Einer der faszinierenden (und ehrlich gesagt auch milde erschreckenden) Bestandteile des Älterwerdens ist die Feststellung, dass der eigene Referenzrahmen von einer jüngeren Generation nicht mehr geteilt wird und diese bei zunehmend mehr Aspekten nicht mehr weiß, wovon man eigentlich spricht. Meine Elterngeneration (spätestens) dürfte ein Leben ohne Elektrizität und fließend Wasser nicht nachvollzogen haben können, während ich selbst mir nicht vorstellen konnte, dass es einmal Familien ohne Farbfernseher gab. Ich habe mich deswegen entschlossen, diese unregelmäßige Artikelserie zu beginnen und über Dinge zu schreiben, die sich in den letzten etwa zehn Jahren radikal geändert haben. Das ist notwendig subjektiv und wird sicher ein bisschen den Tonfall „Opa erzählt vom Krieg“ annehmen, aber ich hoffe, dass es trotzdem interessant ist. Als Referenz: ich bin Jahrgang 1984, und meine prägenden Jahre sind die 1990er und frühen 2000er. Was das bedeutet, werden wir in dieser Serie erkunden. In dieser Folge geht es um die Zeit, in der "Reform" das politische Schlagwort war.
1997 hielt der damalige Bundespräsident Roman Herzog eine Rede, die als "Ruck-Rede" Berühmtheit erlangt hat wie wohl nur Weizsäckers Rede vom "Tag der Befreiung" vom 8. Mai 1985. Mit der Losung "es muss ein Ruck durch Deutschland gehen" mahnte er nicht nur die Politik, sondern auch die Verbände und die ganze Gesellschaft dazu an, Opfer zu bringen und sich zu großen Veränderungen bereit zu finden, die auch schmerzhaft sein müssten. Angesichts der drängenden Probleme im Land, die unter dem Begriff des "Reformstaus" verschlagwortet wurden, sei dies unabdinglich. Herzog hatte das Glück, kein Grüner zu sein, sonst hätte man ihm Moralisieren mit dem erhobenen Zeigefinger vorgeworfen. Aber er war ein Bürgerlicher und schlug in eine damals populäre Kerbe. Es sollte dann aber nicht die CDU sein, die bei den Wahlen 1998 noch einmal mit Helmut Kohl antrat, der nicht eben eine Ikone der Veränderung war, sondern eine rot-grüne Bundesregierung, die mit Schlagworten wie "nicht rechts oder links, sondern vorn" oder dem Wahlkampfmotto "Innovation und Gerechtigkeit" Tony Blair und Bill Clinton nachfolgte.
All das weiß ich freilich nur aus den Geschichtsbüchern. Ich habe den Wahlkampf 1998 am Rande mitbekommen, aus Gesprächen der Eltern oder einem Fernsehspot (ich erinnere mich noch lebhaft an die Star-Trek-Persiflage, in der Kohl zu schwer/alt/rückständig ist, um wegteleportiert zu werden). Aber ansonsten war ich 14 und an anderen Dingen interessiert. Auch bei meiner ersten eigenen Bundestagswahl 2002 spielte das Reformenthema für mich noch keine Rolle; es war zu abstrakt, zu wenig in meiner Lebenswirklichkeit angekommen. Entsprechend nahm ich auch die Debatten um die Agenda2010 und die Einführung von Hartz-IV wahr: ich war wesentlich interessierter an der Frage des Irakkriegs. Das änderte sich allerdings um 2004 mit einer stärkeren Politisierung - die dann auch recht schnell aus einem vorher eher unbestimmten politischen Spektrum nach links ausschlug - deutlich. Vor allem allerdings brach der Reformdiskurs mit dem beginnenden Studium 2005 deutlich in mein eigenes Leben.
Ich muss an dieser Stelle deutlicher machen, was ich meine, wenn ich von "Reformdiskurs" oder der "Reformzeit" spreche. Das Wort "Reform" war in den 2000er Jahren ubiquitär. Es besaß auch seine eigene Konnotation. Wann immer jemand in dieser Zeit von "Reform" sprach, war damit eine Streichung oder Kürzung gemeint. Der Abbau von "Besitzständen" (ein anderes Schlagwort jener Zeit, gerne in Kombination mit "liebgewonnenen"), das "enger Schnallen" des metaphorischen Gürtels, das Streichen von Schutzrechten und Ansprüchen. Auch Wörter wie "Flexibilisierung" hatten einen bedrohlichen Klang, denn sie meinten nie Flexibilität für die Arbeitnehmenden, sondern für die Arbeitgebenden, die ihr Personal flexibler - und damit mehr in das Privatleben einschneidend - einsetzen und bezahlen konnten. Und "flexible" Bezahlung meinte immer: Flexibilität nach unten.
