Einer der faszinierenden (und ehrlich gesagt auch milde erschreckenden) Bestandteile des Älterwerdens ist die Feststellung, dass der eigene Referenzrahmen von einer jüngeren Generation nicht mehr geteilt wird und diese bei zunehmend mehr Aspekten nicht mehr weiß, wovon man eigentlich spricht. Meine Elterngeneration (spätestens) dürfte ein Leben ohne Elektrizität und fließend Wasser nicht nachvollzogen haben können, während ich selbst mir nicht vorstellen konnte, dass es einmal Familien ohne Farbfernseher gab. Ich habe mich deswegen entschlossen, diese unregelmäßige Artikelserie zu beginnen und über Dinge zu schreiben, die sich in den letzten etwa zehn Jahren radikal geändert haben. Das ist notwendig subjektiv und wird sicher ein bisschen den Tonfall „Opa erzählt vom Krieg“ annehmen, aber ich hoffe, dass es trotzdem interessant ist. Als Referenz: ich bin Jahrgang 1984, und meine prägenden Jahre sind die 1990er und frühen 2000er. Was das bedeutet, werden wir in dieser Serie erkunden. In dieser Folge geht es um die Corona-Pandemie 2020-2023, die einem kollektiven Verdrängungsprozess zum Opfer zu fallen scheint. In dieser Folge betrachten wir Zeit ab dem Herbst 2021. Folge 1 hier, Folge 2 hier.
Das Schlagwort jener Tage war "Mit Corona leben". Es wurde die Phrase, mit der das Ignorieren der Pandemie und die Forderung nach einer Aufhebung sämtlicher Maßnahmen legitimiert wurden. Die Idee war, dass die Pandemie endemisch werden würde und dass über kurz oder lang ohnehin alle sie bekommen würden. Das war natürlich auch von Anfang an die Vorhersage aller Expert*innen und der langfristige Plan der Politik gewesen; die Frage war lediglich, wie schnell und mit welchen Schutzwirkungen dieser Prozess durchgeführt werden können würde. Jeder Versuch, das konstruktiv und pragmatisch zu lösen, wurde schnell zwischen den immer schärferen Fronten zerrieben: auf der einen Seite jene, die unbedingt alle Maßnahmen am besten gestern abschaffen wollten, und auf der anderen Seite jene, die am liebsten eine Verschärfung sehen würden.
Indessen waren immerhin Impfungen für Kinder verfügbar geworden. In diesem Zusammenhang ist es an der Zeit, auf die unrühmliche Rolle der StIKo hinzuweisen, der "Ständigen Impfkomission" - einem weiteren dieser vielen Gremien, die vor der Pandemie außer den Profis niemandem bekanntgewesen waren und die völlig unvermittelt ins Rampenlicht der Öffentlichkeit gerieten. Ihre Rolle war es, Empfehlungen auszugeben, welche Impfstoffe für welche Bevölkerungsgruppen ausgegeben werden sollten. Diese "Empfehlungen" wurden de facto von sämtlichen Arztpraxen befolgt, weswegen sie einer allgemeinen Regel gleichkamen. Durch die gesamte Pandemie hindurch war die StIKo wesentlich zurückhaltender und vorsichtiger als der internationale Durchschnitt. Während andere Länder ganze Bevölkerungsgruppen bereits impften, empfahl die StIKo noch, abzuwarten und zu testen und die Empirie zu vergrößern. Dasselbe Prozedere galt auch für die Impfungen für Kinder.
Der Grund lag darin, dass die Chancen, einen schweren Covid-Verlauf zu haben, umso geringer waren, je jünger die Erkrankten waren. Das war auch richtig; allein, bei einer Pandemie werden so viele Menschen infiziert, dass das immer noch zehntausende von Kindern betrag. Ich zumindest war nicht bereit, meine eigenen Kinder darunter zu sehen - besonders, weil das Risiko der Impfung selbst, das immer als Argument vorgebracht wurde, um mehrere Faktoren niedriger war. Zum Glück funktionierte die Impfstruktur des Staates einmal mehr hervorragend: die schon beinahe stillgelegten Impfzentren sprangen wieder in Aktion, man konnte Termine buchen und die Kinder auf eigene Gefahr impfen lassen. Dabei fiel mir direkt auf, wie viel kleiner der Andrang als im Jahr vorher bei den ersten Impfungen. Die Desinformationskampagnen hatten ihre Wirkung getan. Zahllose Menschen hatten völlig überzogene Angstvorstellungen bezüglich der Impfungen.
