Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.

Fundstücke

1) Eine wirkliche Gefahr für die Verfassung

Der Artikel kritisiert die Ansicht, dass rechtliche und demokratische Strukturen allein ausreichend Schutz gegen antidemokratische Kräfte bieten. Am Beispiel von Viktor Orbáns Ungarn wird gezeigt, wie eine Regierung die Demokratie formal legal, aber gegen ihren Geist untergraben kann, indem sie die Gewaltenteilung, Presse- und Wissenschaftsfreiheit einschränkt. Diese Taktik führt dazu, dass die Regierung zwar demokratisch legitimiert erscheint, jedoch praktisch unangreifbar wird. Der Text argumentiert, dass Deutschland nicht immun gegen solche Entwicklungen ist, da auch hier autoritär-populistische Parteien, wie die AfD, ähnliche Strategien verfolgen könnten. Es wird gewarnt, dass die AfD von anderen autoritären Regierungen lernen und demokratische Institutionen zum eigenen Machterhalt missbrauchen könnte. Die Annahme, dass die Verfassung und das Rechtssystem automatisch Schutz bieten, wird als naiv dargestellt. Konkrete Beispiele aus Thüringen zeigen, wie die AfD bereits Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse nehmen konnte, ohne eine Mehrheit zu haben. Dies unterstreicht die Befürchtung, dass eine AfD-geführte Landesregierung die demokratische Ordnung ernsthaft gefährden könnte. Der Artikel betont, dass die Gefahr nicht allein in offensichtlichen Verfassungsbrüchen liegt, sondern auch in der schleichenden Erosion demokratischer Prinzipien. Die Analyse weist darauf hin, dass eine alleinige Fokussierung auf die rechtliche Dimension die politische und gesellschaftliche Realität ignoriert. Es wird aufgezeigt, dass die Demokratie aktiv verteidigt werden muss, um nicht durch autoritär-populistische Kräfte unterminiert zu werden. (Hannah Katinka Beck, Verfassungsblog)

Zu viele Leute scheinen der Überzeugung zu sein, dass die Demokratie tatsächlich deswegen sicher sei, weil bisher die demokratischen Normen gehalten haben. Diese Normen werden dann gerne, weil sie wenigstens teilweise in sakral überhöhten Verfassungsdokumenten stehen, als mindestens ebenso sicher betrachtet. Das gilt auch, solange die Teilnehmer alle Demokraten sind. Das BVerfG-Urteil zum Haushalt 2023 war auch deswegen ein so schwerer Schlag für die Ampel, weil die Ampel demokratischen Normen verpflichtet ist. Sie versuchten nicht, das Recht auszuhebeln oder das Gericht zu umgehen, sondern akzeptierten das Urteil. Das klingt wie eine Selbstverständlichkeit, ist es aber nicht. Das System würde ihnen einen ziemlich großen, völlig legalen Spielraum einräumen - nur liegt der außerhalb demokratischer Normen und ist daher für Demokrat*innen undenkbar. Für eine extremistische Bande von Verfassungsfeinden wie die AfD gilt das alles nicht. Ihre potenzielle Beteiligung an Regierungsmacht ist deswegen wesentlich gefährlicher, als manche Apologeten das sehen wollen.

2) "Der Begriff der Arbeit wird gerade von rechts besetzt" (Interview mit Linus Westheuser)