Ich erfuhr diese Reformzeit auf zwei Ebenen. Die eine war die Ebene des politischen Bürgers, also des Diskurses, der sich entspannte. Zeitungsartikel, Talkshows (wobei ich die damals schon nicht geschaut habe und vor allem aus der schriftlichen Rezeption kenne), Bücher, Blogposts. Überhaupt, Blogs. Die 2000er waren die große Zeit der Blogs. Praktisch alle hatten einen. Blogs hatten eine Blogroll, auf der man sich gegenseitig verlinkte. Die andere Ebene war die eines Gelegenheits-Arbeitnehmers. Ich musste mein Studium zwar nicht komplett finanzieren, aber zumindest zu einem Teil. In diesem Kontext erfuhr ich den neuen, flexiblen und reformierten Arbeitsmarkt ziemlich unmittelbar, aber dazu später mehr.
Ich habe 2004 angefangen, regelmäßig den Spiegel zu lesen. Bereits zwei Jahre später, 2006, hatte ich von den "Systemmedien" die Schnauze voll und war glühender Anhänger der NachDenkSeiten. Ich hatte Albrecht Müllers Buch, "Die Reformlüge", gelesen. Müller hatte es 2004 geschrieben, und es ist eine Art Startschuss dieser Systemkritik von links aus den Teilen der respektablen Linken, sprich: der Sozialdemokratie. Ich würde behaupten, dass ohne Leute wie Müller, seine NachDenkSeiten, seine Bücher und das Projekt der Schaffung einer "Gegenöffentlichkeit", wie er es nannte, die Partieneugründung der LINKEn nicht ganz so erfolgreich gewesen wäre.
Das Konzept der "Gegenöffentlichkeit" beruhte auf einer einfachen Idee: die Medien seien alle gleichgeschaltet, was vor allem am Einfluss der Eliten liege. In diesem Fall waren sie alle dem Regime des Kapitalismus verfallen, das Meinungsspektrum weitgehend von Springer, Bertelsmann und Co dominiert (die Rolle, die Bertelsmann damals spielte, ist aus heutiger Sicht kaum mehr nachvollziehbar). Deswegen war es notwendig, eine eigene Öffentlichkeit aufzubauen, die sich diesem "Meinungskartell" entgegenstellte. Die NachDenkSeiten erreichten zwar nur einige Zehntausend, aber es war eine ziemlich laute und vernetzte Gruppe. Jedes Interview mit Sahra Wagenknecht oder Oskar Lafontaine wurde endlos rezipiert, die SPD in Bausch und Bogen verdammt, alternative Ökonom*innen zitiert und interviewt. Kurz, es war eine eigene Bubble, und ich war mittendrin.
Ich hatte 2006 meinen eigenen Blog gegründet, allerdings nicht so sehr wegen Müller - auf den traf ich erst später - sondern inspiriert von Arne Hoffmanns "Genderama". Hoffmann ist quasi der erste halb-prominente Maskulist in Deutschland, und ich hatte sein Buch "Sind Frauen bessere Menschen?" gelesen und war beeindruckt und konvertiert. Das Maskulismus-Thema und wie ich davon wegkam sollen hier aber nicht Thema sein (siehe meine Artikelserie "Ich lag falsch"). Sehr schnell dominierte aber das Thema der Reformzeit und der Gegenöffentlichkeit. Das alles änderte sich mit der Bundestagswahl 2009, aber das ist eine andere Geschichte, die ich ebenfalls schon erzählt habe.
Das Problem in der Bewertung jener Zeit ist, dass es tatsächlich einen medialen Konsens gab. Ob Spiegel, Welt, FAZ oder ZEIT, überall wurde die Trommel für weitere Reformen geschlagen. Nie war genug. Die Agenda2010 konnte nur der Anfang sein. Am schlimmsten war die Zeit der Großen Koalition 2005-2009 (tatsächlich noch groß), in der dieser fiebrige Diskurs seinen Höhepunkt erreichte. Die SPD verbog sich bis zur Unkenntlichkeit, führte die Rente mit 67 ein, aber die Reaktion darauf war die Forderung der Rente mit 70. Jede Kürzung von Sozialleistungen war begleitet von der Forderung nach weiteren Kürzungen und der Erklärung, warum die aktuellen nicht ausreichten. Die Talkshows in ZDF und ARD reproduzierten permanent den Konsens. Es gab einen Gast (gerne Wagenknecht oder Lafontaine) der gegen die Reformpolitik argumentierte, alle anderen Gäste und die Moderation dafür.
