Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal komplett zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.

Fundstücke

1) Scholz braucht eine bessere Botschaft - diese könnte funktionieren

Der Artikel betont, dass Bundeskanzler Scholz eine überzeugende Botschaft für seine Modernisierungspläne benötigt, um das Land erfolgreich zu transformieren und die Popularität der Rechtspopulisten einzudämmen. Scholz' bisherige Kommunikation bleibt oft unklar und wenig inspirierend, insbesondere gegenüber der breiten Öffentlichkeit. Er betont seine Regierungstätigkeit und fordert Industrieführungskräfte zur Modernisierung auf, vernachlässigt jedoch, die Ingenieure, Facharbeiter und Handwerker einzubeziehen, die den Wandel letztendlich umsetzen. Der Vergleich zu Joe Biden zeigt, wie eine identitätsstiftende Mittelschichtserzählung aussehen könnte: Biden setzt Arbeiter und Arbeiterinnen in den Fokus und vermittelt, dass die Klimaneutralität auch für sie Chancen bietet. Scholz könnte von Ludwig Erhard lernen und eine versöhnende Vision für die gesamte Gesellschaft schaffen, um die zunehmende Demokratieunzufriedenheit anzugehen. Die Deutschlandmodernisierung soll nicht nur Krisenbewältigung sein, sondern ein Versprechen nachhaltigen Wohlstands und kollektiver Teilhabe. Scholz muss zeigen, dass Menschen nicht nur vor dem Strukturwandel geschützt, sondern aktiv in die Gestaltung einbezogen werden. Eine erfolgreiche Modernisierung erfordert eine inklusive Botschaft, die breite Unterstützung und Zuversicht schafft. (Johannes Hillje, NTV)

Die Überbewertung des Inflation Reduction Act in deutschen progressiven Kommentaren nervt mich langsam ein wenig. Ja, das Gesetzeswerk ist eine großartige Leistung der demokratischen Mehrheit und ja, seine Schwerpunktsetzung und seine positiven Aspekte sind ohne Frage sehr positiv und mindestens auf einem Level mit der Stimulus Bill Obamas 2009. Gleichzeitig aber ist und bleibt er ist ein Kompromisswerk mit klaren Schwächen, Unzulänglichkeiten und es bleibt ein spezifisch auf die politische und wirtschaftliche Situation der USA zugeschnittenes Gesetzeswerk.

Das heißt nicht, dass die grundsätzliche Kritik an der Ampelkoalition vom Mangel an solchen großen Würfen nicht berechtigt wäre. Die Idee des sogenannten Green New Deal geistert ja schon seit deutlich über einem Jahrzehnt durch die Debatte und erfüllt genau das, was Hillje hier fordert. Nur ist sie natürlich mit einem Finanzminister Lindner ohnehin nicht zu machen und eine Totgeburt. Gleichzeitig zweifle ich auch zutiefst daran, dass ein solches Projekt in irgendeiner Art und Weise versöhnend wirken könnte. Es würde genauso polarisieren und durch Hitze misrepräsentiert werden wie alles andere auch.

2) Nicht nur die Verluste vergesellschaften

Der Artikel behandelt die Kontroverse um die Einführung einer Übergewinnsteuer für Banken in Europa, die auch in Deutschland diskutiert wird. Während Vertreter von Finanzinstituten und einige Ökonomen dagegen sind, argumentieren die Befürworter, dass diese Steuer in der aktuellen Krise sinnvoll ist. Aktuell erzielen viele Banken in Europa Rekordgewinne, hauptsächlich aufgrund steigender Zinsen, die jedoch kaum an Sparer weitergegeben werden. Dies erinnert an die Energiewirtschaft, in der Konzerne von steigenden Preisen profitierten, ohne die Gewinne an Verbraucher weiterzugeben. Die Übergewinnsteuer wurde von mehreren europäischen Regierungen, darunter Italien, eingeführt, um diese Erträge zu besteuern und zusätzliche Einnahmen zu generieren. Kritiker bemängeln, dass leistungslose Gewinne schwer zu definieren sind und eine Übergewinnsteuer Verzerrungen schaffen könnte. Gegner plädieren stattdessen für bessere Kontrollen und Transparenz. Dennoch zeigen die hohen Gewinne der Banken, dass die aktuelle Marktmacht in Frage gestellt werden muss. Ein Argument der Befürworter ist, dass Banken systemrelevant sind und staatliche Garantien genießen. In der Vergangenheit hat der Staat Banken und Energieunternehmen finanziell unterstützt. Befürworter argumentieren, dass eine Übergewinnsteuer angemessen ist, um Unternehmen zur Verantwortung zu ziehen und die Bürger vor finanziellen Belastungen zu schützen. Die Einführung sollte jedoch gut reguliert und begrenzt sein. Die Debatte dreht sich um die Balance zwischen privaten Gewinnen und sozialisierten Verlusten, wobei eine Übergewinnsteuer als Möglichkeit betrachtet wird, die Kosten von Unternehmen und Risiken besser auszubalancieren. (Marcel Fratzscher, ZEIT)

Die deutsche Weigerung, marktwirtschaftliche Logik für die Finanzindustrie gelten zu lassen, ist bereits seit der Finanzkrise 2008ff. offenkundig und mit reinen Lobbyerfolgen der Finanzindustrie auch nicht erklärbar. Da scheint schon ein gewisser ideologischer Unwille da zu sein. Betrachtet man die Geschichte der sogenannten windfall taxes, fällt auf, dass solche liberale Säulenheilige wie Margaret Thatcher sie sogar mehrfach anwandten und sie offensichtlich kein Problem für eine liberale Wirtschaftspolitik ist. Ich würde sogar argumentieren, dass sie angesichts der staatlichen Stütze des Sektors ein notwendiges Spiegelbild bisheriger Politik sein muss.

Ein interessanter Seitenaspekt des Artikels ist die Versicherungsidee. Fratzscher argumentiert hier in dieser sehr deutschen Logik für die Steuer, aber was ich mich angesichts der Analogie frage ist, Ob sich so etwas nicht institutionalisieren lassen würde. Wäre es einerseits möglich und andererseits erstrebenswert, eine Art Fonds oder so etwas für die unvermeidlichen Rettungsaktionen zu schaffen? Denn die Drohung, in Not geratene Banken pleitegehen zu lassen, hat offensichtlich keine Zähne, weil diese letztlich die gesamte Volkswirtschaft als Geisel halten. Wäre es dann nicht grundsätzlich konsequent, aufzuhören so zu tun, als wäre dem nicht so? Das ist keine Forderung von mir, sondern nur ein Gedanke, und ich bin über eure Einschätzungen gespannt.

3) Der günstigste Strom der Welt

Die Photovoltaik hat sich als kostengünstigste Stromquelle etabliert, wie von der Internationalen Energieagentur (IEA) bestätigt. In Deutschland liegen die Produktionsspannen zwischen 3,1 und 5,7 Cent pro Kilowattstunde für neue PV-Megawatt-Kraftwerke. Ende 2022 waren knapp 67,4 Gigawatt PV-Leistung installiert, deckten rund 12% der Nettostromerzeugung ab und machten Deutschland zum größten PV-Markt Europas. Global wurde die Terawatt-Marke übertroffen, mehr als dreimal die Kernkraftwerksleistung. Trotz der Erfolge erlebte die Branche in den 2010er-Jahren Rückschläge, erholte sich aber allmählich. Technologische Fortschritte und Trends wie senkrechte oder schwimmende PV-Anlagen tragen zur Effizienzsteigerung bei. Um das volle Potenzial auszuschöpfen, sind intelligente Verteilungssysteme und Speicherlösungen entscheidend, während der Ausbau erneuerbarer Energien voranschreitet. (Daniel Hautmann, Golem)

Auch wenn es diverse Leute nicht hören wollen, so gehört den regenerativen Energiequellen besonders auch aus marktwirtschaftlichen Punkten offensichtlich die Zukunft. Alternative Energiequellen wie die Wasserstoffgewinnung oder Kernfusion kommen vermutlich schlicht zu spät, um noch eine vernünftige Alternative darstellen zu können. Was mich an der Geschichte besonders amüsiert, ist, wie diese Entwicklung nun Bayern und Baden-Württemberg in den Hintern beißt. Besonders Markus Söders plötzliche Liebe für sozialistische Umverteilung innerhalb der deutschen Bundesländer, um das eigene Versagen zu übertünchen, lässt mich schmunzeln.

4) The End of Progressive Elitism?

Amy Gutmann, eine angesehene politische Philosophin, wurde als US-Botschafterin in Deutschland von Präsident Joe Biden ausgewählt. Neben ihrem akademischen Beitrag zur deliberativen Demokratie, Identitätspolitik und der Rolle von Bildungseinrichtungen in einer vielfältigen Gesellschaft, hat sie persönliche Verbindungen als Tochter einer deutschen jüdischen Flüchtlingsfamilie. Doch ihre Ernennung könnte auch aufgrund einer Schuld des Präsidenten erfolgt sein. Gutmann war 18 Jahre Präsidentin der University of Pennsylvania und schuf dort das Penn Biden Center for Diplomacy and Global Engagement, welches von Biden geleitet wurde. Dies verdeutlicht den Einfluss der Ivy-League-Universitäten und ihre Verbindungen zu Macht und Einfluss. Während Elitehochschulen eine progressiv-elitäre Klasse schaffen, werden ihre Zulassungspraktiken kritisch hinterfragt. Diese Dynamik könnte die Tür für neue Elitebildungsinstitutionen öffnen, die eine sozialere und meritokratische Ausbildung anstreben. Einige Bildungsinitiativen in konservativeren Staaten versuchen, diese Ideale zu beleben, während sich die Macht der Ivy-League-Institutionen zu verändern beginnt. (Reihan Salam, The Atlantic)

Ich finde in diesem Artikel besonders die Darstellung der Mechanismen der Elitenrekrutierung interessant. Es ist eine quintessenziell amerikanische Idee, auf diese Art und Nepotismus und Aufstiegschancen zu verbinden. Ich glaube auch sofort, dass für Aufsteiger*innen aus den unteren Schichten der Kontakt zu den legacy babies der Oberschicht gewinnbringend und karrierefördernd ist. Gleichwohl bleibt das größte Problem an dieser Stelle der Zugang: nur ein verschwindend geringer Teil der Bevölkerung hat die Chance, an diesem Austausch der Schichten teilzunehmen, der de facto ohnehin ein Aufstiegsprogramm für die obere Mittelschicht darstellt. Es ist natürlich gut, wenn der Aufstieg in die Oberschicht möglich ist, aber die Anteile der Nutznießenden sind verschwindend gering.

Der Artikel arbeitet auch schön heraus, wie die Zulassungskriterien dabei helfen, unter diesen Aufsteigenden ein progressives Mindset zu fördern. Wie bei Geschichten über das amerikanische (oder eigentlich jedes) Universitätswesen allerdings wird dabei völlig außer Acht gelassen, wie die Elitenrekrutierung in anderen Teilen dieses Spektrums funktioniert. So ist etwa die Rolle der privaten evangelikalen Universitäten eine, die konstant dem Fokus öffentlicher Aufmerksamkeit entgeht. Zudem trifft diese Förderung eines bestimmten Mindsets ja auch nur auf einen den gleich großen Teil der Studierenden zu: in Bereichen, in denen die Elite ohnehin unter sich ist, spielt das ja alles überhaupt keine Rolle und hat auch noch nie. Letztlich ist das ungeheuer fakultätenabhängig, was in der Debatte auch permanent ignoriert wird. Auf diese Art wird zwar im kulturellen, meinungsbildenden Sektor der Progressivismus vergleichsweise stark gefördert, nicht aber dort, wo harte Macht ausgeübt wird.

5) Wie man sich eine Studie backt (Interview mit Rainer Schnell)

Rainer Schnell, Professor für empirische Sozialforschung, kritisiert Meinungsumfragen, die öffentliche Debatten zunehmend beeinflussen. Er ärgert sich über unseriöse und verzerrte Umfragen, wie jene der Bertelsmann-Stiftung zur Diskriminierung von Minderheiten. Schnell betont, dass Online-Umfragen verzerrte Stichproben erzeugen, da Teilnehmer sich selbst melden und Extreme begünstigt werden. Repräsentative Ergebnisse erforden Zufallsstichproben. Gewichtungen und Korrekturen sind unzureichend, da sie Verzerrungen nicht beseitigen können. Online-Umfragen sind günstig, aber oft fragwürdig. Schnell kritisiert Medien für ihre unkritische Berichterstattung und empfiehlt, solche Umfragen zu ignorieren oder gut einzuordnen. Er warnt, dass Wissenschaft unter Druck steht, aufmerksamkeitsstarke Ergebnisse zu produzieren. Er kritisiert auch die großzügige Interpretation von Studien, wie bei der Leipziger Autoritarismus-Studie. (Martin Spiewak, ZEIT)

Ich finde es absolut bewundernswert, dass die ZEIT ein solches Interview, das extrem kritisch mit ihrer eigenen Berichterstattung umgeht, so veröffentlicht. Das spricht einmal mehr für eine grundsätzliche Gesundheit des deutschen Journalismus‘ trotz aller Unkenrufe. In der Sache teile ich Schnells Kritik völlig. Viel zu oft werden einerseits dumme Umfragen erstellt und andererseits bestehende Umfragen nicht ausreichend analysiert. Ich vermute, dass dahinter auch ein gewisser Analphabetismus von Umfragen steht. Genauso wie bei der Datenanalyse generell vielen hier schlichtweg Kompetenzen in den Redaktionen.

Resterampe

a) Hey, Clarence Thomas ist noch korrupter als angenommen!

b) Eine rechtliche Analyse des Clankriminalität-Begriffs.

c) Ich sag es wieder und wieder: der CO2-Preis ist eine politische Bombe.

d) Leider wahr.

e) Manchmal erntet man, was man säte.

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