Das Interview thematisiert die aktuelle verteilungspolitische Debatte in Deutschland, in der die Reallöhne stark gefallen sind, während große Unternehmen hohe Gewinne erzielen. Linus Westheuser, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität zu Berlin, sieht darin ein Zeichen für die gesellschaftliche Demobilisierung des Verteilungskonflikts zwischen Arm und Reich. Er führt dies auf die historische Schwäche von Gewerkschaften und linken Parteien zurück, die nicht mehr in der Lage sind, den Interessengegensatz zwischen Besitzenden und Lohnabhängigen politisch zu mobilisieren. Die Diskussionen um soziale Sicherung werden zunehmend moralisiert und zwischen Lohnabhängigen ausgetragen, wobei diejenigen, die sich abmühen, sich von denen abgrenzen, die es vermeintlich leichter haben. Westheuser kritisiert, dass die politische Linke es versäumt hat, ein überzeugendes Narrativ zu entwickeln, das die Notwendigkeit einer Umverteilung unterstreicht und eine Alternative zur konservativen Rhetorik bietet. Er argumentiert, dass eine gerechte Verteilungspolitik auch die Verhandlungsposition der Arbeitenden stärken würde, indem sie weniger erpressbar macht und zu besseren Arbeitsbedingungen führt. Die derzeitige Debatte konzentriert sich jedoch zu sehr auf den Lohnabstand zwischen Sozialleistungsempfängern und Geringverdienern, was eine einseitige Perspektive darstellt. Westheuser sieht das Potenzial für eine Rückkehr des Verteilungskonflikts in die politische Agenda und betont die Notwendigkeit für linke Parteien, ein eigenes politisches Vokabular und eine Vision für eine gerechtere Gesellschaft zu entwickeln. Er mahnt, dass ohne eine Repolitisierung von Verteilungskonflikten die Existenzberechtigung linker Parteien infrage gestellt wäre. (Robert Pausch, ZEIT)

Wie bereits in einem letzten Vermischten diskutiert, ist es beinahe müßig geworden, über Ungleichheit in Deutschland zu streiten, weil einfach keine Einigkeit besteht, ob das überhaupt passiert. Ich will das einmal mehr ausklammern und stattdessen zu dem wohl unzweifelhaften Befund kommen, dass die SPD (und erst recht nicht die LINKE) den Begriff "Arbeit" besetzt und die Grünen das weder je taten noch könnten noch wollen; kaum jemand ist von "Arbeiterklasse" so weit weg wie diese Partei. Eine solche offene Flanke kann nicht unbesetzt bleiben, und wenn die Linke sie nicht nimmt (und die FDP kann das genausowenig wie die Grünen), bleibt nicht mehr viel. Ich stimme Westheuser auch völlig darin zu, dass a) mehr Polarisierung auf Verteilungsgerechtigkeit (was auch immer das konkret bedeutet) von links nötig ist und b) diese Polarisierung an Bedeutung zunehmen wird. Wenn die SPD das nicht macht, wird es die AfD tun.

3) Why Movements Fail

Vincent Bevins' Buch "If We Burn" analysiert, warum die globalen Protestbewegungen der Jahre 2010 bis 2020 ihre Ziele größtenteils nicht erreichen konnten. Bevins konzentriert sich dabei nicht auf amerikanische Bewegungen wie die Women's March oder Black Lives Matter, sondern auf internationale Proteste wie den Arabischen Frühling, die Proteste in Hongkong 2019, die Gezi-Park-Proteste in der Türkei, die Proteste in Brasilien 2013 und die Euromaidan-Proteste in der Ukraine. Trotz der Mobilisierung von Millionen Menschen führten diese Bewegungen nicht zu den erhofften demokratischen Veränderungen, sondern endeten oft in Gegenreaktionen autoritärer Regime. Bevins identifiziert eine Reihe von gemeinsamen Taktiken dieser Bewegungen, darunter die Besetzung zentraler Plätze, Demonstrationen, Konflikte mit der Polizei und die Blockade von Straßen. Diese Aktionsformen basierten auf einem Verständnis von Politik, das Bevins als "Horizontalismus" bezeichnet. Dieser Ansatz lehnt hierarchische Strukturen ab und setzt auf die gleichberechtigte Teilhabe aller an Entscheidungsprozessen. Der Horizontalismus entstand als Reaktion auf die wahrgenommene autoritäre Natur traditioneller linker Organisationen und suchte nach einer demokratischeren Form des politischen Engagements. Allerdings sieht Bevins in der horizontalen Organisation und den gewählten Taktiken auch Gründe für das Scheitern dieser Bewegungen. Sie waren oft unfähig, ihre Aktionen zu koordinieren und konkrete politische Ziele durch Verhandlungen zu erreichen. Zudem fehlte eine klare Strategie, wie durch die Proteste tatsächlich Veränderungen herbeigeführt werden sollten. Viele Bewegungen verließen sich auf eine teleologische Vorstellung von Geschichte, die davon ausgeht, dass eine natürliche Entwicklung hin zu einer besseren Gesellschaft stattfindet, wenn nur genügend Druck ausgeübt wird. Diese Annahme erwies sich jedoch als trügerisch, da rechtsgerichtete Kräfte die entstandenen politischen Vakuen nutzten, um an die Macht zu kommen. Bevins kritisiert die mangelnde Bereitschaft der Bewegungen, politische Macht zu übernehmen, und die Illusion, dass spontane Massenproteste allein ausreichen, um gesellschaftlichen Wandel zu bewirken. Er schlägt vor, dass zukünftige Bewegungen sowohl eine klare Vision für die Gesellschaft haben als auch bereit sein müssen, Verantwortung zu übernehmen und konkrete politische Ziele zu verfolgen. Abschließend hinterfragt Bevins die Wirksamkeit des Horizontalismus als politische Strategie und betont die Notwendigkeit, sowohl visionär als auch pragmatisch in der Gestaltung politischer Bewegungen zu sein, um echten Wandel zu erreichen. (Samantha Hancox-Li, Liberal Currents)