Warum betone ich das? Weil es normal ist. Deswegen habe ich auch so wenig Geduld mit denjenigen, die aktuell (frühe 2020er Jahre) den etwas linkeren medialen Konsens so harsch kritisieren: ich habe jahrelang das Gegenteil erlebt. Ich weiß, wie es ist, ständig gegen einen gesellschaftlichen Konsens zu sein, permanent kritisiert und angegriffen zu werden, permanent als linskradikal abgestempelt zu werden, die eigenen Ansichten als "Populismus" verworfen und nicht ernstgenommen zu bekommen. Die besorgten Bürger*innen gab es damals auch, die waren auf den Montagdemos. Und mussten sich von allen Medien und den Politiker*innen (moralisierend, mir erhobenem Zeigefinger) belehren lassen, dass das eine Verhöhnung der Bürgerrechtsbewegung in der DDR und der Opfer der Diktatur war und sowieso ohne Einsicht in die Erfordernisse der Wirklichkeit. Ab 2013 begann der gesellschaftliche Konsens deutlich in die andere Richtung zu rutschen.
Und dann war da Faktor der ökonomischen Umstände, also wie man die Wirklichkeit erfuhr. Zumindest, wenn man von den Reformen betroffen war, was ja nicht alle waren; niemals betreffen ökonomische Umstände alle. Aber ich war betroffen. Ferienjobs und Nebenjobs waren notwendig alle für unqualifizierte Kräfte. Ich hatte nicht das Glück, wie etwa Studierende der Ingenieurswissenschaften, Werkstudent werden zu können. Entsprechend habe ich eine ganze Reihe von Arbeiten am unteren Ende des Einkommensspektrums gemacht. Die Löhne waren schlecht; 2009 etwa habe ich für 5,12€ die Stunde Pizza ausgeliefert (und wir wurden noch dazu massiv um Arbeitszeit betrogen...). 7€ die Stunde waren ein guter Lohn. Die Forderung der LINKEn, einen Mindestlohn von 8€ einzuführen, war für mich ein absoluter Traum; meist bekam ich deutlich weniger. Das Geld, das meine Schüler*innen heute nebenbei verdienen können, einfach weil es einen Mindestlohn gibt, war für mich utopisch. Und neben mir arbeiteten oft Leute, die nicht nebenbei ein Studium, sondern hauptberuflich ihr Leben damit finanzierten.
In dieser Stimmung kam es sogar zu Nominallohnkürzungen. Ich erinnere mich noch, wie ich 2006 für eine Industriereinigungsfirma arbeitete (Samstag morgens von 6 bis 10 Uhr), die die Stundenlöhne um 50 Cent reduzierte; die Wettbewerbslage, Sie verstehen sicher. Dazu die Schwierigkeit, überhaupt Arbeit zu finden; wir waren weit von Vollbeschäftigung entfernt. Am schlimmsten war es 2009, als die Finanzkrise durchschlug und die üblichen Jobs nicht mehr zu bekommen waren. Das erste und einzige Mal in meinem Leben konnte ich von einem überzogenen Konto nichts mehr abziehen und hatte noch Monat am Ende des Geldes übrig, ohne zu wissen, wie ich den Kühlschrank füllen sollte.
Ich will nicht zu sehr auf die Tränendrüse drücken, aber es war keine schöne Zeit. Für mich war das gesellschaftliche Klima war kalt, aggressiv, abwertend. Es gab einen medialen und gesellschaftlichen Konsens, und ich stand auf der anderen Seite. Heute, mit einem komfortablen Einkommen, das von der Konjunktur weitgehend entkoppelt ist, fällt es wesentlich leichter, mit einiger Distanz auf Diskussionen zur Sozialpolitik zu blicken. Damals war es existenziell. Die Erinnerung daran ist immer etwas, das für Perspektive sorgt.
Dir gefällt, was Stefan Sasse schreibt?
Dann unterstütze Stefan Sasse jetzt direkt: