Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.
Fundstücke
1) Migration crackdowns won’t help Europe’s moderate right
In dem Artikel wird darauf hingewiesen, dass das Zuwanderungsthema von der Mitte-Rechts-Politik als Hauptgrund für den Erfolg der extremen Rechten in Europa fehlinterpretiert wird. Die Forderung nach einer härteren Haltung gegenüber Migration wird als Fehler betrachtet, da sie die eigentlichen Ursachen nicht angeht. Der Autor argumentiert, dass die Erfolge der extremen Rechten auch auf die Aushöhlung öffentlicher Dienstleistungen durch Austeritätspolitik zurückzuführen sind, was bei den Wählern Unzufriedenheit auslöst. Ein Beispiel dafür ist die Niederlande, wo die Freiheitspartei von Geert Wilders die jüngsten Wahlen gewonnen hat. Der Artikel betont, dass neben der Einwanderung auch Kürzungen in öffentlichen Dienstleistungen, wie Gesundheitsversorgung und Bildung, entscheidend zur Unterstützung der extremen Rechten beitragen. Der Autor schlägt vor, dass die Mitte-Rechts-Parteien statt einer Fokussierung auf Migration die strukturellen Probleme, wie wachsende Ungleichheit und unzureichende öffentliche Dienstleistungen, angehen sollten, um das Aufkommen der extremen Rechten langfristig zu bekämpfen. (Catherine de Vries, Financial Times)
Ich lese immer wieder, dass die harte Haltung in der Migrationsfrage den Mitte-Rechts-Parteien nicht hilft, aber ich halte das nur für die halbe Wahrheit. Einerseits scheint die Faktenlage eindeutig zu sein, auch wenn sie gegen den gefühlten Konsens geht; das war ja 1993 und 1999 bereits genau dasselbe. Aber ich halte es zumindest für plausibel, dass die Übernahme rechtsradikaler Diskurse zwar nicht hilft - indem sie Wählende zurückgewinnt, die Rechtsradikale wählen - aber dass sie zumindest eine Art Stopper darstellt für jene, die noch "on the fence" sind, was das angeht. Es ist daher zumindest theoretisch kein Widerspruch, dass die Mitte-Rechts-Parteien (und oft genug auch die Sozialdemokratie) diese Diskurse und Haltungen übernehmen und die Rechtsradikalen trotzdem stärker werden. Zumindest ist das meine aktuelle Hypothese.
Was auf der anderen Seite aber definitiv völlig unterschätzt wird ist die Kürzungsgeschichte. Das Gefühl, dass nicht genug für alle da ist und dass man sich von Kürzungen betroffen oder bedroht sieht, ist ein viel zu geringgeschätzter Faktor in der Hinwendung zu radikalen Lösungen. Denn obwohl das Parteiprogramm der AfD etwas völlig anderes sagt, vermittelt die Partei den Eindruck, dass sie irgendwie Mittel für "die Deutschen" entweder erhalten oder sogar ausbauen will, quasi eine Form von ethno-nationalistischem Sozialstaat. Diese Strategie ist typisch für die radiale Rechte und wird etwa in den USA von den Republicans seit den 1980er Jahren erfolgreich gefahren; auch die Tories, die PiS, Fratelli d'Italia oder Fidesz sind da gut drin.