Wie viel die Impfungen denn halfen, ist immer schwer zusagen. Vor einer Ansteckung bewahren können sie kaum, aber die Verläufe mindern können sie. Da wir keine Wiederholung ohne machen können und weil alles andere der geistigen Gesundheit kaum zuträglich wäre nehme ich an, dass sie bei uns diese Wirkung taten, als im März 2022 das Schicksal zuschlug. Zuerst wurde mein Sohn krank. Unsere halbherzigen Versuche, zuhause eine Isolation hinzubekommen, scheiterten schnell an der Realität eines kranken 9jährigen. Zwei Tage später zeigte der Test meiner Frau positiv, zwei weitere Tage später meiner. Mein Sohn hatte Glück; er hatte den für Kinder typischen milden Verlauf. Drei Tage lag er waidwund darnieder und litt an den Symptomen einer Grippe, dann war er auf dem Weg der Erholung. Meine Tochter entging mysteriöserweise einer Erkrankung völlig; die Tests blieben negativ (bis zum heutigen Tag).
Meine Frau erwischte es heftiger: über zwei Wochen war sie bettlägerig. Das war schlimm genug, aber da nach nur zwei Tagen ich ebenfalls flach lag waren in der Eltern nur zu bekannten Situation, schwer krank zu sein, aber trotzdem für die Kinder da sein zu müssen (die teilweise ebenfalls noch pflegebedürftig waren). Es war die Hölle. Ich erlitt nicht das in der Anfangszeit von Corona viel diskutierte Symptom des Geschmacksverlusts (an der Stelle bitte allfälligen Wortwitz über den kulturellen und stilistischen Geschmack einbringen), sondern wurde stattdessen von einer nie erlebten Erschöpfung niedergestreckt. Ich lag den ganzen Tag nur herum, unfähig, mich zu etwas zu motivieren oder zu schlafen. Aufstehen oder Treppen steigen war eine schier unüberwindbare Aufgabe und laugte mich völlig aus. Das ging drei Wochen so, bevor ich soweit genesen war, dass ich wieder zur Arbeit gehen konnte.
Dachte ich jedenfalls. Im April fanden - wie alljährlich - die Abiturprüfungen statt, und natürlich war ich (wie immer) der Überzeugung, dass man auf mich in dieser schweren Zeit nicht verzichten könne und fühlte mich vom Pflichtgefühl zurück an den Arbeitsplatz gedrängt. Es war katastrophal. Mit Mühe leistete ich die Arbeit des Vormittags ab, um dann völlig kaputt nach Hause zu kommen um den Rest des Nachmittags zu schlafen. Hätte ich nicht mehrere Jahre Berufserfahrung und damit einen Vorrat an Material gehabt wäre selbst diese Grundleistung unmöglich gewesen.
Auch so ging nicht viel. Ich konnte kaum mehr als anwesend sein und die notwendigsten Funktionen ausführen. Immer wieder trafen mich Erschöpfungsattacken. Mein Tiefpunkt war, als ich in eine Abituraufsicht nur noch liegend absolvieren konnte und alle meine Kraft darauf verwendete, nicht einfach einzuschlafen. An diesem Punkt zog ich die Reißleine, meldete mich wieder krank und informierte meine Schulleitung und den Vorstand über meinen Zustand und bat um Verständnis, wenn Funktionen nicht so erledigt würden, wie sie sollten. Ich war nicht mehr in der Lage zu erkennen, wann ich überhaupt diese Funktionen nicht mehr erfüllte. Filmrisse, Aussetzer, Konzentrationsprobleme bestimmten den Alltag. Ich schrieb auch allen Schüler*innen und den Eltern und informierte sie über meinen Zustand, um Gerüchtebildung oder Unmut zu verärgern. Glücklicherweise brachten alle Seiten viel Verständnis entgegen. So ging es in den Mai, den zweiten Monat nach der Erkrankung.
Eine Besserung trat nur sehr langsam ein. Die Erschöpfungsattacken, Filmrisse und Unzulänglichkeiten kamen in etwa größeren Abständen, aber sie kamen weiter. Ich begann, alle möglichen Ärzt*innen abzuklappern. Ich hatte in meinem Leben noch nie Fachärzt*innen besucht, immer nur Allgemeinmedizin und fertig. Nun war ich bei Lungenärztin, Kardiologen und Neurologin. Der Befund war überall derselbe: nichts festzustellen. Einerseits war das eine gute Nachricht - schließlich hätte auch ein Hirn-, Herz- oder Lungenschaden verantwortlich sein können, der entweder zeitgleich oder sogar durch Corona entstanden war. Gleichzeitig zeigte sich aber auch die Hilflosigkeit einer ganzen Zunft gegenüber der Krankheit. Es gab nichts, was man tun konnte. Dass ich die ganzen Untersuchungen überhaupt machen und diese Aufmerksamkeit bekommen konnte erfüllt mich - wie übrigens im Alltag immer noch - ständig mit Schuldgefühlen. Ohne die private Krankenversicherung hätte das sicher anders ausgesehen.