Ich fand die Besprechung dieses Buchs ungemein spannend und habe es mir auch direkt bestellt. Die Idee des "Horizentalismus" erklärt eine ganze Menge über Protestbewegungen und ihr weitgehendes Scheitern nach dem "High" von Massendemonstrationen. Mir gibt es ein Erklärungsmuster für mein langes Beharren auf dem Wert von Organisation: nur dort, wo Organisationen bestehen, kann etwas passieren, und dieses Passieren vollzieht sich nicht ruckartig in einer Revolution, sondern durch das Bohren harter Bretter mit Leidenschaft und Augenmaß. Ich halte das Nicht-Verstehen dieser Tatsache auch für den größten strategischen Fehler der Linken (im weitesten Sinne), denn die Rechte hat schon immer wesentlich besser verstanden, wie wichtig Organisation ist. Deswegen ist sie auch wesentlich erfolgreicher im Erringen und Halten von Regierungsmacht.

4) Parlament als Bühne

Im zweiten Teil des Beitrags wird argumentiert, dass die Voraussetzungen für ein Parteiverbot gegen bestimmte Landesverbände der AfD, wie jene in Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt, gegeben sind. Es wird aufgezeigt, dass ein Parteiverbotsantrag auch auf Landesverbände beschränkt werden kann und dass die fraglichen Landesverbände aufgrund ihrer Ziele und des Verhaltens ihrer Anhänger die freiheitliche demokratische Grundordnung spürbar gefährden. Dies wird unter anderem mit einem ethnisch-exklusiven Volksbegriff und rassistischen Positionen gegen Ausländer und Menschen mit Migrationshintergrund begründet. Der Beitrag diskutiert zudem die Rolle der Staatsrechtslehre in der Debatte um einen ethnisch-exkludierenden Volksbegriff und kritisiert Auffassungen, die das deutsche Volk im Sinne des "ethnos" und nicht des "demos" verstehen, als verfassungswidrig. Es wird hervorgehoben, dass solche Konzepte die Menschenwürde verletzen und mit dem Demokratieprinzip unvereinbar sind. Abschließend wird darauf eingegangen, dass die radikalen Landesverbände der AfD mit hoher Wahrscheinlichkeit die Voraussetzungen für ein Parteiverbot erfüllen, und es wird die Notwendigkeit betont, entschlossen gegen diese Verfassungsfeinde vorzugehen. Der Beitrag kritisiert die zurückhaltende Haltung vieler Staatsrechtler und betont die Verpflichtung zur Verfassungstreue, die eindeutige Maßnahmen gegen die Bedrohung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung erfordert. (Annie-Sophie Heinze, Verfassungsblog)

Ich habe bereits vor 2017 davor gewarnt zu glauben, dass - wie damals ständig gesagt wurde - der Einzug der AfD in den Bundestag (und in die Landtage) die demokratische Debatte beleben würde. Die geäußerten Hoffnungen waren stets die für mehr Auseinandersetzung und Debatte, was angesichts der bleiernen Konsenssoße der Merkel-Ära zwar verständlich, aber deswegen nicht weniger falsch war. Die AfD hat kein Interesse an einer Debatte und kein Interesse an konstruktiver Arbeit. Sie hat ein rein destruktives Interesse. Sie will zerstören, blockieren, aufhalten. Sie lebt von Chaos und Problemen. Das war 2015 absehbar, es war 2017 absehbar, es ist heute absehbar. Dass ein so grundlegender Faktor immer noch nicht allen Leuten klar zu sein scheint, die ihr Geld mit professioneller Politikbeobachtung verdienen, ist mir unbegreiflich (siehe auch Fundstück 5). Meine Vermutung ist ja, dass das ein aktives Nicht-Verstehen ist.

5) Das schwarz-grüne Missverständnis

Friedrich Merz, CDU-Vorsitzender, sorgte mit seiner "#MerzMail 187" für Diskussionen, indem er Koalitionsoptionen nach der Bundestagswahl erörterte. Während er eine Zusammenarbeit mit der AfD ausschloss, betrachtete er Koalitionen mit SPD, Grünen und FDP. Insbesondere die Erwägung einer Koalition mit den Grünen, die er zuvor als "Hauptgegner" bezeichnet hatte, löste parteiintern Irritationen aus. Kritik kam vor allem aus den Reihen der Jungen Union und der CSU, die ideologische Differenzen betonten. Merz' Brief zeigt jedoch keine Präferenz für eine schwarz-grüne Koalition, sondern stellt lediglich dar, welche Regierungskonstellationen möglich wären. Er nutzt die Erwähnung verschiedener Koalitionen als strategisches Mittel, um in Verhandlungen eine bessere Position zu erlangen. Die Debatte verdeutlicht die Notwendigkeit, alle Optionen zu berücksichtigen, um eine regierungsfähige Mehrheit zu sichern. Dass er missverstanden wurde, zeige seine Kommunikationsfehler. (Stefan Kuzmany, Spiegel)

Ich halte das weder für missglückte Kommunikation noch für ein Missverständnis. Es ist ein Versuchsballon. Denn es ist doch völlig offensichtlich: die CDU braucht entweder die SPD oder die Grünen zum Regieren. Ohne einen der beiden geht es nicht. Die pflichtschuldige Erwähnung der FDP als Wunschoption ist seit 2013 völlig irrelevant. Es wird keine schwarz-gelbe Koalition geben. Merz bleibt Schwarz-Rot, Schwarz-Grün (vielleicht!) und Jamaika. That's it. Dass da jetzt darüber geredet wird, als habe Merz etwas Bahnbrechendes gesagt, zeigt vor allem, dass die meisten Boebachtenden - gerade die Journalist*innen, die genau dafür eigentlich bezahlt werden - entweder bewusst (schlimm genug) oder unbewusst (schlimmer) elementare Gegebenheiten nicht verstehen und stattdessen Stories erzählen. Wenn dann der FDP-Generalsekretär erklärt, er tendiere zu einer Koalition ohne Grüne, hat das eine unfreiwillige Komik: einerseits, weil die FDP gerade Sorgen hat, die 5%-Hürde zu nehmen, andererseits, weil es keine Koalitionsoption ohne die Grünen gibt (sofern wir nicht in eine Deutschland-Koalition gehen, die aber überhaupt nicht diskutiert wird).

Resterampe

a) Die deutsche Gesellschaft muss eine neue Wehrhaftigkeit auch wirklich wollen.

b) Der letzte Gallier. Hoffen wir mal das Beste.

c) Vater-in-waiting. Nachdem wir letzthin Buschmann loben konnten, muss man hier nun den Zeigefinger mahnend schwenken.

d) Urteil zugunsten von Lehrerin: Arbeitsgericht stoppt Extra-Stunde.


Fertiggestellt am 08.02.2024

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