Buchkritik: Peter Sloterdijk sinniert in seinem neuen Buch über das Schicksal Europas. Hat es noch eine Zukunft? Oder befinden wir uns bereits im Untergang des Abendlandes?

Es ist nicht ganz einfach über ein Buch von Peter Sloterdijk zu schreiben. Die Überfülle an Gedanken, die seine Bücher bieten, kann einen leicht überwältigen. Es ist denn auch kein Wunder, dass, wenn man Rezensionen seiner Bücher liest, man oft den Eindruck hat, die Rezensenten haben alle ein anderes Buch gelesen. Der Garten seiner Einfälle bietet so viele verschiedene verführerische Düfte, dass jeder an einer anderen Blüte hängen bleibt.

Mit dieser Fülle geht auch eine Multiperspektivität einher, die einerseits das Faszinosum seiner Bücher ausmacht, in denen man sich wie durch einen gefährlichen Irrgarten mit einer Mischung aus Angstlust und Neugierde bewegt. Doch macht es diese pulsierende Fluidität gleichzeitig auch schwierig, solide Abstraktionen aus seinen Büchern zu ziehen.

Nicht zuletzt offenbart auch die von Sloterdijk für sein neues Buch gewählte Metapher vom „Buch Europa“, in das man beständig neue „Lesezeichen“ einfügt, um sich an dieses und jenes zu erinnern oder um sich über dieses und jenes zu vergewissern, das permanent Provisorische, das der Modus von Sloterdijks Nachdenken ist.

So bin ich mir auch nach mehrfacher Lektüre nicht sicher zu wissen, was Sloterdijk wirklich über die Zukunft Europas denkt. Einerseits polemisiert er heftig gegen die Fraktion der „Deklinisten“ zwischen Oskar Spengler und den aktuell populären „Doom-Propheten“, die den Abstieg Europas für ausgemacht halten. Doch gleichzeitig diagnostiziert Sloterdijk auch selber, dass Europa nach 1945 in eine Identitätskrise fiel und die bisherigen politischen und wirtschaftlichen Konstruktionen auf europäischer Ebene höchst defizitär, und nicht dazu geeignet sind, ein gemeinsames identitäres Bewusstsein zu entwickeln.

Am Ende wirkt Sloterdijk am ehesten wie ein Beichtvater, oder dessen moderne Inkarnation, ein Psychotherapeut, der seine Notizen zum Patienten Europa wie eine Mischung aus Schuldbekenntnissen und Gewissenerforschungen einerseits, und Selbstbespiegelungen und Motivationsgesprächen andererseits, präsentiert.

Räume, Skalen und Perspektiven

Wovon Sloterdijk ein untrügliches Bewusstsein hat, ist, dass die Geschichte, zumal die eines so heterogenen Konglomerats wie es Europa ist, ein komplexes Gebilde ist, das, abhängig davon, von welcher Warte man darauf blickt, völlig unterschiedliche Einblicke und Eigenschaften offenbart.

So entwickelt Sloterdijk die These, dass das römische Reich eigentlich nie untergegangen sei sondern sich über die europäische Geschichte hinweg durch diverse Metamorphosen hindurch bis zum heutigen Amerika fortentwickelt habe. Das ist eine vollkommen legitime und nachvollziehbare Sichtweise. Doch gewiss gäbe es noch ein Duzend weitere, für die man nicht weniger gute Argumente aufbringen könnte.

Ob man Europa - mit Homer, Plato und Aristoteles, oder mit Lukrez, Vergil und Ovid - im antiken Kosmos beginnen lässt, oder - mit Jesus Christus, Paulus, Augustinus und Dante - im christlichen. Ob man es unter hegemonialen Kategorien betrachtet, mit Troja, Athen, Sparta, Makedonien, Rom und den sich dann über die ehemaligen römischen Provinzen Hispanien, Gallien, Britannien und Germanien unter christlichen Vorzeichen über den Kontinent ausbreitenden Königreichen, deren Konkurrenz die wechselvolle Geschichte Europas über das folgende Jahrtausend bestimmen würde.

