse, um drastische Freiheitsbeschränkungen zu vermeiden. Ihre Positionen, die mitunter der Post-Wachstums-Idee nahestehen, stoßen auf Widerstand. Gegner befürchten, dass sie wirtschaftliche Einbußen in Kauf nehmen würde, um Klimaziele zu erreichen. Der Artikel zeigt die Spannung zwischen juristischer Neutralität und politischem Engagement auf und verweist darauf, dass Kaufhold selbst auf diese Zielkonflikte hinweist. (Axel Bojanowski, Welt)

Das klassische Phänomen aller Aktivisten: Erfolg gebiert neue Ambitionen, und irgendwann überzieht man. Bojanowski hat hier an und für sich eine gute Recherche zu den Positionen einer Kandidatin, nur: seine Unterstellung, das disqualifiziere Kaufhold eventuell, basiert ausschließlich auf seinen politischen Präferenzen. Der Cicero ist gleich wesentlich offener und startet die nächste Delegitimierungswelle. Der Versuch, nach FBG gleich die nächste Kampagne gegen eine Mitte-Links-Kandidatin loszutreten, belegt unfreiwillig auch, worum es bei FBG eigentlich ging. Diese Politisierung des Bundesverfassungsgerichts ist ein schwerer Fehler. Es zeugt auch von einem geradezu grotesken Unverständnis über Verfassungsrechtsprechung und -interpretation, aber das ist ein ganz eigenes Thema. - Noch während ich diese Zeilen schreibe, radikalisiert die Welt den Diskurs weiter: jetzt streitet sie nicht mehr ab, dass es eine Kampagne um FBG gebe, sondern erklärt, dass es eine der Öffentlich-Rechtlichen Medien FÜR sie gebe. Wow.

3) NASA and the End of American Ambition

Der Artikel zeichnet den Niedergang von NASA und den parallelen Aufstieg von Elon Musk und SpaceX nach. Einst Symbol staatlicher Kompetenz und technischer Vision, ist NASA heute stark von privaten Unternehmen abhängig. Seit SpaceX 95 Prozent der US-Raketenstarts durchführt und über fast 8.000 Satelliten verfügt, ist Musk ein unverzichtbarer Partner der US-Regierung. Er kann staatliche Programme beeinflussen und internationale Politik mitbestimmen – wie etwa die Starlink-Nutzung im Ukrainekrieg zeigte. Die Erzählung kontrastiert die humanistische NASA-Ära mit Musks technokratischem, egozentrierten Ansatz. NASA stand einst für Forschung „für alle Menschen“, während Musk seine Mission, den Mars zu kolonisieren, als Schicksal begreift – ein Projekt, das Trillionen verschlingen könnte. Politische Konflikte, wie jüngst mit Donald Trump, zeigen die problematische Machtkonzentration. Während NASA wissenschaftliche Entdeckungen vorantreibt und globale Umweltprobleme dokumentiert, verdrängt SpaceX mit seiner Dominanz den ursprünglichen, kooperativen Geist der Raumfahrt. Die US-Regierung hat – aus Effizienzgründen – die Kontrolle über ihre Weltraumambitionen weitgehend an Musk abgegeben. (Franklin Foer, The Atlantic)

Dieser lange und grandiose Artikel lohnt die ausführliche Lektüre; diese Zusammenfassung kann ihm kaum genüge tun. Ich finde besonders interessant, wie beim Aufbau von NASA eine Monsterbehörde ins Leben gerufen wurde, in der Effizienz und Kompetenz massiv vorhanden waren - und wie beides dann in den 1970er Jahren verloren ging. Der Artikel stellt effektiv die These auf, dass dafür das Outsourcing verantwortlich war: je weniger NASA die Kompetenz besaß, die Dinge selbst zu tun, desto vorsichtiger wurde sie, gerade weil sie nicht mehr in der Lage war, überhaupt abzuschätzen, was die Folgen waren, und weil man zwar die volle Verantwortung besaß, aber keine Handlungsfähigkeit. Dazu kam die Feindschaft der Administration (und zunehmend auch der Medien), die Vorsicht ebenfalls extrem inzentivierte. Diese fehlenden Kompetenzen einerseits und die fehlende Handlungsfähigkeit andererseits, also dieses permanente Sich-Absichern, halte ich auch für einen zentralen Punkt, der sich auf die meisten Behörden erstreckt. Keine Handlungsfähigkeit, mangelnde Kompetenzen, aber gewaltiger Rechtfertigungsdruck. Das nur als einen Aspekt aus dem Artikel.

