Nein, das Internet und die Asozialen Netzwerke machen nicht alles schlimmer. Sie verstärken allenfalls Entwicklungen, die schon vorher da waren. Gerade stand der 32jährige Rainer Winkler alias 'Drachenlord' wegen Körperverletzung vor Gericht. Der im fränkischen Altschauerberg lebende Youtuber wird seit Jahren verfolgt von welchen, die er 'Hater' bzw. 'Häider' nennt. Leute, die ihn im realen Leben verfolgen, sein Haus belagern, ihm auflauern und ihn provozieren. Ihm wird vorgeworfen, mehrfach gewalttätig geworden zu sein. Er wurde zu zwei Jahren verurteilt.
Natürlich ist Winkler nicht unschuldig, aber bei mir überwiegt das Mitleid. Der Mann ist mit der ganzen Situation sichtlich überfordert, schon bei flüchtigem Betrachten seiner Videos wird schnell deutlich, dass Selbst- und Fremdwahrnehmung stark auseinanderklaffen bei ihm. Eine arme Socke, so hätten wir so jemanden einst genannt. Ein Sonderling, der mitunter nerven kann, aber eigentlich keinem was tut. Einer, der vielleicht nie wirklich wirtschaftlich erfolgreich geworden wäre im Leben, aber in einem intakten Umfeld möglicherweise irgendeine Aufgabe gefunden hätte. Eventuell auch einen Menschen, der sich seiner angenommen, ihn vor sich selbst geschützt hätte, wer weiß.
Es ist nicht eben ein angenehmer Gedanke, aber völlig ausschließen kann und will ich nicht, dass ich, 25-30 Jahre jünger, mich nicht auch gemeinsam mit anderen auf den Weg zum Drachenlord gemacht hätte, um ihm einen Besuch abzustatten. Wegen was unternehmen, Event, Party dabei gewesen sein. Mich auf Kosten anderer besser zu fühlen. Und wegen unreif, jung, dumm. Eine Zeitlang schaute ich auch durchaus gern Stefan Raabs 'TV total'. Zu Beginn war das noch ein vergleichsweise harmloser Spaß, mir gefielen seine Aktionen, vor allem wie er den ESC trollte.
Dann kam Regina Zindler. Die Hausfrau aus dem sächsischen Auerbach war 1999 in einer Folge der SAT1-Sendung 'Richterin Barbara Salesch' aufgetreten, in der sie einen Nachbarschaftsstreit austrug. Es ging um einen Maschendrahtzaun. Das Wort sprach sie im etwas schwerfälligen sächsischen Idiom aus, etwa wie "Maschen-droht-zaun". Was von Raabs Redaktion sogleich aufgegriffen wurde. 'Maschen-droht-zaun' wurde bald zum Kultspruch. Und damit hätte es gut sein können. Drei Mal kurz gelacht und fertig.
Dann aber begann die Sache aus dem Ruder zu laufen. Weil ihr Wohnort durch die Gerichtssendung publik geworden war, reisten bald Horden (auf Kosten anderer) amüsierwilliger Partymacher nach Auerbach, um Regina Zindler aufzusuchen ("Ey, sag doch mal Maschen-droht-zaun!") und ihr Haus zu belagern. Die verlor bald die Nerven und versuchte erfolglos, die Plagegeister zu vertreiben. Auch diese Bemühungen wurden im Bild festgehalten und in Raabs Sendung genüsslich breitgetreten.
Da wurde eine heillos überforderte Frau, sicher nicht die allersympathischte, die nicht über die Mittel verfügte, sich zu wehren, unter Gejohle und zum Amusement einer voyeuristischen Spaßbackengesellschaft fast in die Psychiatrie getrieben. Aus ihrem 'Maschendrahtzaun'-Sager machte Raab mit der Trucker-Rentnerband Truck Stop noch einen Song, der die Spitze der Charts erklomm und sich millionenmal verkaufte. Raab überwies - "freiwillig", wie betont wurde - zehn Pfennig pro verkaufter Platte an Zindler. Wie edel.
Raab kam mit solchen Sachen immer wieder einigermaßen glatt durch, während gleichzeitig der ungleich niveauvollere Harald Schmidt unreflektiert als gnadenloser Zyniker geschmäht wurde. Der stellte in einem Interview mal klar, dass in seiner Sendung auch Leute angegangen würden, allerdings achte man in der Redaktion stets streng darauf, dass die Betreffenden in der Position seien und über die Mittel verfügten, sich auch zu wehren. Einer jener Unterschiede, die gern mal untergehen.
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