2) Wir müssen 100 Milliarden Euro investieren
Die jüngste Pisa-Studie alarmiert vor einer Bildungskrise in Deutschland. Der renommierte Bildungsforscher Aladin El-Mafaalani betont, dass es nicht nur um schlechtere schulische Leistungen geht, sondern um die Zukunft des Landes. Die Ergebnisse zeigen erschreckende Defizite in Mathematik und Lesekompetenz, und die Situation hat sich in den letzten fünf Jahren deutlich verschlechtert. Besorgniserregend ist auch, dass ein Viertel der Schüler das Mindestniveau nicht erreicht. In einer Ära von Informationsüberflutung und digitalen Herausforderungen sind grundlegende Fertigkeiten nur unzureichend vorhanden. Die Forderung nach einer echten Bildungswende wird laut, da bisherige Programme als unzureichend gelten. Es wird betont, dass eine umfassende Reform, finanzielle Investitionen von mindestens 100 Milliarden Euro und ein bildungspolitischer Gipfel dringend erforderlich sind, um eine Pisa-Katastrophe 2.0 zu verhindern und das Fundament der Gesellschaft zu stärken. (Bob Blume, T-Online)
Die PISA-Studie ist auch ein grüßendes Murmeltier: seit 20 Jahren sind die Ergebnisse im Großen und Ganzen jedes Jahr dieselben und führen zu den beinahe ritualisierten Reaktionen. Dieses Jahr allerdings ist der riesige Absturz natürlich ein besonders auffälliges Thema, das sie wieder einmal in die großen Schlagzeilen bringt. Dabei verstellt der national verengte Blick des Diskurses mehr als üblich das Bild: der Absturz in PISA ist kein deutsches, sondern ein globales Phänomen. Nur einige ostasiatische Länder und Estland, das gerade die Rolle Finnlands aus früheren PISA-Runden übernimmt, sind Ausreißer.
Genauso wie bei Finnland, das vor allem in den 2000er Jahren ständig als Musterbeispiel genannt wurde, ist kaum zu erwarten, dass aus diesem Vergleich irgendwelche Folgen erwarten werden. Denn was diese Länder anders machen ist zum einen eine wesentlich weitgehendere Digitalisierung, zum anderen aber auch komplett andere pädagogische Konzepte mit wesentlich mehr individuellen Schwerpunkten und Förderung. Beides ist im deutschen Schulsystem strukturell nicht angelegt, und solange dieser strukturelle Kern nicht angegangen wird - ich habe darüber geschrieben - wird sich daran auch nichts ändern.
Natürlich braucht es dazu vor allem Geld. Da reichen nicht mal die plakativen 100 Milliarden, denn theoretisch - und das ist rein theoretisch, weil selbst dann nicht machbar, wenn der Dschinn aus Aladdins Wunderlampe das Geld besorgte - müsste man eigentlich das ganze System inklusive der Gebäude einreißen und neu aufbauen, denn das Thema fängt ja schon bei den Gebäuden an: die Klassenzimmer und Schulgebäude erzwingen eine Art Unterricht, von der wir seit Jahrzehnten wissen, dass sie schlecht ist. Aber für die Methoden, mit denen etwa Finnland und Estland reüssieren, haben wir gar nicht den Raum.
Was nicht heißt, dass es nicht massiv Geld bräuchte; man muss sich nur klar machen, dass man damit eine überkommene Struktur saniert. Ohne die Sanierung ist es nur NOCH schlechter. Genauso wie bei der Bundeswehr gibt es mittlerweile so viele Rückstände, dass man die 100 Milliarden locker verbrauchen könnte (vorausgesetzt man hätte die Fachkräfte, die Sanierungen durchzuführen, was eine dubiose Annahme ist, um es milde zu sagen). Die Lage ist verfahren.
3) Finnland schafft es: Bald gibt es keine Obdachlosigkeit mehr!
In Finnland hat die konsequente Anwendung des "Housing First"-Konzepts dazu geführt, dass die Zahl der Obdachlosen kontinuierlich zurückgeht. Das Konzept sieht vor, betroffenen Menschen ohne Vorbedingungen eine Wohnung und Beratung zur Verfügung zu stellen. Der Staat investiert in den Bau, die Renovierung und den Kauf von Wohnungen, die von NGOs bereitgestellt werden. Die Wohnungen werden den Obdachlosen vermietet, die Miete und Betriebskosten müssen jedoch bezahlt werden. Im Vergleich zu traditionellen Notunterkünften ist das "Housing First"-Modell kostengünstiger für den Staat. Die Erfolgsquote ist beeindruckend, da 4 von 5 Betroffenen erfolgreich in ein stabiles Leben mit eigenem Wohnraum zurückkehren. Das Modell hat dazu geführt, dass die Obdachlosigkeit in Finnland seit der Einführung im Jahr 2008 kontinuierlich abnimmt. (Kathrin Glösel, Kontrast)
Wo wir gerade bei Finnland sind: ich habe schon oft darauf hingewiesen, dass der zu oft gewählte Ansatz, arme Menschen für ihre Armut zu bestrafen, einer Lösung immer im Weg steht. Der beste Weg, Obdachlose aus der Obdachlosigkeit zu bekommen, ist Wohnraum zur Verfügung zu stellen, genauso wie man Armen am besten dadurch hilft, dass man ihnen Geld gibt. Alles andere ist Moralismus.