Das galt immerhin nicht für den nächsten Heilungsversuch. Meine Allgemeinärztin verschrieb mir eine Kur, etwas, das in meinem Kopf für die Generation 55+ reserviert gewesen war. Das bezahlen (kurioserweise) die gesetzlichen Krankenversicherungen als einzige Leistung besser als die privaten. Der Antrag ging aber problemlos durch, und - einmal mehr vom Pflichtbewusstsein getrieben - zu Beginn der Ferien nahm ich eine dreiwöchige Auszeit von allem und ging in Kur. Ich war nicht der einzige; Covid-Kuren waren der Grund für sicherlich ein Drittel aller Kurgäste.
Die Kur selbst war eine sehr zwiespältige Erfahrung. In den drei Wochen fühlte ich mich zunehmend einsam, da ich nur wenig Kontakte knüpfen konnte. Das Essen war so mies, dass die Gags aus "Asterix und der Avernerschild" sich wie eine Doku ausnahmen. Das Programm war generisch: Sport, ein bisschen Untersuchungen, viel frische Luft. Ein echtes Kozept hatte die Klinik nicht, die einfach nur Standardprogramme fuhr und abrechnete. Was es an dedizierten Covid-Behandlungen gab betraf die harten Fälle, die grundlegende Hirnfunktionen wieder lernen mussten. Das zeigte drastisch, welch harschen Wirkungen Covid auf allzuviele Betroffene haben konnte, und machte mich demütig dankbar dafür, "nur" mit den Long-Covid-Symptomen geschlagen zu sein, die ich hatte. Ich glaube nicht, dass die Kur viel zu meiner Heilung beitrug; der Zeitfaktor dürfte hier der entscheidende gewesen sein. Die miese Qualität von Kost und Logis tat zusammen mit den über 1500 Euro, die ich aus eigener Tasche zuschießen musste, ein Übriges, ein sehr zwiespältiges Gefühl zu hinterlassen. Umgekehrt war die volle sportliche Betätigung sehr angenehm, und ich fühlte mich zumindest wieder fit.
Das änderte nichts daran, dass die Rückschläge immer wieder kamen. Ich sage immer, dass ich inzwischen eine Ahnung habe, wie sich Demenz anfühlt. Denn das schlimme ist, dass ich mich überhaupt nicht erinnern kann, was während der "Ausfälle" passiert ist. Ein besonders drastisches Beispiel: ich musste meine Tochter auf 7.30 Uhr in die Schule bringen. Um 8.20 Uhr rief meine Frau aufgelöst an; die Schule hatte sie angerufen, weil die Tochter noch nicht da war. Ich war gerade am Anziehen mit ihr - um sie auf 8.30 Uhr hinzubringen. Mir war völlig unklar, warum ich von 8.30 Uhr ausgegangen war - oder was mit der einen Stunde passiert war. Es war ein erschreckender Moment, der einen auf eine Art hilflos, unzureichend und defekt erscheinen lässt, der sich tief ins Bewusstsein gräbt.
Aber die Zeit heilte, langsam, aber stetig. Die Episoden wurden weniger, die Abstände größer. Noch immer war meine Leistungsfähigkeit eingeschränkt, aber im November 2022 erklärte meine Frau, dass sie zum ersten Mal das Gefühl habe, ich sei wieder ich selbst. Dieser Winter war auch der erste, in dem alle offiziell so taten, als sei die Pandemie vorüber. Ich konnte das Gefühl nicht teilen. Für mich ist sie das bis heute nicht. Immer noch leide ich manchmal unter Erschöpfungsattacken und Konzentrationsproblemen. Gerade erst (Janurar/Februar 2024) hat mich eine Grippe für mehr als zwei Wochen ausgeknockt. Ich bin anfälliger für solche Krankheiten als früher.
Es sind diese Erfahrungen, die mich wütend machen, wenn Leute, die weitgehend ungeschoren durch die Pandemie kamen, große Töne von ihrer Harmlosigkeit spucken oder mir gar Egoismus vorwerfen. Dass gerade versucht wird, die Ereignisse umzudeuten oder sogar zu verdrehen, macht das alles nicht gerade besser. Auch das Kopf-in-den-Sand-Stecken von Politik und Gesellschaft, die geradezu aggressive Weigerung, aus der Pandemie zu lernen oder die nächste vorzubereiten, macht mich wütend, weil es sich anfühlt, als wären Opfer und Leiden vergebens gewesen. Dabei ist es ja nicht so, als gäbe es keine Schlüsse zu ziehen. Auf eine perverse Art weigern wir uns nur, das zu tun. Stattdessen leben wir alle mit Corona.
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