Ob man die Entdeckung Amerikas 1492, die kopernikanische Wende des 16. Jahrhunderts oder die Renaissance als Erweckungserlebnis einer gleichermaßen geographischen, kosmologischen und kulturellen neuen europäischen Selbstverortung betrachtet, oder das abendländische Europa als Serie von Revolutionen liest, wie Eugen Rosenstock-Huessy, dem Sloterdijk größere Aufmerksamkeit widmet, in „Out of Revolution“.

Ob man in explorativen Skalierungen denkt, in denen sich zunächst Hellas die Peripherien des Mittelmeers, dann Rom die Peripherien des angrenzenden Festlands, und schließlich Europa nach 1492 die Peripherien der gesamten Erde kolonialistisch zu eigen machte, in exploitativen Skalierungen, in denen die natürlichen Schätze über und unter der Erde systematisch gehoben wurden, oder in experimentellen Skalierungen von technischem Fortschritt, der ungeahnte neue Möglichkeiten der Lebensverlängerung, der Gewinnmaximierung sowie der Zerstörung möglich machte.

Oder ob man sich jener Weltbegriffe bedient, die Europas Verhältnis zum Außen definierten. Dem Gegensatz von Orient und Okzident bzw. Morgenland und Abendland, der von den Perserkriegen über Byzanz und dem ottomanischen Reich bis zum ersten Weltkrieg die primäre Schwelle zum kulturell Anderen war. Oder dem Gegensatz von „Alter Welt“ und „Neuer Welt“, der, den sich nach 1492 allmählich entwickelnden und im Aufstieg der USA kulminierenden, atlantischen Kontext bestimmte. Oder jenen aktuell sich abzeichnenden Gegensatz des „Westens“ und dem „globalen Süden“, der mit dem Wiederaufstieg Chinas und Indiens verknüpft ist, und erstmals einen tatsächlich globalen Antagonismus bildet.

In vielen Fällen offenbarte sich das „Neue“, wie Sloterdijk es ausdrückt, als „Reinszenierung“ des „Alten“. Im gesamten Kosmos Europas und dessen amerikanischen Ausgründungen lassen sich daher Spurenelemente der knapp 3000-jährigen Geschichte nachvollziehen. Die Pointe im Titel vom „Kontinent ohne Eigenschaften“ zielt nicht zuletzt darauf ab, dass diese Überfülle an verschiedensten Erinnerungen die Ursache dafür ist, dass es so schwer geworden ist, eine neue Identität zu synthetisieren.

Zeitalter und Biographien

Anhand von Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“ und Eugen Rosenstock-Huessys „Out of Revolution“ geht Sloterdijk auch der Frage nach, ob es eine „Biographie“ Europas gibt. Beide Schriftsteller waren fest davon überzeugt, dass Zeitalter einen Lebenszyklus durchlaufen, der dem eines Menschen ähnelt. In Teilen konvergieren denn auch ihre Vorstellungen, wobei, wie Sloterdijk durchaus zutreffend anmerkt, diese Vorstellungen auch immer stark von den eigenen biographischen Erfahrungen gefärbt sind. Rosenstocks Utopismus entsprang der schockierenden eigenen Kriegserfahrung im ersten Weltkrieg wie umgekehrt Spenglers Fatalismus in der eigenen dissoziativen Existenz wurzelte.

Während Rosenstock sein Augenmerk vor allem auf die Revolutionen der abendländischen Geschichte lenkt, beschreibt Spengler noch allgemeinere Morphologien, die in unterschiedlicher Akzentuierung alle Kulturzyklen der bekannten Historie bestimmten, so auch den antiken und abendländischen des europäischen Kontinents. Und auch wenn beide Bücher in vielen sachlichen Details und idiosynkratrischen Sichtweißen durchaus angreifbar sein mögen, kommt man nicht umhin ihre grundsätzlichen Beobachtungen für weitgehend zutreffend zu halten.

So lässt sich nicht leugnen, dass sowohl die griechische, die römische als auch die europäisch abendländische Kultur jenen Zyklus der Staatsformen von der Monarchie bis hin zur Demokratie/Republik durchlaufen haben (die am Ende in die Diktatur umkippt), wie ihn schon antike Gelehrte beschrieben haben. Revolutionen sind jene Momente, in denen sich diese Umbrüche, mehr oder weniger schockhaft und gewaltsam, vollziehen.

Rosenstock benennt als solche Ereignisse neben den so genannten zwei Revolutionen (der französischen und russischen) den Investiturstreit des 11. Jahrhunderts, die Reformation des 16. Jahrhunderts und die englische „glorious revolution“ am Ende des 17. Jahrhunderts. In der Tat lässt sich an dieser Serie eben jene Entwicklung ablesen, wie der ursprüngliche monarchische Absolutheitsanspruch allmählich in immer breitere Gruppen der Machtteilhabe übergeht.

Und Peter Sloterdijk macht eine durchaus treffende Beobachtung, wenn er die aktuellen populistischen Bewegungen als eine Revolution der Bewohner der ländlichen Gegenden gegen die Bewohner der Städte bezeichnet. Dass diese Entwicklung bald in jener unvermeidlichen Diktatur (was Spengler „Cäsarismus“ nennt) enden wird, will Sloterdijk dagegen nicht recht wahrhaben. Dabei scheint offensichtlich, dass eben jener Mechanismus der immer weiter verbreiterten Machtteilhabe damit an sein Ende gekommen ist, weil es keine größeren Gruppen mehr gibt, in die der gesellschaftliche Druck eskaliert werden könnte. Und dass es, wo diese Möglichkeit fehlt, zu jenen sozialen Vergiftungen innerhalb des Systems kommt, die man überall beobachten kann und zunehmend Kompromisse unmöglich machen. Es liegt am Ende in der systemischen Logik, dass es dann wieder den einen geben muss, der sagt wo es lang geht, was eben der „dictator“ ist.

Häufig waren diese Revolutionen auch mit großen Kriegen verknüpft, doch weniger weil diese unmittelbar daraus hervorgingen, sondern eher weil sich durch die Instabilitäten und die lenkbaren ideologischen Energien Opportunitäten für skrupellose Akteure boten, das aktuelle Machtgefüge aufzubrechen. So gab es denn auch immer wieder merkwürdige Paradoxien, etwa dass im 30jährigen Krieg das katholische Frankreich als Protagonist der reformatorischen Seite als Sieger hervorging, oder Napoleon sich nach der bürgerlichen Revolution zum neuen Kaiser krönte.

Auch der von Spengler beschriebene Lebenszyklus, dass Zeitalter mit einem stark religiös oder spirituell geprägten Weltverständnis beginnen und dann einen Prozess der Säkularisierung durchlaufen und in ein völlig materiell geprägtes Endstadium münden, lässt sich in Bezug auf die abendländische Geschichte Europas kaum leugnen. Ebenso wie die Beobachtung, dass es eine bestimmte Phase des Zyklus gibt, in der Kunst und Kultur blühen. Stephen Greenblatt hatte vor einigen Jahren in „The Swerve“ sehr anschaulich beschrieben, wie sich Kunst und Bildung mit ihren Institutionen in der römischen Kaiserzeit allmählich ins Nichts auflösten, um dann im Zyklus der Neuzeit 1000 Jahre später wieder aufzuerstehen.

Wenn es jedoch darum ging aus der Vergangenheit konkrete Zukunftsprognosen abzuleiten, erwiesen sich die Voraussagen von Spengler und Rosenstock meist als grotesk verfehlt. Immer wieder macht man diese Erfahrung, dass es selbst hellsichtigen Diagnostikern schwer fällt, sich eine Zukunft jenseits der eigenen Erfahrungswelt vorzustellen. Dass die neue amerikanische Welt sich ganz bewusst von europäischen Paradigmen abwenden würde, lag jenseits ihrer Vorstellungskraft. Wie wohl auch viele aktuelle Prognostiker, Peter Sloterdijk nicht ausgenommen, vor allem den status quo extrapolieren, und sich nicht recht vorstellen können, wie eine neue, möglicherweise chinesisch geprägte Welt wohl aussehen könnte.

Einen der zahlreichen kolossalen Irrtümer von Rosenstock möchte man allerdings jenen Politikern ins Stammbuch schreiben, die einen Weltkrieg im Atomwaffenzeitalter für unwahrscheinlich halten. So stellte er vor dem 2. Weltkrieg fest: „ein neuer großer Krieg sei durchaus unmöglich, da die modernen Waffen ihn zur Absurdität verurteilten.“ Bekanntlich ist diese Absurdität dann trotzdem eingetroffen.

Asymmetrien der Geschichte

Sloterdijks Skepsis gegenüber der Zyklizität von Geschichte hat trotz allem durchaus einen triftigen Kern. Denn neben all den zyklischen politischen und kulturellen Entwicklungen vollziehen sich vor allem auf technischem und wissenschaftlichem Gebiet Veränderungen, die am Ende oft disruptive oder katalytische Effekte haben, die jene zyklischen Entwicklungen überlagern oder sogar konterkarieren. Welche Auswirkungen etwa das Internet oder die neuen Mittel von künstlicher Intelligenz auf die Geschichte der Menschheit haben und haben werden, lässt sich wahrscheinlich noch gar nicht richtig abschätzen.

Auch Individuen können diese Wirkung haben, da gewisse Begabungen zur rechten Zeit und am rechten Ort diese durch selbstverstärkende Rückkoppelungseffekte zu mächtigen Akteuren machen können, die den Verlauf der Geschichte weltbewegend beeinflussen (wofür Shakespeare in „Coriolanus“ die Metapher des „dragon“ verwendet, die auch in modernen populären Tropen immer wieder auftaucht). Man kann nur darüber spekulieren, in welcher Welt wir heute leben würden, hätte es Jesus Christus oder Plato, Napoleon oder Hitler, Marx oder Einstein, Dante oder Goethe nicht gegeben.

Diese Komplexität von zahlreichen Faktoren ist auch dafür verantwortlich, dass Vorhersagen über die Zukunft sich fast immer als falsch erweisen, da man jenen einen Faktor, der die Vorhersagen verdirbt, nicht hat kommen sehen. Und so kann denn auch niemand mit Sicherheit sagen, ob das Trio von Donald Trump, J.D. Vance und Elon Musk bereits jene Wiedergänger von Julius Caesar, Octavian und Markus Antonius sind, die das demokratische System schleifen werden, oder ob die Demokratie noch ein paar Generationen überdauern wird.

Russland

Angesichts der aktuellen Lage kommt Sloterdijk auch immer wieder kursorisch auf Russland zu sprechen. Dabei ist ihm die spezielle Rolle Russlands an der offenen östlichen europäischen Flanke und als Mittelmacht zwischen der europäischen, asiatischen und arabischen Sphäre, das historisch immer wieder zwischen pro- und anti-westlichen Sentiments schwankte, durchaus bewusst. Und es ist auch nicht zu leugnen, dass sich angesichts der enormen Größe des Landes, dessen Grenzen unmöglich effektiv zu verteidigen sind, historisch ein imperialer Reflex nach einer Pufferung durch Einflusszonen im nationalen Bewusstsein manifestiert hat.

Doch während Sloterdijk in Bezug auf die schwer belastete kolonialistische Vergangenheit Europas oft erstaunlich priesterlich verständnisvoll bleibt, fällt es ihm schwer einen objektiven Blick auf Russland zu wahren. Dass Russland nach den Erfahrungen mit Napoleon und Hitler, die nach dem Frieden von Tilsit und dem Hitler-Stalin-Pakt Russland mit Krieg überzogen hatten, allergisch darauf reagieren könnte, dass die Nato ihre Truppen gerne in Kiew, Odessa und Sewastopol stationieren möchte, scheint jenseits seines therapeutischen Verständnisses.

Die Geschichte wird zeigen, ob Russland als „Vasall Chinas“ nicht endlich mal auf das richtige Pferd gesetzt hat. Denn mit derselben Polemik könnt man auch feststellen, dass das günstige Schicksal Westeuropas nach 1945 vor allem der Tatsache geschuldet war, dass man als „Vasall der USA“ ein wertvolles geopolitisches „Asset“ im kalten Krieg gewesen war. Jetzt, da sich nach 2017 die geopolitischen Parameter geändert haben, müssen die Europäer denn auch erfahren, dass die Töne aus den USA immer rauer werden.

Kolonialismus und Macht

Sloterdijk ist zu hellsichtig, um sich nicht darüber im Klaren zu sein, dass Macht die ultimative Währung ist. Dass der Bedeutungsverlust Europas nach 1945 eben auch darin gründet, dass es als „Club gedemütigter Imperien“ die hegemoniale Rolle, die es gut 500 Jahre innehatte, verloren hat. Und wenn er immer wieder auf die kolonialistische Vergangenheit Europas zu sprechen kommt, spürt man viel von jenem monumentalen Zwiespalt zwischen den ehernen Gesetzen der Macht und dem idealistischen Geist der Aufklärung.

Wenn auch mit therapeutischer Vorsicht macht Sloterdijk durchaus deutlich, dass die Blüte Europas ohne die aus der kolonialistischen Beute kumulierte ökonomische Macht nicht möglich gewesen wäre und alle Verbrämungen der Kolonialisierung als Missionierung oder Zivilisierung immer verlogen waren. Das „spinning“ von Meinungen zur Legitimierung der eigenen Machtambitionen setzte schon immer ungeheure Kreativität frei. Auch Goethe, dessen Faust II Sloterdijk wiederholt zitiert, hatte bereits ein volles Bewusstsein über die Grenzen des Idealismus. Sein „Hat man Gewalt, so hat man Recht“ bleibt die erste Prämisse aller Machtpolitik.

Deswegen ist Sloterdijk auch durchaus skeptisch gegenüber der Selbstgeiselungs-Kultur des „Postkolonialismus“, in der er eher eine, die Schuld subjektivierende, Perpetuierung der kolonialistischen Deutungshoheit sieht, die denn auch von den ehemals Kolonisierten nicht immer goutiert wird. Gleichzeitig sieht Sloterdijk diese Selbstbekenntniskultur auch im christlich abendländischen Kontext verwurzelt, die in mehr und mehr säkularisierten Formen von Augustinus über Petrarca, Rousseau und Nietzsche bis zu Freud, Sartre und Knausgard reicht. Tatsächlich kann man auch an der Geschichte Europas jene ungesunde Bipolarität ablesen, die immer wieder zwischen idealistisch bekenntnishaften Phasen (die Reformation, die Aufklärung oder die Weimarer Republik) und barbarischen Exzessen (die darauf folgten) schwankte.

Durchaus interessant sind auch Sloterdijks Ausführungen zu den Kannibalismus-Mythen der kolonialisierten Gegenden (die in Polyphem bereits in der Geschichte von Odysseus, dem antiken Columbus, auftauchen). Wobei er diese er eher positiv deutet, nämlich als Internalisierung bzw. Verdauung der kolonialistischen Kultur, wobei das nützliche und nahrhafte daran aufgenommen wird. Doch gibt es sicher auch eine negative Deutung, als animalischer Reflex des Auffressens jenes Angreifers, der einen selbst wie ein Tier behandelt. Auch bei den aktuellen Zombie-Filmen, Serien und Spielen meint man in den wandelnden Horden jenen „white trash“, „human garbage“ oder jene „deplorables“ wiederzuerkennen, vor deren von Demütigungen genährten gargantuesken Fressgier sich die progressive Elite in seinen Alpträumen fürchtet.

Europas Zukunft

Schon Oswald Spengler wies darauf hin, dass der „Untergang“, von dem er sprach, kein kataklystisches Ereignis sei, sondern vielmehr ein Verdämmern, das sich über Jahrhunderte hinzieht. Auch die antike Welt ging im römischen Imperium der ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung sehr allmählich unter, und Rom mit seinen Provinzen (worin man die heutige USA mit seinen Verbündeten sehen kann) blieb über die längste Zeit dieses Untergangs durchaus wohlhabend und mächtig. Wenn man über die Zukunft Europas spricht, muss man daher auch in verschiedenen Zeithorizonten und Kategorien denken.

Was die aktuellen hegemonialen Fragen betrifft, so ist Europas Einfluss angesichts der globalen Entwicklungen, allem voran den wirtschaftlichen Aufstieg Chinas und Indiens, im letzten Jahrzehnt weiter gesunken. Dass es in absehbarer Zeit wieder auf die große Weltbühne zurückkehrt, scheint angesichts der wirtschaftlichen Indikatoren eher unwahrscheinlich. Doch selbst wenn es im Weltkonzert nur noch eine Nebenrolle spielt, muss das keineswegs den Niedergang bedeuten. Wenn es sich pragmatisch und strategisch klug verhält wird es seinen Wohlstand durchaus halten können.

Die geopolitische Zukunft wird sich im aktuellen hegemonialen Konflikt der „Thukydides-Falle“ zwischen den USA und China entscheiden, worauf Europa nur begrenzten Einfluss haben wird. Das günstigste Szenario ist ein erneuter kalter Krieg, denn ein dritter Weltkrieg wäre eine Katastrophe für die gesamte Menschheit. Europa wird im Zuge dessen auch zwangsläufig weiter zusammenwachsen, weniger, weil kluge Köpfe das fordern, sondern weil uns der Leidensdruck der Ohnmacht irgendwann dazu zwingen wird.

Was Kunst und Kultur angeht, so sind diese immer zuallererst Selbstvergewisserungen und Reflektionen der Macht. So kann man sich nicht darüber hinwegtäuschen, dass die europäische Kultur, die noch die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts maßgeblich bestimmt hatte, bereits nach 1945 sukzessive an Strahlkraft und Einfluss verloren hat und in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts allenfalls in Transformationen und Bastardisierungen der amerikanischen Populärkultur weiterlebte.

Exemplarisch kann man das vielleicht an einigen englischen Schauspielern der älteren Generation ablesen, die noch mit den Ambitionen eines großen Shakespeare-Darstellers begonnen hatten, doch zuletzt als Protagonisten von Kino Blockbustern und Fernsehserien in die Geschichte eingingen. Mit dem zunehmenden Machtverlust wird auch die europäische Kultur international weiter an Bedeutung verlieren. Doch auch in diesem Fall bedeutet das nicht, dass es nicht auch weiterhin kluge Bücher, aufregende Theaterstücke und interessante Musik geben wird. Es wird nur alles noch etwas lokaler und elitärer werden.

Dass Sloterdijk als einer der prominenten „public intellectuals“ der letzten Jahrzehnte die Fahne der Demokratie hochhält, ist verständlich. Doch würde ich vermuten, dass auch er insgeheim die Zeichen an der Wand sieht. Spätestens seit die etablierten Eliten mit ihren „Brandmauer“-Slogans selbst die Bürgerkriegs-Rhetorik in die Debatten eingeführt haben, scheint es immer unvermeidlicher, dass die entropischen Gesetze der Geschichte ihren Lauf nehmen werden, wobei die USA als führende Macht des „Westens“ den Weg weisen wird.

Wenn man schließlich auf die großen Skalen der Zeitalter blickt, so gibt es kaum Anzeichen, dass sich Oswald Spengler mit dem Untergang des euro-amerikanischen Abendlandes getäuscht haben könnte. Die Geschichte der amerikanischen Politik seit 1945 ist die einer sukzessiven Entfesselung des Kapitalismus, die mit ein wenig Verzögerungen dann auch in die europäischen Provinzen übergeschwappt ist, und die mit der neuen Regierung wohl noch weiter an Fahrt aufnehmen wird. Der damit verbundene exzessive Materialismus ist das Dekadenzphänomen, das auch Spengler als charakteristisch für die Endphase eines Zeitalters beschreibt.

Es ist durchaus merkwürdig, dass bereits in den ältesten Zeugnissen unserer Kultur, der Bibel und Homers Epen, ganz ähnliche Merkmale beim Untergang Babylons und Trojas beschrieben werden. So stehen mit Apoll und Aphrodite in der „Ilias“ eben jene zwei Götter auf Seiten der Trojaner, die für Rationalität und Liberalität stehen. Der in der Bibel geschilderte Turmbau zu Babel adressiert wiederum die Phänomene des Narzissmus und der Individualisierung einer dekadenten Endphase. Die größenwahnsinnige Selbstermächtigung des späten Menschen, der aus eigener Kraft mit dem Turm in den Himmel das Göttliche erreichen will, sowie die Selbstlähmung im Phänomen der sich im unbegrenzten Raum des Liberalismus in tausend partikulare Sprachen auflösenden Kultur.

Es ist kaum zu übersehen, dass selbst die christlichen Kirchen unserer Tage völlig materialisiert und utilitarisiert sind. Die Sonntagspredigten sind kaum mehr von den Ratgeberkolumnen der Zeitungen und Zeitschriften zu unterscheiden, mit Gott als Wunscherfüllungsmaschine, die wie in einem Versicherungs-Werbespot verspricht, dass alles gut werden wird. Die Kirchen werden wie Dienstleister-Firmen behandelt, deren unfähiger CEO sein übergriffiges Personal nicht im Griff hat, oder denen Atheisten wie Richard Dawkins das „funding“ entziehen wollen, weil Gott keine belastbaren Nachweise für seine Existenz und seine „miracle capacity“ liefern kann.

Was unsere Epoche im Triumph des Rationalismus nicht wahrhaben will, ist, dass auch das rationale Prinzip des Tageslichts in einem dialektischen Verhältnis zu einem vegetativen nächtlichen Prinzip steht, das sich in Mythen, Religionen und Träumen manifestiert. Der Zyklus der Zeitalter ist wenn man so will der Tag-und-Nacht Zyklus zwischen diesen beiden Polen. Und der Übergang vollzieht sich ähnlich unbewusst wie der des Menschen in den Schlaf. Das europäische Mittelalter war die Schlafepoche vor dem Wiedererwachen in der Epoche der Renaissance.

Die Geschichte ist das dialektische Spiel von Kräften und immer wieder macht man diese Beobachtung, dass was der eigenen Generation, der eigenen Epoche und dem eigenen Zeitalter wichtig und heilig war, von der folgenden wieder verworfen wird. Das kosmologische Prinzip des Göttlichen ist das der Synthetisierung. Deswegen wird es auch zurückkehren, da durch fortschreitende Materialisierung, Individualisierung und Liberalisierung irgendwann die Sehnsucht nach der Geborgenheit im gemeinsamen Einen wieder übermächtig werden wird.

Peter Sloterdijk hat in einem aktuellen Interview Europa als Dornröschen bezeichnet, das wachgeküsst werden müsse. So sympathisch dieser Optimismus und diese Hoffnung auf einen weiteren späten Frühling Europas ist, so vergeblich erscheint sie, wie bei Thomas Manns „Die Betrogene“. Das Dornröschen Europa hat sich noch nicht mal schlafen gelegt.