Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.
Fundstücke
1) "Wer will denn wen jetzt verurteilen und wofür?"
In Bad Freienwalde wurde ein queeres Stadtfest des Bündnisses „Bad Freienwalde ist bunt“ von einer mutmaßlich rechtsextremen Gruppe überfallen. Rund 10 bis 15 vermummte Angreifer traten gewaltsam auf, einige mit Knüppeln und Quarzhandschuhen bewaffnet. Vier Menschen wurden leicht verletzt. Der Angriff wurde durch das Eingreifen von Ordnern rasch beendet. Der Staatsschutz ermittelt wegen schweren Landfriedensbruchs, eine Verbindung zur rechtsextremen Partei „Der Dritte Weg“ wird geprüft. In der lokalen Politik wird das Geschehen jedoch relativiert. Während SPD und Bündnisvertreter von einem gezielten Angriff sprechen, nennt CDU-Bürgermeister Ralf Lehmann den Vorfall lediglich eine „Störung“. Die AfD stellt die Glaubwürdigkeit der Darstellung infrage und spricht von einer möglichen „Inszenierung“. Einige Bürger äußern ebenfalls Zweifel am Hergang. Beobachter sehen darin eine bewusste Verschiebung der Deutungsebene. In Ostdeutschland wird die Pride-Bewegung zunehmend zur Gegenbewegung gegen den Rechtsruck. Queere Menschen berichten von wachsender Angst, doch auch von einer starken Bindung an ihre Region. Mitglieder des Bündnisses betonen, dass sie sich nicht einschüchtern lassen wollen. Die Auseinandersetzung in Bad Freienwalde verdeutlicht nicht nur eine Eskalation rechter Gewalt, sondern auch ein politisches Ringen um öffentliche Wahrnehmung und Solidarität. (Valerie Schönian, ZEIT)
Das Vorgehen hier ist auch ein typisches, das sich unabhängig von politischer Gesäßgeografie findet. Genauso, wie Linke sehr gut darin sind, den Schwarzen Block bei Maikrawallen zu ignorieren oder Begründungen für Gewalttaten der Antifa zu finden und diese zu relativieren - oder Hausbesetzende als das eigentliche Opfer darzustellen, wenn sie Polizei attackieren -, genauso haben wir hier seitens der Rechten eine Relativierung von Gewalt gegenüber von ihr ungeliebten Gruppen. Dass das alles nichts Neues ist, macht es übrigens nicht besser. Schönian hat auch absolut Recht damit, dass es darum geht, dass um ein Ringen um die Deutungshoheit geht. Erklärt man das zu einer möglicherweise auch noch provozierten "Störung", ist der eigene Gegner schuld. Da muss man dann gar nicht auf der Seite der Täter*innen stehen, man kommt bei den gemeinsamen Gegnern rum.
2) Orban’s Hungary is now officially the poorest nation in the EU
Laut aktuellen Daten von Eurostat ist Ungarn nun offiziell das ärmste Land der EU, gemessen am realen Konsum der Haushalte (Actual Individual Consumption). Mit nur 72 % des EU-Durchschnitts liegt das Land deutlich hinter anderen Mitgliedstaaten – auch hinter Polen, das auf 85 % kommt. Obwohl das ungarische BIP 77 % des EU-Durchschnitts erreicht, kommt dieses Wachstum nicht bei den Bürgern an. Die Diskrepanz zwischen makroökonomischer Leistung und Lebensstandard ist Ausdruck tiefgreifender struktureller Probleme. Die Ursachen werden vor allem in der Politik Viktor Orbáns gesehen: Staatsbetriebe seien systematisch ausgehöhlt, Subventionen bevorzugt an politische Verbündete verteilt und EU-Gelder zweckentfremdet worden. Gleichzeitig kämpfen viele Ungarn mit hoher Inflation, niedrigen Reallöhnen und einer schwindenden Mittelschicht. Besonders junge Menschen kehren dem Land zunehmend den Rücken. Ein aktuelles Meinungsbild zeigt, dass die Oppositionspartei Tisza unter Péter Magyar inzwischen deutlich vor Orbáns Partei Fidesz liegt – mit 51 % zu 36 % unter den entschiedenen Wählern. Unter 40-Jährige unterstützen Tisza sogar mit 58 %. Das deutet auf einen politischen Umbruch hin, der über Ungarn hinausreichen könnte: Ein Machtwechsel in Budapest würde auch den Einfluss Moskaus in EU und NATO schwächen. (Kyiv Insider)
Ein korruptes, autokratisches Regime bedient sich selbst und veruntreut Steuergelder und Subventionen? Schocker. Ich frage mich, wie viel der aktuelle Schwung in dem Umfragen gegen Fidesz auch auf diesen ökonomischen Realitäten beruht. Wenn es Orban nicht mehr schafft, seine eigene Klientel zu versorgen (was ihm ja früher durchaus gelungen ist), wenden sich die Leute ab. Wir hatten das Thema letzthin bei der Resilienz von Demokratien: Bei solchen Themen sind die Autokratien tatsächlich sensibler gegenüber der Haltung und Meinung der Bevölkerung, weil sie viel weniger in der Lage sind, produktiv darauf zu reagieren.
3) The United States Bombed Iran. What Comes Next?
Der Artikel beschreibt, dass Donald Trump entgegen früherer Versprechen nun doch militärisch im Nahen Osten interveniert hat – mit einem Angriff auf iranische Nuklearanlagen. Trotz des offiziellen Statements, die iranischen Atomanlagen seien „vollständig zerstört“, bestehen Zweifel an der tatsächlichen Wirkung. Gleichzeitig wurde Iran über diplomatische Kanäle signalisiert, dass keine weiteren Angriffe folgen sollen. Diese Widersprüchlichkeit zeigt sich auch in Trumps Botschaften selbst. Drei mögliche Szenarien werden skizziert: optimistisch, pessimistisch und gemischt. Im besten Fall könnte der Angriff Irans Atomprogramm massiv zurückwerfen, die politische Instabilität im Land erhöhen und einen Regimewechsel begünstigen. Im schlimmsten Fall könnten jedoch nicht alle Anlagen zerstört worden sein, was Iran zu einem beschleunigten Atomwaffenbau treiben und zu militärischen Gegenangriffen führen könnte. Ein mittleres Szenario hält eine zeitliche Verzögerung des Programms für wahrscheinlich, ohne dass das Regime stürzt oder die Bedrohung verschwindet. Unvorhersehbare Reaktionen Irans, diplomatische Rückschläge und die mangelnde Kompetenz in Trumps Sicherheitsteam werden als Risiken genannt. Die Aktionen erscheinen damit weniger als strategisch geplante Maßnahmen, sondern als riskantes politisches Kalkül mit hohem Eskalationspotenzial. (Tom Nichols, The Altantic)
Ich finde es super wichtig, darauf hinzuweisen, dass wir schlicht nicht wissen, was passieren wird - und es nicht wissen können. Auch Trump und Netanyahu, Merz und die Ayatollahs wissen das nicht und können es nicht wissen. Das ist gerade die Kernrealität von Krieg: er ist unsicherer, unklarer als jede andere Art der Konfliktaustragung, aber auch endgültiger. Rüstungskontrollabkommen, mit denen etwa Obama die Sache angehen wollte, sind liberaler, töten weniger Menschen, sind berechenbarer, sind aber auch leichter zu umgehen und zu revidieren. Ob Trump und Netanyahu hier ihre Ziele erreicht haben oder nicht wird sich erst in Monaten, wenn nicht Jahren sehen lassen. Wir haben ja nach über drei Jahren immer noch keine Antwort darauf, wie erfolgreich Putins Angriff auf die Ukraine war. Zum Weiterlesen für Interessierte: Adam Tooze kommentiert die neue technologische Radikalität des Konflikts.
4) Dann hat der Souverän eben leider Pech gehabt
Der Artikel thematisiert das wachsende Gefühl politischer Ohnmacht in Deutschland und Europa. Dieses entstehe, so die Darstellung, wenn demokratisch mehrheitsfähige Positionen – etwa zur Zurückweisung von Migranten an der Grenze oder zum Erhalt des Verbrennungsmotors – durch Gerichte oder supranationale Institutionen blockiert würden. Dies untergrabe das Vertrauen in die Demokratie, da politische Willensbildung nicht mehr zu konkreten politischen Ergebnissen führe. Als zentrales Problem wird die Machtverlagerung auf die EU benannt. Nationale Parlamente und Regierungen hätten oft keine Möglichkeit mehr, einmal übertragene Kompetenzen zurückzugewinnen. Beispielhaft werden hier das faktische Verbot des Verbrennungsmotors, die Datenschutzgrundverordnung und das alleinige Initiativrecht der EU-Kommission genannt. Auch die Rechtsprechung internationaler Gerichte, etwa im Fall des britischen Wahlrechts für Gefangene, wird als Einschränkung demokratischer Selbstbestimmung gedeutet. Zugleich wird kritisiert, dass Gerichte zunehmend politische Fragen beantworten würden. In der Folge würden Grundrechte durch eine kleine, lautstarke Minderheit gegen den Mehrheitswillen durchgesetzt. Dies führe zu einer Entfremdung zwischen Volk und politischem System. Um diesen Prozess aufzuhalten, müsse die „Selbstwirksamkeit des Souveräns“ gestärkt werden. (Kristina Schröder, Welt)
Ich kritisiere genau das schon öfter. Es ist wenig überraschend, dass Schröder das auf ihre eigenen Themen anwendet, aber das liegt in der Natur der Sache. Der Rechtsstaat ist immer heilig, wenn er schützt, was einem wichtig ist, und pacta müssen immer servanda sein, wenn sie den eigenen Ansichten entsprechen. Beides steht immer gerne zur Disposition, wenn es die eigenen Vorstellungen blockiert, wobei dann gerne ein argumentum ad populum verwendet wird; die Mehrheit, Sie verstehen. Aber Schröder hat eben einen Punkt: es IST ein Problem, wenn die Politik ständig mit den Schultern zuckt, weil sie bestimmte Probleme eben aus rechtlichen Gründen nicht lösen kann. Was sie dabei geflissentlich ignoriert ist, dass es gerade Konservative und Liberale waren, die die Voraussetzungen dafür geschaffen haben, weil sich dadurch (unerwünschte) Staatstätigkeit einschränken lässt. Nur ist das Problem eben, dass das Recht parteipolitisch farbenblind ist. Die EU kann genauso Schuldenbremsen einführen wie sie Rechte von Flüchtlingen schützen kann. Eventuell sollte man sich das einfach vorher überlegen, bevor man den Souverän in einer Situation entmachtet, in der es den eigenen Vorstellungen genügt. Das sei als Warnung auch denen ins Stammbuch geschrieben, die Klimaschutz über das BVerfG durchzusetzen hoffen.
5) Berlin darf autofrei werden
Das Berliner Verfassungsgericht hat das Volksbegehren „Berlin autofrei“ als zulässig erklärt. Mit acht zu einer Stimme entschieden die Richter*innen, dass der Gesetzentwurf zur Reduzierung des Autoverkehrs im Innenstadtbereich juristisch nicht zu beanstanden sei. Die Initiative sieht vor, Privatpersonen nur noch zwölf Fahrten pro Jahr im S-Bahn-Ring zu gestatten – mit Ausnahmen für etwa Wirtschaftsverkehr oder Taxis. Das Gericht wies die Einwände des Senats zurück: Weder Eigentums- noch Handlungsfreiheit würden verletzt, da kein Grundrecht auf „hemmungsloses Autofahren“ existiere. Auch die Gesetzgebungskompetenz Berlins wurde bestätigt, da es sich um das Straßenrecht des Landes handle. Die Einschränkungen seien laut Gericht „zumutbar“, da sie dem Schutz von Leben, Gesundheit und Klima dienten – allesamt verfassungsrechtlich hochrangige Ziele. Politisch stößt das Vorhaben auf Skepsis. SPD, CDU, Grüne und Linke zweifeln an der Umsetzbarkeit, warnen vor Polarisierung und fordern eine Verkehrswende mit breiter Akzeptanz. Die Initiative rechnet damit, dass das Abgeordnetenhaus den Entwurf ablehnt, und bereitet sich auf eine zweite Unterschriftensammlung vor. Das Urteil wird als bedeutender Schritt hin zu einer menschenfreundlicheren Stadtplanung gewertet. (Marie Frank, taz)
Ich stimme den Kritiker*innen komplett zu; dieses Volksbegehren ist, milde ausgedrückt, unrealistischer Quatsch, und die Grünen sollten es nicht einmal mit der Beißzange anfassen (nicht, dass das viel helfen wird, fürchte ich). Die Aktivist*innen erweisen ihrer Sache hier wenigstens kurzfristig einen Bärendienst. Allerdings ist das Verfahren sehr wertvoll, weil es einerseits die ideologische Autozentriertheit der CDU und SPD offenlegt und andererseits einen wichtigen rechtlichen Präzedenzfall schafft. Die ständige Leier, wie sie ja auch hier im Blog gerne gefahren wird, dass Ideen zu weniger Autos irgendwie vage verfassungsfeindlich seien, könnte dadurch wenn nicht beseitigt, so doch wenigstens wesentlich leichter gekontert werden.
Resterampe
a) Perverse Politik. (Bluesky) Das Asylrecht existiert schlicht nicht mehr.
b) Wo wir gerade bei pervers sind... (The Guardian)
c) Und hier! (Kansas Reflector)
d) Die AfD arbeitet weiter an ihrem Projekt, die deutsche Geschichte national neu zu interpretieren. (History Workshop) Ich glaube, die stößt da auch in tiefe Lücken, weil diese Geschichte kaum einer kennt. Ankerheuristik und so.
e) Trump hat seit seinem Amtsantritt 2,9 Milliarden Dollar in Krypto gemacht. (CBS) Jimmy Carter musste seine Farm aufgeben. Hunter Biden war Stefans Grund, warum Harris unwählbar war. Clintons Sprechgagen waren ein Riesenskandal. Das interessiert keine Sau. Korruption in einem Ausmaß, das jeder Beschreibung spottet.
f) Endlich mal wieder ein Artikel zum richtigen Umgang mit der AfD :D (Spiegel)
g) Kritik konservativer Politikperformance. (taz)
h) Sehr wahr zu Tucker Carlson. (Twitter)
j) How My Reporting on the Columbia Protests Led to My Deportation (New York Magazine). Und bei Poschardts sind immer noch radikale Studierendengruppen auf einigen Campussen das Problem für Meinungs- und Pressefreiheit.
k) An einem ordentlichen Spahn-Bashing ist echt schwer vorbeizugehen. (Twitter)
l) So von wegen man muss mit allen Seiten reden und so. (Twitter)
m) Es ist echt zum Mäusemelken, dass sich dieses Narrativ in den Medien ständig hält; ist in Deutschland ja ähnlich. (Bluesky)
n) Rechtsextreme Provokationen von Schülern in Auschwitz – fast schon normal? (News4Teachers) Boah, nervt mich diese Debatte. Nein, nicht fast schon normal. Ich würde mal vermuten, dass wenn man mit rechtsextremen Schüler*innen hingeht, die rechtsextreme Dinge tun, und wenn nicht, nicht.
o) Wer hat Angst vor Peter Thiel?(Welt) "In Deutschland herrscht Atemnot, wenn ein Libertärer sagt, dass Demokratie und Freiheit nicht vereinbar sind. Die geistige Gemütlichkeit „unserer Demokratie“ regt eben nicht gerade zum Nachdenken an." Anna Schneider ist echt so verstrahlt. Mal davon abgesehen, dass ich nicht wissen will, wie fröhlich sie nachdenken würde, wenn ein Grüner gesagt hätte, dass Demokratie und Freiheit nicht vereinbar seien.
p) Republicans, not Democrats, have a messaging problem. (Washington Monthly) Here's to hoping.
q) Die Anthropologie des Eigennutzes. (Politische Ökonomie)
r) Olaf Scholz: Kritik an üppiger Ausstattung für Kanzlerbüro (Spiegel). Jedes Mal die gleiche Scheiß Debatte.
s) Warum die Methode Reichinnek funktioniert – und die Methode Nietzard nicht (Spiegel).
t) Kritik an der Rezeption der letzten LLM-Studie (Free Press). Siehe auch hier.
u) Leider zutreffend. (Twitter)
v) Artikel zum Haushalt 2025 (Economist).
w) Jens Spahn sollte sich nach Maskenaffäre aus der Politik zurückziehen (Spiegel). So ein Quatsch, der ist doch nicht bei SPD oder Grünen!
x) Da les ich die Überschrift und den ersten Satz vom Teaser und denke nur so "oh mein Gott, ja" und dann kommt ein "und die Grünen sind Schuld", was angesichts der Langlebigkeit dieser Debatte reichlich albern ist. (Welt) Siehe zum eigentlichen Thema auch den Spiegel: Iran-Krieg und Völkerrecht: Legal, illegal, scheißegal?
y) Schaut mal bei den beiden direkt hintereinander veröffentlichten Artikeln in der Welt, wessen Meinungsfreiheit wichtig ist: Die Meinungsfreiheit gilt für alle und Der Schulfrieden ist wichtiger als das Recht der Lehrerin auf ein Kopftuch. Merkt jemand den feinen Unterschied?
z) Guter Artikel im Spiegel zur kognitiven Dissonanz im Umgang mit Trump und Netanyahu. (Spiegel)
Fertiggestellt am 27.06.2025
Dir gefällt, was Stefan Sasse schreibt?
Dann unterstütze Stefan Sasse jetzt direkt: