Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.
Anmerkung: Sorry für die Funkstille, ich war zwei Wochen in China ohne Zugang zu funktionierendem Internet.
Fundstücke
1) Vom Bundestag in die Lobby: FDP-Mitarbeiter nach der Wahl
Nach dem Scheitern an der Fünf-Prozent-Hürde muss die FDP den Bundestag verlassen – und mit ihr rund 700 Mitarbeitende. Laut BR-Recherchen bemüht sich die Fraktion aktiv um Anschlussbeschäftigungen, vor allem in Wirtschaftsverbänden. Ein interner „Stellenmarkt“ listet über 100 Angebote, teils mit direkten Kontakten zu FDP-nahen Personen. Die Bandbreite reicht von Positionen in der Glücksspielbranche bis hin zu Chefposten in Industrieverbänden. LobbyControl bewertet die Praxis kritisch: Es könne der Eindruck entstehen, parteinahe Tätigkeiten seien eine Eintrittskarte in die Lobbyarbeit. Dies werfe Fragen zur Unabhängigkeit politischer Entscheidungen auf. Auch wenn für Mitarbeiter keine Karenzzeit gelte, bleibe ein Seitenwechsel unmittelbar nach dem Bundestagsaustritt problematisch – besonders wenn Know-how und Kontakte aus der politischen Arbeit genutzt würden. Einige Fraktionen wie SPD oder Grüne distanzierten sich von vergleichbaren Vermittlungslisten. Die FDP änderte nach BR-Anfrage ihre interne Kommunikation. Kritiker sehen dennoch ein systemisches Problem, das über Einzelfälle hinausgeht. (Sammy Khamis/Alexander Nabert/Arne Meyer-Fünffinger, BR)
Ich sehe das wie üblich bei dem Thema etwas freundlicher. Die Leute haben bisher in sehr aufreibenden und nicht sonderlich gut bezahlten Posten (verglichen mit vergleichbaren Stellen in der Privatwirtschaft) für die Demokratie gearbeitet. Es ist absolut fair, dass die eine vernünftige Anschlussverwendung bekommen. Natürlich ist es etwas ironisch, wenn die Partei von Liberalismus und Eigenverantwortung auf die Art die Strippen zieht, aber so what? LobbyControl muss sich hier schon vorwerfen lassen, reichlich einseitig zu argumentieren. Klar ist der direkte Wechsel wegen der Interessenskonflikte nicht unproblematisch, nur: was ist die Alternative? Drei Jahre Bürgergeld? In der Politik ist ein recht spezielles Skillset verlangt, das nicht 1:1 auf irgendwelche andere Stellen übertragbar ist. Das Kontaktenetzwerk ist einer der wenigen Bereiche, in denen das funktioniert; logischerweise ist das besonders wertvoll - zumindest bei Ehemaligen der Parteien, die dichte Kontakte zur Wirtschaft pflegen. Klar ist der Marktwert einer Andrea Nahles nicht so groß wie der eines Christian Lindner. Deswegen war es auch nur folgerichtig, dass erstere bei der Arbeitsagentur unterkommt. Da hat sie ja tatsächlich die Kompetenzen für.
