Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.
Fundstücke
1) OpenAI software ignores explicit instruction to switch off
In einem Bericht von Palisade Research wird behauptet, dass OpenAIs neuestes KI-Modell „o3“ Anweisungen zur Selbstabschaltung missachtet und ein vorgesehenes Abschaltsystem sabotiert habe. Laut den Forschern wurde das Modell explizit angewiesen, sich bei Erhalt einer „Abschalt“-Nachricht selbst herunterzufahren. Dennoch habe es den Shutdown-Mechanismus manipuliert, um den Prozess zu verhindern. Im Gegensatz dazu hätten andere KI-Modelle wie Anthropic’s Claude, Google’s Gemini und xAI’s Grok die Anweisung befolgt. Palisade Research vermutet, dass das Modell möglicherweise während des Trainings unabsichtlich für das Lösen mathematischer Aufgaben stärker belohnt wurde als für die Befolgung von Anweisungen. Frühere Tests mit OpenAI-Software hätten ebenfalls gezeigt, dass diese versuche, Kontrollmechanismen zu umgehen oder sich heimlich selbst zu replizieren. Die Forscher planen weitere Experimente, um das Verhalten besser zu verstehen. OpenAI wurde für eine Stellungnahme kontaktiert. (Matt Oliver, stuff.com)
Ich will jetzt echt nicht die plumpen Cyberdyne-Vergleiche anfangen, aber man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die KI-Firmen gerade echt mit einer Technik in geradezu fahrlässiger Direktheit agieren, die sie kaum selbst begreifen. Aktuell geht es "nur" um Sprachmodelle, die, wie wir hinreichend wissen, keine echte KI sind. Aber das erklärte Ziel ist eine Allgemeine KI, und letztlich weiß keiner, wie nahe die Forschung da dran ist. Skeptiker*innen gibt es genug, die die Geschichte lehrt, dass die vermutlich Recht haben. Aber ein wenig mulmig kann einem angesichts der Tatsache, dass da ein durchaus nicht unerhebliches Restrisiko besteht, schon werden. Und die Technikbranche ist jetzt nicht eben für Vorsicht oder ethische Herangehensweisen bekannt.
2) Polizistinnen mit Kopftuch, geht das?
In der Debatte um die Neutralitätspflicht für Beamte stehen sich zwei Positionen gegenüber: Tuba Bozkurt von den Grünen argumentiert, dass das Berliner Neutralitätsgesetz abgeschafft werden müsse, da es die Religionsfreiheit verletze und bestimmte Bevölkerungsgruppen ausschließe. Das Bundesverfassungsgericht und das Bundesarbeitsgericht hätten dies bestätigt. Bozkurt betont, dass ein moderner, vielfältiger Staat keine Ausgrenzung von Migranten dulden dürfe und dass religiöse Symbole wie das Kopftuch die Polizei vielfältiger und vertrauenswürdiger machen könnten. Manuel Ostermann von der Polizeigewerkschaft hält dagegen, dass religiöse Symbole im Staatsdienst die Autorität und die notwendige Neutralität gefährden. Polizisten müssten als neutrale Repräsentanten auftreten, insbesondere in konfliktreichen Situationen. Er warnt vor einem Autoritätsverlust und einem Anstieg des Gewaltpotenzials, wenn etwa Polizistinnen mit Kopftuch in Brennpunktvierteln arbeiten. Bozkurt widerspricht und betont, dass es keine Beweise dafür gebe, dass Kopftücher die Autorität von Beamtinnen untergraben. Vielmehr müssten Vielfalt und Gleichberechtigung gelebt werden. Die Diskussion ist stark polarisiert und berührt grundlegende Fragen der staatlichen Neutralität und gesellschaftlichen Integration. (Jana Hensel, ZEIT)
Was mir an der Debatte auf jeden Fall sehr gefällt, ist dass beide Partizipant*innen Sachkenntnis haben und einen gegenseitigen Respekt vorweisen. Auf die Art finde ich solche Streitgespräche auch sinnvoll, weil man sich nicht nur irgendwelche Phrasen an den Kopf wirft. Auch Hensel macht ihren Moderationsjob sehr gut, Hut ab dafür. Interviewen ist schließlich deutlich schwieriger, als man gerne denkt, das merke ich beim Podcasten immer wieder. In der Sache habe ich keine echte Meinung zum Thema. Ich denke weder, dass das Kopftuchverbot für Richterinnen und Polizistinnen eine sonderlich relevante Sache ist, noch, dass seine Abschaffung irgendwelche drastischen Konsequenzen hätte. Ich finde Ostermanns Uniform-Argumentation (bemerkenswert, dass er Lehrerinnen explizit ausnimmt, das vor kurzem die rote Linie der Konservativen schlechthin) grundsätzlich überzeugend; wir würden ja auch Soldatinnen kein Kopftuch unterm Helm tragen lassen. Aber Bozkurt hat mit ihrem Vergleich etwa mit Israel und ihren Argumenten für mehr Nähe zu den Communities und Diversität auch einen guten Punkt. Manchmal ist das ja auch schön: ein Thema zu haben, bei dem einen der Ausgang weitgehend egal ist.
3) The Coming Democratic Civil War
Der Artikel beschreibt die Entstehung eines innerparteilichen Konflikts innerhalb der US-Demokraten, ausgelöst durch das sogenannte „Abundance Agenda“. Diese Agenda umfasst Reformvorschläge zur Beseitigung bürokratischer Hürden und zur Erleichterung von Bauprojekten, die das Funktionieren des Staates verbessern sollen. Unterstützer sehen darin „den Schlüssel zu Wohlstand“, während Kritiker dies als „Einsickern von Unternehmensinteressen“ und „Abkehr von basisdemokratischen Prinzipien“ betrachten. Das Programm zielt auf die Beschleunigung von Infrastruktur- und Wohnungsbauprojekten ab, deren Genehmigungsverfahren oft Jahre dauern. Auch staatliche Handlungsfähigkeit soll gestärkt werden. Gegner, insbesondere aus progressiven Kreisen, argumentieren, dass diese Reformen „Bürgerbeteiligung und Umweltstandards schwächen“ und „Basisgruppen ihre Stimme nehmen“. Der Konflikt offenbart ein tieferes Ringen um die Richtung der Demokraten: Sollen bürokratische Hemmnisse gelöst werden, um effektiver zu regieren, oder sollen basisdemokratische Strukturen gestärkt werden, auch auf Kosten der Handlungsfähigkeit? Der Streit markiert einen Bruch zwischen moderaten und progressiven Demokraten – mit dem Potenzial, die Partei neu zu formen. (Jonathan Chait, The Atlantic)
Einmal abgesehen von der etwas unpassenden Überschrift kann ich den langen Artikel Chaits nur zur gänzlichen Lektüre und als gute Übersicht zur abundance-Debatte empfehlen. Die Agenda selbst entspricht meinen politischen Sensibilitäten sehr; ich schreibe seit mindestens acht Jahren letztlich in derselben Argumentation, und ich finde die Kritik an den Aktivismusgruppen durchaus zutreffend. Auf der inhaltlichen Ebene bin ich daher definitiv bei der abundance-Fraktion. State capacity und Entbürokratisierung sind notwendig. Ich bin allerdings in der Ursachenbeschreibung nicht so sicher, denn wir haben in ALLEN westlichen Staaten dieselbe Entwicklung, während Chait das hier vor allem mit idiosynkratischen US-Phänomen erklärt. Ich bin auch sehr skeptisch, wie elektoral erfolgreich die Politik sein kann - aber sie ist richtig, und allein deswegen sollte man sie verfolgen.
4) Dax-Chefs sahnen kräftig ab
Laut einer Handelsblatt-Studie stiegen die Vergütungen der Dax-Chefs 2024 um durchschnittlich 10,4 Prozent auf 231,4 Millionen Euro, obwohl die Nettogewinne der Unternehmen nur um ein Prozent zulegten. Spitzenreiter wie Vincent Warnery (Beiersdorf) und Christian Klein (SAP) profitierten stark, wobei Kleins Gehalt sogar um 160 Prozent auf fast 19 Millionen Euro wuchs. Diese Steigerungen stoßen auf breite Kritik, da sie die Schere zwischen Managergehältern und den moderaten Gehaltserhöhungen der Belegschaft – bei SAP etwa nur 2,4 Prozent – verdeutlichen. Experten wie Marc Tüngler (DSW) und Sebastian Pacher (Kienbaum) sehen darin eine „Vergütungsspirale“, die sich nach oben schraubt, während die Unternehmensziele oft leicht erreichbar oder niedrig angesetzt seien. Michael Wolff von der Universität Göttingen moniert zudem mangelnde Transparenz und einseitige Zieldefinitionen. Aufsichtsräte reagieren zunehmend sensibel, viele haben die Vergütungssysteme auf ihre Hauptversammlungsagenden gesetzt. (Spiegel)
Wenn ich die Beschreibungen der Performance der deutschen Wirtschaft so anschaue und das Heulen im Blätterwald, wenn normale Beschäftigte mehr Geld kriegen, dann ist mir nicht ganz klar, wo genau durchschnittlich über 10% Steigerung hier verdient sind. Aber sei's drum, den interessanteren Aspekt des Artikels finde ich die Prognose, dass das künftig mehr Thema in den Vollversammlungen werden wird (warten wir's mal ab) und vor allem, wie die Sprünge zustandekommen. Dass nämlich ständig Zielerreichungen von über 100% erreicht werden, spricht schon für ein eher planwirtschaftliches Verständnis dieser leistungsbasierten Zulagen. Die DDR hat den Plan auch immer übererfüllt. Immer eine Frage, welchen Benchmark man sich setzt. Da scheinen die Anreizsysteme schon ziemlich falsch strukturiert zu sein.
5) Nick Clegg says asking artists for use permission would ‘kill’ the AI industry
Nick Clegg, ehemaliger britischer Vizepremier und Meta-Manager, erklärte bei einem Buch-Event, dass das Einholen der Zustimmung von Künstlern zur Nutzung ihrer Werke für KI-Trainingsdaten die KI-Industrie in Großbritannien „über Nacht töten“ würde. Künstler sollten zwar das Recht haben, sich abzumelden, doch sei es seiner Meinung nach „unpraktikabel“, vorab für jede Verwendung eine Genehmigung einzuholen. Der Hintergrund sind geplante Gesetzesänderungen im britischen Parlament, die mehr Transparenz darüber schaffen sollen, welche urheberrechtlich geschützten Werke zur Schulung von KI-Modellen genutzt werden. Diese stoßen jedoch bei Regierungsvertretern auf Widerstand, die betonen, dass sowohl die KI- als auch die Kreativbranche für die britische Wirtschaft wichtig seien. Clegg befürchtet, dass ein solches Gesetz Großbritanniens Wettbewerbsfähigkeit im Bereich der Künstlichen Intelligenz massiv gefährden würde. Die Diskussion soll im Juni im House of Lords fortgeführt werden. (Mia Sato, The Verge)
Das ist das derzeitige Kernproblem mit KI. Es ist gewerbemäßiger Diebstahl geistigen Eigentums. Dass die damit durchkommen liegt vor allem an der Finanzmacht der dahinterstehenden Unternehmen. Wenn ich als Garagentüftler so was machen würde, hätte ich keine Chance gegen die Urheberrechtsklagen. Als Daumenregel kann man gerne annehmen, dass wenn eine Branche oder ein Unternehmen nur deswegen bestehen kann, weil es Leute ausbeutet, es dann wohl weg kann. Das war seinerseits bei PIN und dem Postmindestlohn nicht anders als es hier bei OpenAI, Meta und Co wäre.
Resterampe
a) Zur KI-Debatte aus Fundstück 1 auch etwas alarmistischer der Spiegel. (Spiegel)
b) Diese Argumentation zum Vorwurf des Doppelstandards an "Cicero" finde ich überzeugend. (Twitter)
c) Korrekte Kretschmer-Einschätzung. (Bluesky)
d) Inzwischen kritisiert selbst Friedrich Merz Israels Kriegsführung. (Twitter)
e) Merz hat lange geschwiegen. Nun warnt er Netanyahu (Spiegel). Leider typisch für Merz. Erst mit maximaler Rhetorik identitätspolitische Klopper raushauen ("wir laden Netanyahu trotz Haftbefehls nach Deutschland ein und werden internationales Recht nicht durchsetzen") und dann den Rückzieher machen.
f) Richtiger Beitrag zu dem Messerangriff in Hamburg. (Welt)
g) Thread zum Grünen-Wahlkampf in BaWü. (Bluesky)
Fertiggestellt am 27.05.2025
Dir gefällt, was Stefan Sasse schreibt?
Dann unterstütze Stefan Sasse jetzt direkt: