Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal komplett zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.
Fundstücke
1) The eclipse of the centre right should worry us all
Die letzten Jahre sahen einen scheinbaren Rückzug des Populismus, symbolisiert durch Joe Bidens Präsidentschaft und Niederlagen populistischer Führer in verschiedenen Ländern. Ein Buch von Zentrum-Rechts-Politikern argumentiert für internationale Zusammenarbeit, Respekt vor dem Rechtsstaat und eine bessere Beziehung zur EU. Doch die jüngste Conservative Party Conference in Manchester zeigte eine Wende zum Populismus, geprägt von polarisierenden Äußerungen und Angriffen auf vermeintlich "woke" Eliten. Dies spiegelt einen globalen Trend wider, da Populisten in Wahlen an Einfluss gewinnen. Die Herausforderung für das Zentrum-Rechts liegt darin, nicht nur für Freihandel und internationale Zusammenarbeit zu plädieren, sondern auch zu erklären, wie diese in einer Ära der Deglobalisierung und geopolitischer Spannungen funktionieren sollen. Ein Erstarken des Populismus könnte internationale Vereinbarungen erschweren und die Welt instabiler machen, wodurch die Zukunft des Nachkriegsordnung in Frage gestellt wird. (Simon Nixon, The Wealth of Nations)
Wir erleben glaube ich die letzten Züge der liberalen Weltordnung. Was in dieser ganzen Debatte, die sich hauptsächlich auf die negativen Effekte von „Wokeness“ kapriziert gerne untergeht, ist die Unpopularität vieler klassischer Positionen im rechts demokratischen Spektrum. Gerade die hier im Artikel erwähnten Freihandel und die Zusammenarbeit innerhalb der liberalen Ordnung sind keine Publikumslieblinge. Es gehört in meinen Augen zu den unterschätzten Faktoren am Aufstieg Donald Trumps, dass er sich von Anfang an gegen die Orthodoxie der republikanischen Freihandelsideologie gestellt hat. Sein Plädieren für Nationalismus in Handelsbeziehungen hob ihn sowohl von seinem Mitbewerber*innenfeld als auch von Hillary Clinton ab - deren größte Konkurrenz ihrerseits in einem erklärten Gegner der liberalen Freihandelsideologie bestand. Der radikaleren und populistischen Rechten ist es allerdings wesentlich besser als ihren Gegenstücken auf der Linken gelungen, sich dieses grundsätzliche Unbehagen mit dem Allparteienkonsens zur Wirtschaftspolitik zunutze zu machen. Das dürfte auch die größte Erkenntnis von Sahra Wagenknecht sein. Ob sie das nutzen kann, bleibt abzuwarten.
2) Brussels to unfreeze Hungary funds as it seeks help for Ukraine
Die Europäische Kommission plant die Freigabe von Milliarden von Euro an EU-Fonds für Ungarn, die aufgrund von Bedenken hinsichtlich der Rechtsstaatlichkeit bisher eingefroren waren. Dieser Schritt könnte die Unterstützung Budapests für eine Erhöhung des EU-Haushalts und erhebliche finanzielle Hilfe für die Ukraine sichern. Etwa 13 Milliarden Euro sollen bis Ende November freigegeben werden, um die Unterstützung von Premierminister Viktor Orbán für die Budgeterhöhung zu gewinnen. Im Dezember letzten Jahres wurden 22 Milliarden Euro an Kohäsionsfonds eingefroren, nachdem die EU entschieden hatte, dass Ungarn die Regeln zum Schutz der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit nicht einhielt. Die Freigabe ist an Fortschritte bei den von Brüssel geforderten justiziellen Reformen gebunden. Dieser Schritt könnte auf Kritik des Europaparlaments stoßen, das eine strenge Haltung gegenüber Orbáns Regierung gefordert hat. (Henry Foy, Financial Times)
Wir sehen in Ungarn ein sehr gutes Beispiel für den schleichenden Zerfall der Rechtsordnung durch Gewöhnung, über den ich auch in meinem Artikel zur Migrationsdebatte gesprochen habe. Die Zeit spielt wie in vielen solchen Fällen für den Rechtsbrecher. Das ist bei Putin in der Ukraine grundsätzlich genau dasselbe. Er konnte bereits nach der Krim Krise 2014 davon profitieren, das ist ein Rechtsbruch in eine neue Form der Normalität übergehen würde. Dasselbe System sehen wir bei den Rechtsstaatsverstößen Viktor Orbans, die auch permanent gegen geltendes EU-Recht verstoßen, noch dazu in einem wesentlich größeren Ausmaß, also wenn es Griechenland vorwerfen könnte. Anders als die Nation auf der peloponnesischen Halbinsel hatte die EU allerdings weder den Willen noch den Hebel, Ungarn ihren Willen aufzuzwingen. Hätte Griechenland seinerzeit den gleichen langen Atem besessen, hätte es die Forderung nach Reformen auch aussitzen können. Aber Finanzen haben einfach eine wesentlich deutlichere Verankerung in harten Strukturen als Rechtsstaatsverstöße. Dasselbe gilt im Übrigen auch für Polen, wo die regierende PiS-Partei den Rechtsstaat ebenfalls zerlegt, ohne dass dagegen vorgegangen werden würde. Die schleichende Erosion schafft so neue Fakten und zerstört Stück für Stück die liberale Ordnung - oft genug unter Applaus oder doch stillschweigende Duldung sich selbst als liberal gerierende Kräfte, didi Oppositionshaltung der rechtspopulistischen Regierungen in Warschau und Budapest gegenüber allen linksgrünen Umtrieben gutheißen. - Siehe zur Thematik auch diesen Beitrag auf dem Verfassungsblog.
3) Verhetzen, verunglimpfen, verachten
Der Artikel auf Übermedien kritisiert das rechte Portal "Nius" und dessen Geschäftsführer Julian Reichelt. "Nius" verbreitet Hass und Manipulation, insbesondere durch abfällige Kommentare von Reichelt über die Grüne Partei und das demokratische System. Ein Video diffamiert Luisa Neubauer und den Papst. Die Plattform nutzt Aussagen von CDU-Chef Friedrich Merz über abgelehnte Asylbewerber, um rassistische Ressentiments zu schüren. Der Beitrag wird als niederträchtige Hetze kritisiert, und es wird aufgedeckt, dass präsentierte Asylbewerber falsch dargestellt wurden. Der Autor betont, dass solche Plattformen nicht ignoriert werden sollten, obwohl Ignorieren schwerfällt, da Provokation Teil ihrer Strategie ist. Es wird die Frage gestellt, wie man mit solchen Medien umgehen sollte, und die Wichtigkeit von Medienkritik wird betont. (Stefan Niggemeier, Übermedien)
Nius ist für mich ein Mosaikstein zum Verständnis der Radikalisierung eines Teils des bürgerlichen Lagers. Das Portal verlässt den Boden normale journalistischer Praxis vollständig ergeht sich in hetzerischem Aktivismus. Dabei profitiert es von derselben Pose, die auch die AfD weidlich ausnutzt: die einzige Stimme gegen einen überragenden Konsens. Ich sehe sie deswegen als diesen Mosaikstein, weil bestimmte Akteure der bürgerlichen Rechten, die ohnehin bereits seit Jahren einen schleichenden Radikalisierungsprozess durchmachen - ich denke etwa an Frank Lübberding - zuverlässig in diesem Milieu auftauchen, wo sie selbst völlig akzeptable Meinungsstücke verbreiten, wie sie grundsätzlich auch in Cicero auftauchen könnten, dies aber neben Hetzprodukten wie der erwähnten Kampagne gegen Zahnersatz von Geflüchteten tun. Auf diese Art und Weise profitieren beide Seiten: die einen von erhöhter Reichweite, die anderen von Geborgter Respektabilität. Der kometenhafte Aufstieg des Portals als von Milliardärsspenden zur politischen Einflussnahme finanziert (was mich einmal mehr an meinen Satz an bekannte Haltung zu Milliardär*innen erinnert) könnte der Final erfolgreiche Versuch diese großen Schattengelder sein, in Deutschland ein klar rechts gerichtetes Meinungskartell mit abgeschotteter Blase zu schaffen, das mit seinen Vorbildern aus der angelsächsischen Welt, vor allem dem Murdoch-Imperium, konkurrieren kann.
4) Nun auch in „Zeit“ und „Bild am Sonntag“: Wagenknechts Medienhype-Partei
Medienberichte deuten darauf hin, dass Sahra Wagenknecht im Jahr 2024 eine neue Partei gründen könnte. Das Gründungsdatum könnte finanziell motiviert sein, da die staatliche Rückerstattung der Wahlkampfkosten höher ausfallen würde, wenn die Partei im Jahr ihrer ersten Wahlteilnahme (Europawahl 2024) gegründet wird. Diese Strategie könnte erklären, warum Wagenknecht noch nicht offiziell entschieden hat, ob und wann sie die Partei gründen möchte. Möglicherweise versucht sie, innerhalb der Linkspartei eine Spaltung herbeizuführen und orchestriert gleichzeitig ein Medienspektakel nach außen. Der Medienhype um die mögliche Partei zeigt sich in über 2.000 Artikeln seit Juni 2022. Die Inszenierung könnte darauf abzielen, mediale Aufmerksamkeit als Ressource für Wählerzustimmung zu nutzen und den Hype bis zum Wahltag aufrechtzuerhalten. (Johannes Hillje, Übermedien)
Hätte mir vor zwei Jahren jemand gesagt, dass eines der erfolgreichsten Bündnisse zwischen Politik und BILD ausgerechnet aus Sahra Wagenknecht bestehen würde, ich hätte die Person ausgelacht. Es ist absolut faszinierend zu beobachten, wie Sahra Wagenknecht das gesamte Repertoire des BILD-Aufzugs bedient, von Homestories über exklusive Leaks hinzu auf die Zeitung abgestimmten Soundbites. Es macht auch durchaus Sinn, weil es in das grundsätzliche Schema der BILD, dem Volk gewissermaßen aufs Maul zu schauen, passt. Die Zeitung tickt zwar im Zweifel rechts, was ich aber noch nie zu schade, linken Volkstribun*innen eine Bühne zu bieten, wenn es auf Lager verspricht. Bekanntlich fährt dieser Aufzug allerdings immer auch mit hoher Geschwindigkeit wieder nach unten, aber das dürfte Wagenknecht als Profi durchaus klar sein. Sie braucht die Zusammenarbeit mit der Zeitung auch nur temporär, um sich zu etablieren - und die Zeitung kann nicht ewig Schlagzeilen mit ihr machen. Es wird spannend sein zu sehen, wann und wie der Umschwung kommt und ob Wagenknecht rechtzeitig vom Zug wird abspringen können. Vielleicht sollten Sie sich einmal mit Christian Wulff unterhalten.
5) „Eine Welt der Normalen wäre ein Paradies für Pedanten“
Die Rückkehr des Begriffs "Normalität" in die politische Debatte führt zu Komplexitäten und Polarisierung. Die rechtsextreme AfD propagiert "Deutschland, aber normal", was ironisch angesichts ihrer extremistischen Positionen ist. Die Vorstellung von "Normalität" birgt das Risiko, abweichende Lebensstile zu stigmatisieren. Die Vielfalt zeitgenössischer Gesellschaften macht eine eindeutige Definition von "normal" schwierig. Die postmoderne Individualisierung fördert den Wunsch nach Besonderheit, während der Neoliberalismus gleichzeitig Normalität betont. Die Linke neigt zur Betonung von Differenz gegenüber Gleichheit. In einer pluralistischen Gesellschaft sind Unterschiede normal, aber die Verabsolutierung einer bestimmten Normalität wird problematisch. Die Sehnsucht nach Normalität und die Ermüdung vom Zwang zur Besonderheit führen zu einer neuen Debatte über "Normalität". Es ist wichtig, die Bedeutung von Originalität und der Überwindung von Konventionen in der Kultur der Freiheit zu würdigen. (Robert Misik)
Ich finde Robert Misiks Gedanken an dieser Stelle sehr erhellend. Auf der einen Seite hat er komplett recht damit, die Bedeutung des Begriffs der Normalität in der politischen Debatte so hoch zu hängen. Ich Verweise an dieser Stelle auf Jonas Schaible, Hallo der mit dem Begriff des Normalitarismus versucht hat, dieses Phänomen zu umreißen (ich habe mit ihm im Podcast darüber gesprochen).
Faszinierend finde ich, wie Misik versucht, den Begriff umzudrehen und stattdessen hervorzuheben, wie freiheitsfeindlich diese normalitäre Ideologie eigentlich ist. Das scheint mir auch ein interessanter Angriffspunkt für ihr links liberal ausgerichtete Menschen zu sein, weil man den Normalitätsbegriff so Umwenden und umdefinieren kann, dass es den Rechtspopulisten nicht mehr möglich ist, ihn unter gleichzeitiger Inanspruchnahme der Freiheitsdimensionen zu besetzen. Das könnte ein Puzzlestück der eher sachlicheren Auseinandersetzung mit der AfD sein, wie ich es im Podcast mit Ariane vorgeschlagen habe.
Resterampe
a) Die Subventionsbremse bei der Arbeit.
b) The War on Cars™ is going very badly indeed. Kein Wunder, ist auch nur Einbildung.
c) Charts of the day: Wages have beaten inflation over the past year. Ist das in Deutschland auch so?
d) Thousands of Asian slaves are behind a popular online scam. Diese scheiß Crypto-Blase ist echt nur widerlich.
e) Guter Kommentar zu Handyverboten an Schulen.
f) Spannendes Interview mit Christopher Clarke zu seinem Buch über 1848 (hier rezensiert) und die Lehren für heute.
h) Super Artikel zum Terror der Hamas und der Positionierung in Sozialen Netzwerken.
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