Der andere ist natürlich die Abhängigkeit von einem erratischen Privatmann, in die der Staat sich hier mit Kernkompetenzen begibt. Dass die Erreichung des Weltalls oder das Aufrechterhalten unserer Kommunikation von den erratischen Wünschen eines Exzentrikers (milde ausgedrückt) abhängen, ist ein riesiges Problem, gerade was die Sicherheitspolitik anbelangt. Diese Abhängigkeit wird über kurz oder lang noch zu einem riesigen Problem werden. Ich glaube zwar weiterhin, dass auch in demokratischen Staaten die Politik gegebenenfalls am längeren Hebel sitzt, aber die Disruption ist absehbar.

4) Was noch gutes Leben ist – und was schon ein Verbrechen

Der Gastbeitrag von Hedwig Richter thematisiert die weitreichenden Konsequenzen des jüngsten Gutachtens des Internationalen Gerichtshofs (IGH) zum Klimawandel. Dieses Gutachten, auf Initiative Vanuatus von den Vereinten Nationen beauftragt, stellt klar, dass Staaten künftig gegen internationales Recht verstoßen könnten, wenn sie keine Maßnahmen zum Klimaschutz ergreifen. Richter betont, dass die fortgesetzte Nutzung fossiler Energien die Menschenwürde angreife, da sie die Grundlagen für Leben, Gesundheit und Demokratie zerstöre. Die Autorin verknüpft historische Entwicklungen mit der aktuellen Klimakrise und erinnert daran, dass Demokratie und Grundrechte immer auch an körperliche Unversehrtheit gebunden seien. Während Industrialisierung und Wohlstand die Demokratie gestärkt hätten, hätten sie gleichzeitig ökologische Zerstörungen vorangetrieben. Heute seien „Menschenrechte und Demokratie durch neue existenzielle körperliche Bedrohungen in Gefahr“. Richter fordert eine neue Definition von Wohlstand und ein Ende der „destruktiven Normalität“. Das Gutachten zeige, dass fehlender Klimaschutz nicht nur moralisch, sondern juristisch als „Verbrechen“ einzustufen sei. Nur durch ein post-fossiles Leben könne Demokratie langfristig gesichert werden. (Hedwig Richter)

Ich halte Richters Herausarbeitung der Bedeutung von Körpern und der Verfügbarkeit über Körper, die sie schon in ihren beiden Geschichten der Demokratie (hier, hier und hier rezensiert) thematisiert hat. Ich würde vermuten, dass es in ihrem aktuellen Forschungsprojekt (auf dessen Buchform ich sehnlichst warte) auch wieder eine Rolle spielen wird. Gleichzeitig muss ich sagen, dass ich mit Richters Degrowth.Radikalismus nichts anfangen kann. Es mag sogar sein, dass eine Bekämpfung der Klimakrise die Art von Verzicht erfordern würde, die sie einfordert, aber ich halte sie unter den aktuellen Umständen für politisch überhaupt nicht umsetzbar und zudem eher für kontraproduktiv, einmal abgesehen davon, dass niemand begeistert "hier" schreien wird. Ich will diese Einschränkungen des "post-fossilen Lebens" ja auch nicht, und ich stehe ihr glaube ich offener gegenüber als der Großteil der Bevölkerung.

