Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.
Fundstücke
1) So erklärt Frauke Brosius-Gersdorf ihren Kandidatur-Verzicht
Frauke Brosius-Gersdorf hat ihre Kandidatur für das Bundesverfassungsgericht zurückgezogen. Sie begründet dies damit, dass Teile der CDU/CSU-Fraktion ihre Wahl kategorisch ablehnten und damit auch das Gesamtpaket der Richterwahl gefährdet sei. Die SPD, die Grünen und die Linke hätten ihr uneingeschränkt den Rücken gestärkt. Brosius-Gersdorf kritisiert, dass die Union sich inhaltlich nicht mit ihren Positionen, insbesondere zur Menschenwürde beim Schwangerschaftsabbruch, auseinandergesetzt habe. Ihre wissenschaftliche Argumentation sei verkürzt und verzerrt dargestellt worden, was zu einer diffamierenden Kampagne geführt habe. Sie warnt vor einer politischen Kultur, in der Desinformation und parteipolitische Manöver die fachliche Kompetenz bei Richterwahlen überlagern. Ihr Rückzug solle weitere Eskalationen und Schäden für das Verfahren verhindern. Trotz zahlreicher Unterstützungsbekundungen sieht sie keine realistische Wahlchance mehr, kündigt jedoch an, sich weiterhin für die Werte des Grundgesetzes einzusetzen. (Frauke Brosius-Gersdorf, LTO)
Ich tue mich sehr schwer mit folgendem Satz: "Abgesehen davon, dass dieser Satz Ausdruck wissenschaftlicher Freiheit ist, die durch meine Nichtwahl sanktioniert wird, wurde die Begründung für diesen Satz [es geht um die Abtreibungsdebatte] nicht zur Kenntnis genommen." Die Wissenschaftsfreiheit ist keine Sekunde gefährdet. Brosius-Gersdorf kann als Wissenschaftlerin schreiben, was sie möchte. Es gibt kein Anrecht für Wissenschaftler*innen, ans Bundesverfassungsgericht gewählt zu werden. Entsprechend ist die Nichtwahl auch keine Sanktionierung. Es ist wenn dann eine Sanktionierung ihrer Positionen, aber selbst das würde mir zu weit führen. Es geht hier nicht wirklich um FBG. Es geht letztlich um einen politischen Kampf, einen Machtkampf, den eine Gruppe gewonnen hat, die FBG und ihren Haltungen eher ablehnend gegenübersteht. Das ist normal. Die Wissenschaftsfreiheit ist dadurch nicht beschädigt oder gefährdet. Bei aller Liebe.
2) Trump Just Did What Not Even Nixon Dared To
Der Artikel zieht eine Parallele zwischen Richard Nixons antisemitisch motivierten Angriffen auf Mitarbeiter des Bureau of Labor Statistics (BLS) 1971 und Donald Trumps jüngster Entlassung der BLS-Chefin Erika McEntarfer. Nixon hatte nach einer für ihn unvorteilhaften Arbeitsmarktstatistik den jüdischen BLS-Beamten Harold Goldstein verdächtigt, ihn zu sabotieren, und beauftragte sein Umfeld, gezielt nach jüdischen Mitarbeitern zu suchen. Trotz seiner Vorurteile hielt er sich damals an gewisse politische Normen, wich direkter Entlassung aus und beschränkte seine Machtmissbräuche auf indirekte Maßnahmen. Trump hingegen habe öffentlich und ohne institutionelle oder personelle Gegenwehr gehandelt und damit als erster Präsident überhaupt die BLS-Leitung abgesetzt, weil ihm ein Bericht politisch nicht passte. Laut Autor zeigt der Vergleich, dass heutige Versuche zur Machtmissbrauch deutlich ungebremster seien als zu Nixons Zeiten, da Trump weder auf die Missbilligung seiner Anhänger noch auf interne Kontrolle Rücksicht nehmen müsse. (Tim Naftali, The Atlantic)
Ich habe immer wieder auf die Bedeutung von Normen hingewiesen, und das ist ein weiterer guter Beleg dafür. Generell zeigt die Geschichte um Nixon, warum Trump so agieren kann, wie er agieren kann. Die Republicans haben aus dem Geschehen damals nicht gegenstandslos die Schlussfolgerung gezogen, dass ihnen das nicht noch einmal passieren darf. Hätten sie einfach gemauert und gelogen, wäre Nixon Präsident geblieben. Vermutlich hätten sie die Wahlen 1976 trotzdem verloren, aber das Massaker bei den Midterms 1974 wäre vielleicht ausgeblieben. Bei Trump gibt es niemanden mehr, der ihn aufhalten würde. Diese Personen werden beseitigt oder auf Linie gebracht. Deswegen ist die Gefahr diese Amtszeit auch größer als in der vorherigen - und für alle nachkommenden Präsident*innen aus diesem Stall ebenso, bis die Normen wieder greifen. Die Demokratie lebt von Normen.
3) Das Ende des NGO-Medienimperiums
Der Kommentar kritisiert den Aufbau eines „staatlichen Schattenmedienimperiums“ seit der Corona-Krise, das mit Steuergeldern regierungskritische Positionen bekämpft habe. Beispielhaft wird die Medienorganisation „Correctiv“ genannt, die sich trotz NGO-Status auch aus Regierungsmitteln finanziert und nach Ansicht des Autors nicht als unabhängiges Korrektiv agiert habe. Stattdessen sei sie eng mit Politik und öffentlich-rechtlichen Sendern vernetzt gewesen, habe Kritik an Corona-Maßnahmen und Migrationspolitik als „Desinformation“ diskreditiert und mit der umstrittenen „Potsdam“-Recherche gezielt politisch gewirkt. Kulturstaatsminister Wolfram Weimer (CDU) habe nun die staatliche Förderung solcher Projekte gestrichen, um den Eindruck staatlicher Einflussnahme auf journalistische Inhalte zu vermeiden. Der Autor begrüßt diesen Schritt als notwendig, betont jedoch, dass der entstandene Vertrauensschaden nur langsam korrigiert werden könne und weitere Konsequenz der Bundesregierung in anderen Bereichen nötig sei. Medienfreiheit bedeute, dass Aktivismus ohne staatliche Subvention, aber im Rahmen der Meinungsfreiheit stattfinden müsse (Andreas Rosenfelder, WELT).
Rosenfelder hat grundsätzlich nicht komplett unrecht; es ist ein Dilemma, dass Medien, die Regierungshandeln finanzieren sollen, durch Fördergelder finanziert werden. Allerdings schießt er (stellvertretend für den gesamten rechten Kommentierendenkreis) deutlich übers Ziel hinaus. Einerseits nervt mich langsam wirklich das schon formulaische Einschlagen auf die Öffentlich-Rechtlichen; alles ist immer gleich Kampagne der ÖRR und alle bösen Linken stecken immer mit den ÖRR unter einer Decke. Den Sound kenne ich noch von den NachDenkSeiten, und er steht einem ostentativ bürgerlichen Qualitätsblatt nicht gut zu Gesicht. Da wird nur noch Wolf geschrien. Zudem neigt er (erneut, pars pro toto) auch dazu, alles als "Regierungslinie" abzustempeln, was ihm selbst nicht behagt. Die scharfe Kritik an den Maßnahmengegner*innen war aber nie Regierungsposition, um nur ein Beispiel zu nennen. Hier tut "Regierung" dasselbe wie "ÖRR"; es ist nur noch ein Reflex. Andererseits ist Rosenfelder zu apodiktisch darin, dass dies zwangsläufig zu einer Regierungshörigkeit führen müsse. Erstens ist Correctiv sicherlich kein regierungsfreundliches Organ, denn es gibt wahrlich genug Kritik an der Regierung (als ob Linke mit der Ampel oder Merkel glücklich gewesen wären!), nur dass es eben Kritik ist, die Rosenfelder&Co keine Sekunde teilen und deswegen gar nicht als solche wahrnehmen. "Macht mehr gegen die AfD" ist natürlich keine legitime Kritik, wenn man der Überzeugung ist, dass weniger gegen die AfD gemacht werden sollte; da sind diese Leute einfach zu sehr im ideologischen Spiegelkabinett gefangen. Und zweitens kann man die Strukturen schon so machen, dass größtmögliche Unabhängigkeit möglich ist. Aber: die Streichung der Subventionen ist keine Katastrophe für Demokratie und Meinungsfreiheit oder so was. Nur dass wir uns da nicht falsch verstehen.
Die ZEIT hat übrigens einen weniger aufgeregten, dafür aber mit erklärenden Fakten und Einordnungen garnierten Artikel zum Thema.
4) Die Politik muss sich vor Karlsruhe wieder fürchten
Der Kommentar erinnert daran, dass das Bundesverfassungsgericht einst als politisch unabhängige Instanz gefürchtet und vom Volk geliebt wurde, inzwischen jedoch oft als verlängerter Arm der Regierung wirke. Die aktuelle Besetzung von drei Richterposten sei zu stark parteipolitisch geprägt, wie das Ausscheiden konservativer Kandidaten und die umstrittenen Äußerungen der SPD-Kandidatin Brosius-Gersdorf zur AfD zeigten. Statt parteikonformer Juristen brauche es Persönlichkeiten, die sich – wie einst von Willy Brandt gefordert – unbeeinflussbar allein der Verfassung verpflichtet fühlen. Historisch habe Karlsruhe mit Entscheidungen wie dem Volkszählungsurteil oder dem Brokdorf-Beschluss Grundrechte gestärkt, doch in der Corona-Pandemie habe es Freiheitsbeschränkungen weitgehend durchgewinkt. Um Vertrauen zurückzugewinnen, müsse die Auswahl der Richter überparteilich und nach Kompetenz erfolgen, gegebenenfalls mit gerechterem Vorschlagsrecht für alle Parlamentsparteien. Nur so könne das Gericht wieder als überpolitische Hüterin der Verfassung auftreten, statt Teil einer „Parteienoligarchie“ zu wirken (Fatina Keilani, WELT).
Passend zum letzten Fundstück sehen wir auch hier wieder, dass bei der Welt offensichtlich "Regierung" nur noch als Begriff benutzt wird, um Unliebsames zu diffamieren, und dass ganz grundsätzlich BVerfG-Entscheidungen immer dann gut sind, wenn sie den eigenen Präferenzen entsprechen. Die Qualität des BVerfG zeichnet sich nicht daraus aus, dass die Politik es "fürchtet" oder dass es Regierungshandeln obstruiert. Ich habe eine Vorstellung davon, wie Keilani BVerfG-Urteile sieht, die einer CDU-Regierung aus Klimaschutzgründen allzu fossillobbyfreundliche Politik blockiert (ein Präzedenzfall, der nur darauf wartet zu passieren) oder der das Asylrecht etwas weitreichender auslegt als die Welt-Redaktion. Da wäre die Begeisterung über die Blockade der Regierung und das Hüten der Verfassung, denke ich, überschaubar.
5) Die Hoffnung auf einen Merz-Aufschwung ist verflogen
Hundert Tage nach Amtsantritt von Friedrich Merz als Kanzler zeigt sich ein ernüchterndes wirtschaftliches Bild: Insolvenzen nehmen rasant zu, die Arbeitslosenzahl nähert sich drei Millionen, und viele Bürger fürchten eine Rückkehr der Inflation. Während Urlaubsreisen noch stattfinden, dominieren ansonsten Konsumzurückhaltung und Angstsparen, was zu Geschäftsaufgaben und Räumungsverkäufen führt. In den Unternehmen, besonders im Mittelstand, ist die Hoffnung auf einen Aufschwung verflogen. Die mit hohen Schulden finanzierten Investitionen in Infrastruktur und Militär werden laut Analyse kaum breitenwirksames Wachstum erzeugen. Erforderlich seien Strukturreformen wie Bürokratieabbau, günstigere Energie und niedrigere Abgaben. Stattdessen belaste Arbeitsministerin Bas mit einem Tariftreuegesetz und einem rentensteigernden Paket die Wirtschaft weiter, während die Stromsteuersenkung nur der Industrie zugutekommt. Steuerliche Anreize wie die Super-Abschreibung könnten Investitionen kaum anstoßen, solange die Standortbedingungen schlecht bleiben. Hinzu kommt die protektionistische Zollpolitik des US-Präsidenten Trump, die den Export drückt. Die Koalition müsse wirtschaftspolitisch rasch nachjustieren, um weitere Unternehmensschließungen zu verhindern (Dorothea Siems, WELT).
Diese angeblichen Wirtschaftsexperten! Wie schnell soll das auch gehen, bitte? Eine Volkswirtschaft, besonders eine exportorientierte, hängt halt auch an der Weltkonjunktur, und die Zyklen sind nicht überragend schnell. Bisher hat Schwarz-Rot genau eine Sache gemacht, die überhaupt Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum haben kann, und das ist das Infrastrukturpaket. Aber das braucht halt Zeit. Der Maßstab ist einfach völlig sinnlos. Aber es geht auch nicht wirklich um eine Analyse von Merz' bisheriger Regierungsperiode (weil, erneut, das auch sinnlos wäre), sondern darum, eigene Glaubenssätze in Kritik zu verpacken anstatt sie offen zu vertreten.
Resterampe
a) The America We Knew Is Rapidly Slipping Away (New York Times). Faszinierend, was es gebraucht hat, dass Tom Friedman das sieht, aber jeder Neuankömmling ist willkommen.
b) Wenn Eltern unerlaubt die Ferien verlängern: Zahl der Bußgeldbescheide steigt (News4Teachers). Auch ein typisches Beispiel dafür, dass Leute immer weniger bereit sind, Regeln zu akzeptieren.
c) Englischlernen fängt nicht im Klassenzimmer an – sondern auf dem Sofa (News4Teachers). Kann ich bei meinem Sohn gut beobachten.
d) Studierunfähig? „Unsinn!“ Warum die Debatte um eine Noten-Inflation überzogen ist (und trotzdem über den Übergang auf die Uni gesprochen werden muss) (News4Teachers). Die schreiben ja beinahe so schlechte Überschriften wie ich.
e) Schluss mit dem Irrsinn! (Spiegel) Exakt das. Verbotspartei CDU.
f) Anlässlichs Musks Plänen zur Gründung einer America-Party hier eine historische Einordnung. (Washington Monthly) Das wird eh nichts, vor allem mit dem Typen.
g) "Arbeit ist kaputt in Deutschland" (Spiegel). Jo.
h) Thread zum Atombombenabwurf auf Hiroshima. (Twitter)
i) Mittendrin statt nur dabei? (ZEIT)
j) Der Persilschein für Frauke Brosius-Gersdorf (Welt). Wie ist dem Lektorat denn die völlig missglückte Analogie entgangen? Und langsam wird der Schaum vor dem Mund bei der Welt echt unangenehm.
k) Ende der Putin-Rezession und die analytischen Konsequenzen (Bluesky). Sag ich seit über einem Jahr.
l) Sehr interessanter Artikel zu den Erfurter rassistischen Unruhen 1975. (ZEIT) Immer noch sehr unterbelichteter Aspekt in der Grauensgeschichte dieses Scheißstaats.
m) Zur Bildungsdiskussion. (ZEIT)
n) Schadet Bayerns Bürokratieabbau dem Artenschutz in Bayern? (ZEIT) Sehr wahrscheinlich. Es gibt halt nichts umsonst, und Bürokratie erfüllt ja einen Zweck. Die relevante Frage ist: steht der Gewinn für den Artenschutz zur Friktion der Bürokratie im richtigen Verhältnis? Aber dann hätten wir ja eine sinnvolle Debatte.
o) Hat nicht viel mit MMT zu tun, aber Recht hat Dirk Ehnts trotzdem. (Twitter) Hab ich übrigens auch so prognostiziert.
p) Die stille Macht der Atomwaffen (Welt)
q) Schluss mit der Normalisierung (Spiegel). Ich sag es immer wieder: die AfD ist ein Spiegel. Jeder sieht nur, was er sehen will. Für die Rechten ist die Brandmauer Schuld, für die Progressiven ist ihr Fehlen Schuld. Jeder projiziert immer nur die eigene Haltung.
r) Sehr spannendes Streitgespräch. (ZEIT) Thieles Buch lese ich gerade, Rezension folgt.
Fertiggestellt am 12.08.2025
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