Die Forscher des CHE Centrums für Hochschulentwicklung und der Bertelsmann Stiftung haben in einer aktuellen Analyse weit verbreitete Fehlannahmen zur nachschulischen Bildung in Deutschland aufgedeckt. Es herrscht die Annahme, dass die Rekordzahl an Studierenden die Ursache für den Mangel an Auszubildenden sei. Allerdings zeigt ein Vergleich, dass der demografische Rückgang sowohl die berufliche als auch die akademische Bildung beeinflusst. Die Zahl der neuen Auszubildenden ist ebenso gesunken wie die der Studienanfänger, wobei letztere immer noch kleiner ist als die Gruppe der Auszubildenden. Ein weiteres Missverständnis betrifft die Annahme, dass immer mehr Schülerinnen und Schüler ein Abitur erwerben. Dies bestätigt sich nicht, da seit etwa zehn Jahren keine wesentliche Zunahme der Studienberechtigtenquote mehr zu verzeichnen ist. Die Forscher betonen, dass Fehlinformationen zu Studium und Ausbildung zu Fehlentscheidungen führen können und viele Jugendliche sich am Ende der schulischen Laufbahn in der Fülle von Informationen verunsichert fühlen. Eine repräsentative Jugendbefragung der Bertelsmann Stiftung zeigt, dass 55 Prozent der Jugendlichen sich ausreichend informiert fühlen, aber in der Informationsflut dennoch nicht zurechtkommen. Es wird darauf hingewiesen, dass Falschaussagen wie "Nur Akademikerinnen und Akademiker verdienen richtig gut" auf eine verunsicherte junge Generation treffen. Es wird betont, wie wichtig es ist, junge Menschen bei der Wahl des passenden Berufs bestmöglich zu unterstützen, um Fehlentscheidungen und Frustration zu vermeiden. Die Studie plädiert für Offenheit und Flexibilität bei der Berufswahl und weist darauf hin, dass der Glaube, sich nach der Schule zwischen Studium und Ausbildung endgültig entscheiden zu müssen, nicht zutrifft. In der nachschulischen Bildung gibt es zunehmend Übergänge in beide Richtungen, und es wird die Notwendigkeit betont, Fakten statt Mythen zu verbreiten. (News4Teachers)
Auch faszinierend, dass ein Thema, das permanent als eine Art "jede*r weiß es" durch den Diskurs wabert, durch die Zahlen überhaupt nicht bestätigt werden kann. Es gehört zu den vielen "gefühlten Wirklichkeiten", die Debatten treiben. Deswegen wäre auch mehr datengestützter Journalismus nötig als wir haben. Mir war auch nicht bekannt, dass tatsächlich keine relativ größere Zahl von Akademiker*innen als früher existiert. Woher kommt dann dieses Narrativ, dass die Leute keine Ausbildung mehr machen würden? Ist der Fachkräftemangel nur ein demographisches Problem? Haben sich die Gewichte innerhalb der Ausbildungen verschoben? Was ist da los?
5) Still und starr ruht die Kanzlerpartei
Die Situation in der Regierungskoalition scheint weiterhin unsicher, und der Druck steigt mit dem Parteitag der Kanzler-SPD. Olaf Scholz hat möglicherweise die Gelegenheit, Führung zu zeigen, sowohl innerhalb der Partei als auch nach außen. Allerdings deutet der Artikel darauf hin, dass Scholz und die SPD möglicherweise nicht entschieden genug handeln, um die aktuelle Krise zu bewältigen. Es wird darauf hingewiesen, dass Scholz in seinen zwei Jahren als Kanzler eine ruhige und einvernehmlich stillgelegte Kanzlerpartei geschaffen hat. Obwohl es Leitanträge zu Steuerreformen und anderen Themen gibt, scheint es, als ob diese eher auf die Vorbereitung für den nächsten Wahlkampf abzielen als auf konkrete Maßnahmen in der aktuellen Koalition. Der Artikel fordert Scholz auf, konkretes Handeln zu zeigen, ähnlich wie es Gerhard Schröder in der Vergangenheit getan hat. Es wird darauf hingewiesen, dass Scholz angesichts des aktuellen Haushaltsdefizits diejenigen in die Pflicht nehmen könnte, die große Vermögen angehäuft haben. Es wird auch betont, dass die SPD möglicherweise von ihrer traditionellen Klientel abgekommen ist und eine kühle und empathielose Partei geworden ist. Der Autor plädiert für eine Rückbesinnung auf die klassische Klientel der SPD und einen Neubeginn, um den demoskopischen Niedergang zu stoppen. Es wird argumentiert, dass die SPD eine echte Sozi-Story braucht, die von der Parteiführung bisher nicht geliefert wurde. Schließlich wird auf Scholz' bisherige Kanzlerschaft als "ein Schluckauf der Geschichte" hingewiesen und darauf, dass es jetzt nicht nur politisches Make-up, sondern einen echten Neubeginn braucht, um die Partei wieder auf Kurs zu bringen. (Sebastian Fischer, Spiegel)
Nun sind Aufrufe an die SPD, sich endlich auf den sozialdemokratischen Markenkern zu besinnen, ungefähr genauso innovativ wie Aufrufe an die CDU, sich auf ihren konservativen Markenkern zurückzuorientieren. Ich überlasse es Sozialdemokrat*innen zu entscheiden, für wie sozialdemokratisch sie ihre Partei halten; ich will stattdessen vor allem Fischers Punkt mit dem "Schluckauf der Geschichte" hinweisen. Scholz' Kanzlerschaft ist ja tatsächlich eher ein Betriebsunfall der spezifischen Umstände des Jahres 2021, und es sieht gerade nicht eben so aus, als könnte die Partei auch nur ansatzweise eine Chance haben, diese nach 2025 aufrechtzuerhalten. Auch, dass die Kanzlerriege vor allem vor sich hinverwaltet, ist keine bahnbrechend neue Erkenntnis. Aber das Land wollte Merkel 2.0, und Merkel 2.0 hat es bekommen.
Resterampe
a) Adam Tooze hat was zur Ökonomie der napoleonischen Ära.
b) Kritik zu Israels Kriegsführung aus strategischer Sicht in der NZZ.
c) Ron DeSantis doesn’t own a Bible. An und für sich bedeutungslos, aber zeigt mal wieder schön, wie viel von den "Christian values" zu halten ist.
d) Tübingens Oberbürgermeister kandidiert für Freie Wähler Vereinigung. Da wächst zusammen, was zusammengehört.
e) Joschka Fischer fordert neue Atomwaffen in Europa. Scheint gerade ein Trend.
f) Ein leider wahrer Artikel zur Schuldenbremse und Bildung.
g) Der Spiegel war schon immer so. Trotzdem wäre etwas weniger Bad Faith der Kritik zuträglich.
h) Beitrag eines Historikers zur Regierungsbeteiligung der NSDAP in Thüringen ab 1929. Quasi aus aktuellem Anlass.
j) Ein ordentlicher Verriss ist immer wieder eine Freude.
k) Sehr gutes Essay zur Klimakrise.
l) Republicans clear things up: No aid for Ukraine
m) Noch was zum Schuldenthema.
n) Ich bin gespannt auf die Erklärung, warum das keine Cancel Culture ist. (Bluesky)
o) Immer wieder eine gute Erinnerung, und die Formulierung ließ mich lachend unter dem Tisch liegen. Ist glaub ich was für Thorsten. (Bluesky)
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