5) Wir brauchen Strategien gegen die Bullshitflut

Die Kolumne von Christian Stöcker beleuchtet die zunehmende strategische Verbreitung von Falschinformationen in der Politik und deren schädliche Wirkung auf die Demokratie. Er verweist auf das psychologische Phänomen der „Wahrheitsillusion“: Je häufiger eine Behauptung wiederholt wird, desto glaubwürdiger erscheint sie. Dieses Prinzip werde von populistischen und rechtsextremen Akteuren wie der AfD gezielt genutzt, etwa durch falsche Aussagen über Migration oder Energiepreise. Stöcker kritisiert, dass Faktenchecks meist zu spät und mit geringerer Reichweite erfolgen. Selbst nachträgliche Korrekturen („Debunking“) hätten oft wenig Effekt, da viele Menschen lieber an Falschinformationen festhielten, die in ihr Weltbild passen. Hoffnung gebe das Konzept des „Prebunking“: Aufklärung vorab könne die Anfälligkeit für Desinformation senken. Er fordert daher insbesondere in Live-Formaten wie Talkshows obligatorische Live-Faktenchecks mit Teams und technischer Unterstützung. „Wenn die Lüge nicht sofort entlarvt wird, hat der Lügner schon gewonnen“, so Stöcker. Öffentlich-rechtliche Sender hätten dabei eine besondere Verantwortung. Live-Korrekturen könnten die Reichweite von Lügen deutlich verringern und den demokratischen Diskurs stärken. (Christian Stöcker, Spiegel)

Ich bin extrem skeptisch gegenüber der Idee dieser Faktenchecks. Dahinter liegt die Prämisse, dass sich das so einfach abprüfen und abbilden lassen würde, und die bisherige Erfahrung mit Faktenchecks zeigt eher das Gegenteil. Die Dinger haben in den USA mittlerweile eine lange Tradition, und es ist jetzt nicht eben so, als hätten sie dabei geholfen, gegen die Bullshitflut anzugehen. Im Gegenteil, der Bothsiderismus hat eher dazu geführt, dass der Eindruck von "die lügen doch alle" sich verfestigt hat, weil die faktencheckenden Medien sich bemüßigt fühlen, bei allen Seiten etwas zu finden, um ihre scheinbare Objektivität unter Beweis zu stellen (nicht, dass das helfen würde). Stöcker imaginiert die Faktenchecks glaube ich als Waffe gegen die AfD, aber das würde nur funktionieren, wenn die Medien sie als solche einsetzen würden, und dann haben wir jeden Objektivitätsanspruch aufgegeben. Wesentlich erfolgversprechender ist schon das "Prebunking", aber letztlich ist unser Problem mittlerweile ein ganz anderes: ein immer größerer Teil der Bevölkerung spaltet sich in eine parallele Medienwelt ab, und in der gelten ganz andere Regeln. Wir haben das ja in Fundstück 2 etwa. Welches Faktenchecking würde man denn bitte im Fall FBG machen? Wenn schon eine Zeitung wie die Welt eine komplett andere "Fakten"basis hat (erneut, ich halte Fakten für wesentlich überbewertet und weniger auffindbar als gerne getan wird), wie soll das erst mit AfD, NIUS und Co laufen?

Resterampe

a) Die Meinungsfreiheit ist immer gar nicht so sehr in Gefahr, und Störungen müssen immer gar nicht so ausgehalten werden, wenn es ins Weltbild passt. (Welt)

b) Wir müssen aufhören, das Rechtsextreme zu tätscheln. (Stern)

c) Nein, die Pressefreiheit in den USA ist nicht in Gefahr (Welt).

d) Zum vorletzten Vermischten, als ich zur Symbolpolitik bei Abschiebungen schrieb. (Spiegel)

e) Für Stefans Sozialstaatsdebatte ganz gute Ergänzung. (Wirtschaftswoche)

f) Sehr guter Artikel zu Bezos und der Washington Post. (TPM)

g) Republicans Want to Redraw America’s Political Map (The Atlantic). Wie immer.

h) Americans Are Starting to Sour on Tax Cuts (The Atlantic).

i) Interview mit Jürgen Zimmerer zur Erinnerungskultur. (DLF) Ich teile seine Kritik an Weimer, aber nicht seine Haltung zur Rolle des Kulturstaatsministers. Auch halte ich die "bottom-up"-Theorie für romantisiert.

j) Bilanz von DOGE. (Twitter)

k) Häusliche Gewalt ist auf einem Höchststand. (ZEIT)


Fertiggestellt am 02.08.2025

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