Der kluge Max Goldt meinte als Betroffener mal, eine Schreibblockade sei nicht etwa auf kreatives Ausgetrocknetsein zurückzuführen, also darauf, dass man keine oder kaum mehr Ideen habe, sondern im Gegenteil darauf, dass einem viel zu viel im Kopf herumginge. So geht es mir seit gut einer Woche. Es ist einfach zu viel. Zu viel Information, zu viel Meinung, Analyse und was weiß ich. Overflow. So wird man momentan - no pun intended - zugeballert mit Psychogrammen über Putin. Was ist er für ein Mensch? Was treibt ihn um, was treibt ihn an? Von hospitalisierungsbedürftiger, tablettensüchtiger Psychopath bis eiskalt kalkulierendes macchiavellistisches Superhirn ist für jeden Geschmack was dabei. Alles von Leuten, die sich als Experten für irgendwas oder Berater von irgendwem gerieren, sich in irgendwelchen Kreisen bewegen und es wissen müssen, so wird der Eindruck erweckt. Stellt sich aber nicht ein. Was in der Gesamtschau rauskommt, ist bloß Nebel und Quark.
"Entscheidend ist, was hinten rauskommt." (Kohl)
Keine Ahnung auch, was so viele Linke in die Arme Putins treibt (Eberling). So sehr, dass sie in Teilen das Medienbild der 'Querdenker' 1 : 1 adaptiert haben. Wo die überall gleichgeschaltete Pharmapropaganda am Werk sehen, sehen Putinquerdenker' (sorry, habe gerade keine schlauere Bezeichung parat) überall nur noch Kriegstreiberei und Kriegsgeheule gegen Den Russen(TM). Ich mag mich täuschen, aber jenseits der Tatsache, dass gerade ein paar knalldumme bis peinliche Dinge passieren, und dass ein paar rechte Unionisten und rechtsbürgerliche Medien schon wieder Panzerdivisionen gen Osten rasseln sehen, finde ich schon, dass die Medien sich überwiegend bemühen, Ross und Reiter zu nennen. Und ja, es gibt ein Meinungsspektrum. Es ist sogar quasistalinistisches, autoritäres Getröte zu lesen von wegen, Putin habe dem Westen eine "Lektion" erteilt. Alles da.
Wahrscheinlich ist es was Psychologisches. Der Hass auf den von ihnen gern so genannten 'Wertewesten' ist so groß, dass der Feind des Feindes halt irgendwie zum Freund wird oder wenigstens zum Alliierten. Ungeachtet der Tatsache, dass in Russland Korruption und Kapitalismus noch weit brutaler wüten als im Westen. Oder so. Ich weiß es doch auch nicht. Mehr noch: Selten wurde mir brutaler vor Augen geführt, wie wenig ich eigentlich weiß.
"There is a strong argument that Nato should have been disbanded at the end of the cold war. But while Putin's sense of threat seems to have been heightened by Nato expansion and mission creep, Nato expansion has also been driven in part by Putin's belligerence. Are we really to believe that Estonia and Latvia joined because they wanted to attack Russia? On the contrary, it's because they fear attack. While Nato's growth is likely to have contributed to the crisis, it's ridiculous to suggest that Russia is not the aggressor. [...] True anti-imperialism means opposing not only the west's imperialism, essential as this is. It's about opposing all imperialism, whether western, Russian, Chinese or other. It's about opposing all aggressive wars, regardless of who wages them. It's about resisting the temptation to believe that your enemy's enemy must be your friend." (George Monbiot)
Keine Ahnung auch da. Einigermaßen sicher bin ich mir hingegen, dass der in rechtsbürgerlichen Kreisen verbreitete, zur Staatsdoktrin geronnene Antikommunismus der Nachkriegszeit und des Kalten Krieges etwas zu tun hatte mit Schuldabwehr: Wer tapfer an vorderster Front stand gegen die Kommies, wurde vom großen Verbündeten nicht mehr auf diese lästige NS-Vergangenheit angesprochen. So erklärt sich auch der irrationale Hass vieler Rechter/Bürgerlicher damals auf Willy Brandt: Das Gegeifer, das süffisante Getue mit dem 'fahnenflüchtigen' 'Herrn Frahm' war die eine Seite, vordergründig. Hintergründig dürfte da bei einigen auch Neid im Spiel gewesen sein auf einen, der etwas getan hatte, für das man selbst zu bequem war oder zu feige oder für das einen die Mittel fehlten, und der nun moralisch über einem stand.
(Mir fiel übrigens die Tage ein, dass auch ich Kriegsgewinnler sein könnte. Könnte wetten, meine Kapitallebensversicherung investiert zur Mehrung der Rendite auch in Aktien von Rüstungsunternehmen. Aber auch das weiß ich natürlich nicht.)
Das Interessante ist ja, dass es für Russland absolut nichts zu gewinnen gibt in diesem Krieg. Nada. Niente. Klar, die Ukraine verfügt über ein paar Ressourcen (riesige Weizenfelder, etwas Industrie), das ist aber nichts, was einen wirtschaftlich an die Sonne bringen würde. Selbst eine vollständige Eroberung und Annexion der Ukraine würde den Wohlstand des neuen vergrößerten Russland erst einmal nicht mehren, eher im Gegenteil. Der einzige Gewinn ist ein geostrategischer Vorteil in Mittel-/Osteuropa. Der rechtfertigt offenbar, die strategischen Reserven zu verpulvern und die nahezu vollständige politische Isolation. Weil man einen strategischen Vorteil aber nicht essen und sich nichts kaufen kann dafür, hat die Bevölkerung in Russland, der es größtenteils auf lange Sicht schlechter gehen wird, davon nichts (was wiederum den Westen zur immer attraktiveren Alternative für viele werden lässt). Es muss also ein Narrativ geschaffen werden, wofür man eigentlich kämpft. Und da kommt Gevatter Kulturkampf ins Spiel:
"Die Putins dieser Erde haben kein Problem mit Ausbeutung und versprechen keinen Wohlstand, sondern die Anknüpfung an Größe und Macht verblichener Imperien. Die Freiheit, von der sie reden, ist die Freiheit von einer, mehr eingebildeten als realen, Bevormundung von außen. Ihre Werte heißen Heimat, Tradition und in diesem Sinne Familie, also inklusiver klarer Geschlechterrollen." (Deniz Yücel)
Daher verkündete Patriarch Kyrill I., der als Unterstützer Putins gilt, am Sonntag auch, wofür man in den Krieg zöge: Die wahren Aggressoren seien die Schwulen bzw. jene Mächte, die andauernd Gay Pride-Paraden veranstalten. Davor gelte es, die darunter leidenden, gottesfürchtigen Menschen im Donbass zu schützen. Diese Paraden fänden nicht etwa deshalb statt, führte der Pfaff' weiter aus, um für Gleichberechtigung zu kämpfen, sondern lediglich auf Druck, "um in den Club dieser Länder aufgenommen zu werden". Soso. Das mit der Homo-Verschwörung wusste man aber schon vor knapp hundert Jahren:
"Es gibt bekanntlich drei wahrhaft internationale Mächte: die katholische Kirche, die Homosexuellen und Standard Oil. Zu ihnen gesellt sich die Nation als die vierte." (Kurt Tucholsky)
Angeblich sind am Wochenende in Russland 4.400 Menschen verhaftet worden, die gegen den Krieg in der Ukraine demonstrierten und damit mehr Mut bewiesen als alle Querdenker und Spaziergänger zusammen. Man wird Wege finden müssen, diese Menschen irgendwie zu unterstützen. Immerhin darin bin ich mir sicher.
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