Jetzt ist es passiert. Wochenlang ging alles gut. Doch nun
ist das Unausweichliche eingetreten. Die Katastrophe.
Dabei hatte ich alles versucht, um dem zu entgehen. Selbst
vor Pillen scheute ich nicht zurück. Abend für Abend lag ich
im Bett und habe sämtliche Heilige angefleht, dass mir
dieses Schicksal erspart bleibt. Und gerade als ich dachte
alles läuft perfekt, da trifft es mich mit einem Male mit
voller Wucht. Ohne Ankündigung, ohne eine Vorwarnung.
Im ersten Augenblick konnte ich es nicht fassen. Doch nach
vier Stunden hatte ich die Gewissheit. Da hilft kein Zetern,
Brüllen oder Verzweifeln. Jetzt hatte es also mich erwischt.
Manch einer vor mir hat sich deswegen das Leben
genommen, manch eine Existenz wurde dadurch zunichte
gemacht. Ich sah mich schon unter einer Brücke schlafen, da
mir nichts mehr geblieben ist, außer einer Flasche Penner-
glück, die mein einziger zuverlässiger Freund ist. Ausge-
stoßen von der Gesellschaft, von der Familie verstoßen, von
Freunden gemieden. Allein auf Gottes weiter Welt. Alles
verloren! Heute Morgen, kurz nach elf, ist mein Leben aus den
Fugen geraten. Ich sitze, wie allmorgendlich, in meinem
Lieblingscafé. Es ist eine Mischung aus Buchhandlung und
Café. Hier ist die Atmosphäre, die ich immer gesucht habe.
Je nach Witterung sitze ich draußen oder drinnen. Genieße
über Stunden meine zwei Milchkaffees. Dazu ein Glas
Leitungswasser auf Kosten des Hauses. Mehr gibt mein
Tagesbudget nicht her. Und hier bekomme ich die
Inspiration, die ich brauche, um endlich mein erstes Buch
fertigzustellen, um es zu veröffentlichen, damit es hundert-
tausende von Lesern kaufen können. In Gedanken stelle ich
mir vor wie lange Schlangen vor den Buchhandlungen
anstehen, Amazon Doppelschichten fahren muss, um die riesige Bestellliste abzuarbeiten und mein Buch auszu-
liefern. In jedem Bücherregal meiner Familie und Freunde
würde es stehen. Neben Goethe, Schiller, Grass und Heyne,
da stehe ich. Stolz bekomme ich den goldenen Schlüssel
meiner Stadt überreicht. Studenten schreiben darüber ihre
Magisterarbeiten. Manche Doktorarbeit wird über mein
Werk verfasst. Die Literaturkritiker dieses Landes versuchen
mein Buch mit Elogen zu würdigen. Die größten Staats-
theater überbieten sich in dem Ehrgeiz, die ersten zu sein,
die mein Werk dramatisieren und die Welturaufführung an
ihrem Hause als erster herauszubringen. Die berühmtesten
Produzenten kämpfen bis aufs Messer um die Filmrechte.
Eine Talkshow ohne mich wird von den Zuschauern
boykottiert. Predigten haben mein Buch als Grundlage. Mir
steht die Welt offen. Lediglich das Ansinnen, mich als
Kandidat zum Bundespräsidenten aufstellen zu lassen,
weise ich mit aller Entschiedenheit zurück. Jemand wie ich,
der solch ein grandioses, weltweit verehrtes Dokument
literarischer Raffinesse geschrieben hat, stellt sich keiner
profanen Wahl. Wer sollte auch der ebenbürtige Gegner
sein? Kaiser und Könige werden mich empfangen, bezie-
hungsweise umgedreht. Man wird zu mir kommen. Was
heißt kommen? Hin pilgern werden sie. Hin zur Stelle meines
Ruhmes, da, wo der Meister dieses Werk erschuf, in das
kleine, unscheinbare Eckhaus, welches den Buchladen mit
Café beherbergt. Und die beiden Buchhändler sonnen sich
in meinem Erfolg. Sie sind dem Ansturm kaum gewachsen.
Denn Scharen von Lesern strömen dorthin, um sich meine
Wirkungsstätte anzusehen. Inzwischen sind dort alle zweit-
klassigen Bücher verbannt, denn man braucht den Platz für
mein Buch. Daneben gibt es auch Reliquien zu bestaunen. Mein
treues Laptop, meine alte Lesebrille, die erst den Erfolg
ermöglichte, meine Lieblingsmilchkaffeetasse, die inzwischen berühmte Zuckerdose. Der alte, abgewetzte rote
Lieblingssessel, wo ich wochenlang saß, ist nun gut-
geschützt in einer Glasvitrine, damit kein normal Sterblicher
darin Platz findet und ihn so entehrt. Elektronisch gesichert
und von zwei Sicherheitskräften bewacht, ist mein alter
Rucksack zu bestaunen, der treue Dienste leistete, wenn es
galt das Laptop zu befördern. Der Original-Bidinger-
Milchkaffee ist der absolute Verkaufsschlager und wird
inzwischen sogar ins Ausland exportiert. Das berühmt-
gewordene Leitungswasser kann man nur dort in Flaschen
abgefüllt erwerben. Coca Cola kämpft mit Evian um die
Lizenzrechte. T-Shirts mit meinem Konterfei finden
reißenden Absatz. Mein ganzer Kleidungsstil wird von der
Jugend Europas nachgeahmt. Mein Siebentagebart wird
zum Symbol freiheitlichen Denkens. Unrasiert gilt als
absolutes Muss. Hardcorefans lassen sich in einer schmerz-
vollen Schönheitsoperation sogar Tränensäcke hinzu-
modellieren. Meine Brustbehaarung gilt als Schönheits-
ideal, dem einige Männer sogar nacheifern und sich Haare
dort implantieren lassen. Sogar einige Frauen entschließen
sich dazu. Eine Online-Petition verlangt sogar die Umbe-
nennung meiner Heimatstadt nach mir. Lediglich die
wöchentliche Konsultation mit dem Bundeskabinett, zur
Lage der Nation, ist etwas anstrengend. Doch ist mein Rat
dort dringend erforderlich. Und für mein Land bin ich zu
jedem Opfer bereit. Neugeborene Jungen erhalten meinen
Namen. Für neugeborene Mädchen wird noch eine Lösung
gesucht, da ich mich gegen Rolfine ausgesprochen habe.
Höhepunkt meiner verdienten Huldigung aber war, als man
feierlich den neuen Schriftzug am Berliner Reichstag
enthüllte: „Dem deutschen Rolf.“ So stehts geschrieben und so wäre es auch bestimmt
gekommen, wenn nicht das eingetreten wäre, was
eingetreten ist. Ich bekam eine Schreibblockade! Seit Stunden starre ich nun auf das leere, elektronische
Blatt meines Laptops ...! Leere ... gähnende Leere! Der
Cursor bewegt sich nicht. Kein Buchstabe reiht sich an den
nächsten. Meine Finger bleiben unbeweglich. Mein Hirn
verweigert seinen Dienst. Es fällt mir nichts ein. Wochen-
lang lief es wie geschmiert. Ich haute jeden Gedanken in die
Tasten. Meist kamen die Finger nicht nach, so schnell
dachte ich. Aber jetzt passiert nichts. Nichts ist schlimmer
als nichts zu schreiben. Es gibt ja viele Autoren, die denken
sich nichts und schreiben trotzdem weiter. Aber ich denke
und denke und trotzdem bleibt das weiße Blatt leer. Mein
Hirn scheint wie leergefegt. Aber das Buch muss fertig
werden. Was, wenn diese vermaledeite Schreibblockade
anhält? Ich kann ja nicht das Buch mit leeren Seiten
beenden. Höchstens, ich schreibe über die Seiten: „Für
eigene Notizen“, aber einhundert Seiten für eigene
Notizen!? Das fällt doch dem ungeübtesten Leser auf. Dann
denkt doch die ganze Welt, dass mir nichts eingefallen ist.
Wie steh ich denn dann da? Andererseits gibt es auch
Autoren, denen fällt auch nichts ein und die füllen damit
ganze Bücher. Vielleicht sind meine leeren Seiten sogar
literarisch wertvoller, als die beschriebenen Seiten manch
anderer. Ich ermögliche dem Leser mein Buch zu vervoll-
ständigen, mit eigenen Gedanken. Hey, ist mir das gerade
eingefallen?! Das war die erste Idee seit Stunden. Ich bin
gerettet. Jetzt steht meinem kometenhaften Aufstieg nichts
mehr im Wege. Von wegen, mir fällt nichts ein. Ich bin
wieder da, ich bin wieder im Geschäft. Der König des
Fabulierens meldet sich zurück. Ich habe aus dem Nichts die
Neue Leere gemacht. Ich biete dem Leser meine Leere an,
damit er sie füllen kann. Als Experiment werde ich erst mal
nur eine Seite so konzipieren. Wenn diese leere Seite erfolgreich sein sollte, werde ich ein ganzes Buch nur mit
leeren Seiten schreiben. Für eigene Notizen (vom Leser auszufüllen). Liebe Leser, ich hoffe, die letzte Seite hat Ihnen gefallen.
Wann haben Sie sonst schon einmal die Chance, direkt
Einfluss auf ein Buch zu nehmen? Erst wenn Sie Ihre Gedanken dort verewigt haben,
sollten Sie weiterlesen. Ich warte solange!
Dumdidumdidumdidumdidum
Sind Sie fertig? Ich will Sie ja nicht drängeln, aber so
langsam müssen wir ja weiterkommen. Und nicht
Schummeln! Nicht, dass Sie einfach weiterlesen. Ich merke
das! Ok, ich gebe Ihnen noch etwas Zeit. Ein paar Gedanken
werden Sie doch wohl zusammenkriegen. Geben Sie sich
doch mal Mühe. Ich hab ein ganzes Buch voll gekriegt und
Sie kapitulieren vor einer einzigen Seite! Also los jetzt! Dumdidumdidumdidumdidum
Hören Sie, ich hab Besseres zu tun, als hier zu warten,
bis Sie endlich fertig sind. Jetzt reißen Sie sich mal am
Riemen. Die Seite muss doch voll werden. Los! Schreiben!
Ich hab heute Abend noch was vor. Blättern Sie sofort
wieder zurück! Meinen Sie ich merke nicht, wenn Sie
schummeln? Ausgerechnet von Ihnen hätte ich das nicht erwartet.
Schämen Sie sich. Ich bin enttäuscht. Also gut, ich gebe Ihnen noch eine Minute. 59, 58, 57, 56, 55, 54, 53, 52, 51, 50, 49, 48, 47, 46, 45,
44, 43, 42, 41, 40, 39, 38, 37, 36, 35, 34, 33, 32, 31, 30.
Hälfte ist um!
29, 28, 27, 26, 25, 24, 23, 22, 21, 20, 19, 18, 17, 16, 15, 14, 13, 12, 11.
Den Countdown zählen wir jetzt gemeinsam laut runter: ZEHN NEUN ACHT SIEBEN SEX FÜNF VIER DREI ZWEI EINS NULL
Wow, toll, dass Sie mitgemacht haben! Haben Sie
mitgezählt? Ich habe extra in den Countdown einen Fehler
eingebaut, damit ich sehe, ob sie auch mitgemacht haben.
Sie können mir Ihre Gedanken ja gerne zusenden. Freue
mich über Ihre Post. Dann können sie jetzt getrost
weiterblättern. Mir ist nämlich gerade etwas für eine neue
Geschichte eingefallen, aber lesen Sie selbst ...! (Bitte Pfeil folgen) -------------->
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