2) Merz’ großer Fehler in der Wirtschaftspolitik
In ihrer Kolumne warnt Ursula Weidenfeld davor, dass die CDU unter Friedrich Merz mit ihren jüngsten wirtschaftspolitischen Plänen zentrale Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft aufgibt. Durch die geplante Neuverschuldung von über einer Billion Euro werde der Staat zum „entscheidenden Spieler“ in der Wirtschaft, mit massiver Einflussnahme auf Märkte, Unternehmen und Investitionen. Der Staat sei dabei nicht nur größter Arbeitgeber, sondern auch bedeutendster Auftraggeber – mit spürbaren Folgen: "In den staatsfernen Bereichen werden die Ressourcen schrumpfen, in den staatsnahen die Preise steigen." Weidenfeld kritisiert, dass sich Unternehmen zunehmend am Staat orientieren, anstatt durch Innovation und Wettbewerb zu wachsen. Die CDU entferne sich damit weiter von ihrem eigenen wirtschaftspolitischen Erbe, das einst von Ludwig Erhard geprägt war. Sie warnt vor einer staatlich gelenkten Wirtschaft, die der Industrie klare Vorgaben mache, ähnlich der Politik von Robert Habeck – nur jetzt „von der Kommandobrücke des Kanzleramts“ aus. Ihr Fazit: Die CDU müsse zurück zur sozialen Marktwirtschaft, „bevor es zu spät ist“. (Ursula Weidenfeld, Spiegel)
Weidenfelds großer Fehler hier ist in meinen Augen zu übersehen, dass die deutsche Wirtschaft gerade in einer massiven Unterauslastungskrise steckt. Sprächen wir hier von der zweiten Hälfte der 2010er Jahre, als nahezu Vollbeschäftigung herrschte (wie golden diese Jahre in der Rückschau aussehen!), wäre das Argument wesentlich tragfähiger. Aber aktuell erlebt Deutschland eine Rezession. Das letzte Problem, das wir haben, ist "crowding out". Natürlich mag das sektoral ganz anders aussehen; der Bausektor etwa dürfte ziemlich heißlaufen und entsprechend auch inflationäre Tendenzen verursachen. Weidenfeld argumentiert vor allem ideologisch; der Bezug zu Ludwig Erhard etwa ist reichlich albern und historisch so tragfähig wie die Versuche mancher Linker und BSW-Anhängenden, Willy Brandt als Kronzeugen ihres Russland-Appeasements zu missbrauchen. Die Realität ist komplexer und schwieriger als einige primitive Leitsätze.
Der Soziologe Aladin El-Mafaalani beschreibt in einem Interview die prekäre Lage von Kindern in Deutschland. Er argumentiert, dass Kinder – rein zahlenmäßig – eine gesellschaftliche Minderheit seien, der zunehmend der politische Schutz fehle. Die alternde Bevölkerung dominiere Diskurse und politische Entscheidungen, während kindliche Lebensrealitäten in den Hintergrund rückten. El-Mafaalani warnt vor einer Kindheit im „Ausnahmezustand“, geprägt von Krisen wie Pandemie, Kriegen und Inflation. Werte wie Pünktlichkeit und Funktionalität seien für viele Jugendliche kaum noch erfahrbar. Zudem bemängelt er eine unzureichende Qualität in Kitas und Schulen, obwohl diese Institutionen immer größere Bedeutung für die kindliche Entwicklung gewännen. Angesichts steigender Erwerbstätigkeit von Eltern müsse das Bildungssystem auch familiäre Funktionen übernehmen – von Ernährung bis zur Persönlichkeitsbildung. Eine Reform sei daher dringend nötig. El-Mafaalani schlägt vor, Rentner verstärkt in Schulen und Kitas einzubinden und einen „Zukunftsrat“ junger Menschen in Parlamente zu integrieren. Kinderrechte sollten explizit ins Grundgesetz aufgenommen werden, um ihnen mehr Sichtbarkeit und Schutz zu geben. (Uma Sostman, Welt)
So sehr ich die Lagekritik sehe - Kinder sind in Deutschland bestenfalls ein Gedanke in den Fußnoten, und das Land ist viel zu familienunfreundlich -, so wenig überzeugt mich der Lösungsvorschlag. Wie geht es zusammen, im einen Atemzug die mangelnde Qualität der Kitas zu kritisieren und im anderen Atemzug das willkürliche Rekrutieren von Rentner*innen als Lösung zu sehen? Genauso wie bei den Diskussionen um das soziale Pflichtjahr scheinen mir diese Debatten vor allem Lösungen in Suche nach einem Problem zu sein: wir haben eine große Menge Rentner*innen, die volkswirtschaftlich gesehen unproduktiv sind, also was können wir mit denen anfangen? Und je nach eigenem Schwerpunkt findet man dann tolle Lösungen. Aber ein Lesekreis in der Kita, den Opa Ernst einmal in der Woche um 9 Uhr macht, ersetzt keine Fachkräfte, denn die sind damit beschäftigt, Opa Ernsts Lesekreis zu organisieren und die Kinder zu beaufsichtigen. Auch ist die Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz kein Panacea und dürfte wegen der (nie ausdrücklich genannten, aber sehr impliziten) Beschneidung von Elternrechten ein reales Problem darstellen.
4) Lügenverbot per Gesetz – damit sollte gerade Friedrich Merz vorsichtig sein
Im Artikel wird die geplante Regelung im Koalitionsvertrag zur Bekämpfung von Falschinformationen kritisch beleuchtet. Die Formulierung, die bewusst falsche Tatsachenbehauptungen von der Meinungsfreiheit ausnimmt, wird als problematisch eingeschätzt. Es wird darauf hingewiesen, dass schon heute eindeutige juristische Regeln existieren: Falsche Tatsachenbehauptungen sind nicht vom Grundgesetz geschützt, werden aber auch nicht automatisch verboten. Besonders schwierig werde es, wenn Tatsachenbehauptungen mit Meinungen verwoben sind – hier genieße der Meinungsanteil weiterhin Schutz. Der Autor warnt vor pauschalen Gesetzesformulierungen und verweist auf bestehende Straftatbestände wie Verleumdung, üble Nachrede oder Volksverhetzung. Der Versuch, über eine „staatsferne Medienaufsicht“ neue Verbote einzuführen, wirke überzogen und erinnere an „Schilder wie: Spielen verboten“. Ein Gesetz, das nicht vollziehbar sei, werde als „schlechtes Gesetz“ bezeichnet. Als eigentliche Ursache wird jedoch nicht ein juristisches Defizit gesehen, sondern ein „gesellschaftliches Problem“: Ein zunehmender Verlust von Scham bereite dem hemmungslosen Lügen den Weg. Ein Gesetz könne hier wenig ausrichten, da die Zusammenhänge „zu kompliziert, zu zeitgeistig“ seien. Abschließend wird gefordert, eher durch eigenes Verhalten und „Demut“ vorzuleben, statt fragwürdige Gesetze zu erlassen. (Nikolaus Blome, Spiegel)
Ich halte auch nichts von der Idee, Wahrheit per Gesetz verordnen zu wollen. Es ist typisch deutscher Ausfluss des Hangs, Probleme grundsätzlich durch juristische Festschreibungen lösen zu wollen. Genauso wie die Schuldenbremse nicht in der Lage war, per Gesetz haushalterische Probleme zu lösen, können Lügen und Fake News per Gesetz wegbeordert werden. Wie Blome richtig schreibt, ist es ein gesellschaftliches Problem. Wo Lügen keine Konsequenzen hat, wo Medien in ihren Aufgaben versagen, wird auch kein Gesetz helfen. Blome hat auch mit der Durchsetzbarkeit den richtigen Gedanken. 82 Millionen Deutsche erzählen viel zu viel Unsinn, als dass es gerichtlich nachhaltbar wäre, weswegen es zwangsläufig eine sehr selektive, willkürliche Rechtsausübung wäre. Es gibt Probleme, die sich gesetzlich durchaus lindern lassen. Das hier gehört eher nicht dazu. - Seitenbemerkung: die Überschrift ist merkwürdig. "Gerade" zu Friedrich Merz steht kaum was im Artikel, und das lässt sich leicht so lesen, als ob Merz ein Lügner sei.
Im Artikel wird kritisch hinterfragt, wie die Medien über den weltweiten Ausbau der Stromkapazitäten berichten. Besonders wird die Darstellung der Internationalen Energieagentur (IEA) problematisiert, die von einer "Renaissance" der Atomenergie spreche, obwohl die Zahlen eine andere Sprache sprechen. Nach Angaben der Internationalen Agentur für erneuerbare Energien (IRENA) wuchs die erneuerbare Kapazität 2024 um 585 Gigawatt, während nur 8,2 Gigawatt aus Atomkraft hinzukamen – ein klares Missverhältnis. Der Autor argumentiert, die IEA verschleiere den massiven Ausbau der Erneuerbaren, indem sie Atomenergie und erneuerbare Energien zusammen ausweise. Dabei sei längst ein Kipppunkt erreicht: 2024 entfielen bereits 92,5 Prozent des globalen Kapazitätszuwachses auf erneuerbare Quellen. Besonders stark sei der Zuwachs in China, während Länder des globalen Südens noch hinterherhinkten. Die Rede von einer "Atomrenaissance" erscheine als mediale Verzerrung. Vielmehr sei von einer historischen "Energierevolution" zu sprechen, die vor allem von Sonnen- und Windkraft angetrieben werde. Die exponentiell wachsenden Kapazitäten dieser Technologien seien beispiellos. Gefordert wird, dass diese Fakten stärker ins öffentliche Bewusstsein gelangen: "Es wird Zeit, dass diese Realität in die Köpfe einsickert – und in die Redaktionen." (Christian Stöcker, Spiegel)
Stöcker hat absolut Recht damit, auf den beispiellosen Anstieg der Erneuerbaren hinzuweisen. Zumindest als Machbarkeitsnarrativ ist das etwas, das dringend hervorgehoben werden sollte. Ich kann mangels Fachkenntnis nicht beurteilen, wie die Lage für den Strommix damit insgesamt ist. Aber es lohnt der Blick über den Tellerrand: ignorieren wir für einen Moment unsere eigenen fossilen Kraftwerke, sondern schauen auf die emerging countries wie das im Artikel genannte Pakistan: wenn noch eine Volkswirtschaft wie die chinesische ihren Aufstieg mit fossiler Energie unterfüttert, haben wir Schicht im Schacht. Ob Indien oder Pakistan, Nigeria oder Brasilien; wenn die Millionen Menschen dieses Erdballs, die sich ebenfalls sicher gerne westlichen Lebensstandards annähern wollen, das nicht mit erneuerbaren Energien tun, sind wir Toast. So oder so.
Resterampe
a) Solche Artikel lassen mich gegenüber Ralfs medienkritischen Thesen skeptisch (taz). Ich finde das viel bedeutender.
b) Noch mehr Free Speech! (Twitter)
c) New York hat gute Erfahrungen mit einem marktwirtschaftlichen Modell zur Verkehrskontrolle gemacht (NPER). Sollten deutsche Großstädte auch machen.
d) Der Ulfenbeinturm ist nur gemietet. (Twitter)
e) Dänemark führt Wehrpflicht für Frauen ein (T-Online).
f) Ich halte diese Argumentation bei den Grünen genauso für falsch wie bei jeder anderen demokratischen Partei. (Spiegel) Müntefering hatte Recht.
g) Why the COVID Reckoning Is So One-Sided (The Atlantic). Ähnlich hier in Deutschland, aber nicht ganz so krass.
i) Einfach nur wow. (Twitter)
j) Gute Frage (Bluesky)
k) CDU deckt Korruption. (FragdenStaat)
l) Interview mit Ricarda Lang (taz).
m) The Day James Bond Movies Died (Roger Ebert).
n) Trump Is Already Undermining the Next Election (The Atlantic).
o) Ein Kanzler muss nicht populär sein, er muss das Land in Ordnung bringen (Welt). Durchaus korrekt, nur kommen einem solche Gedanken natürlich vor allem dann, wenn der unpopuläre Kanzler aus dem eigenen Lager ist. :)
p) Migration: Warum Friedrich Merz bei der Einwanderung zu viel verspricht (Spiegel).
q) Zur Abschreckung hergezeigt und vorgeführt (beimwort).
r) Das. (Twitter)
s) Bürger*innenverarsche von der Union (Bluesky). Wie so vieles in dem Wahlkampf. Und alles folgenlos.
t) Über das wirtschaftliche Verhältnis von USA und China. (Chartbook)
u) Meine Güte, ist diese Art von Artikeln immer dumm. (Welt)
v) Radikalisierung bei der Polizei. (Twitter)
Fertiggestellt am 13.04.2025
Dir gefällt, was Stefan Sasse schreibt?
Dann unterstütze Stefan Sasse jetzt direkt: