Schock! Horror! Awe! Harald Martenstein kolumniert nicht mehr für den 'Tagesspiegel'. Das ist mir erstens weitgehend egal, da sein frischgebackener Ex-Brötchengeber die Früchte seines Kolumnierens immer hinter die Paywall gepackt hat, und zweitens wenig überraschend. Martenstein war mal einer von denen, die um die Jahrtausendwende herum den einen oder anderen erfrischenden Einfall hatten. Junge Wilde und so.
Während sein Epigone Matthias Matussek, einst eloquenter Golden Boy des 'Spiegel' (seine Polemik über die Lewinsky-Affäre bleibt legendär!), inzwischen ganz offen im rechten Lager kuschelt, schien Martenstein seine immergleiche Masche noch mindestens ein Jahrzehnt lang weiterzukurbeln: Die ad nauseam variierte Klage, dass man ja nichts mehr sagen dürfe heutzutage, um dann exakt das, was man angeblich absolut nicht mehr sagen darf, endlos breit zu walzen und sich dann mit Dackelblick in die gratismutige Pose des unerschrockenen Helden zu werfen, der sich nicht vorschreiben lässt, was er gefälligst zu schreiben hat.
Martenstein profitierte dabei von dem verbreiteten Missverständnis, Meinungsfreiheit und -vielfalt enthielten den Imperativ, absolut jeden Quark auch abzudrucken. Und er surfte auf einer maßgeblich von Günter Grass und Thilo Sarrazin begründeten Modewelle, bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit davon zu schwafeln, hier solle jemand "mundtot" und "zur Unperson" gemacht werden, ohne dafür schallend ausgelacht zu werden, "diese Mischung aus aggressivem Leugnen, Selbstmitleid und Selbstgerechtigkeit." (Droste)
Als er sich nunmehr krampfhaft anti-mainstream dazu verstieg, die dreiste Geschmacklosigkeit von Querlatschern, sich Judensterne aufzupappen, schon irgendwie schräg, ja, aber doch auch ganz okay zu finden und keinesfalls antisemitisch, war das dem 'Tagesspiegel' wohl ein Mal "Ich fühle mich ein Stück weit wie Sophie Scholl" zu viel und seine Kolumne wurde aus der Online-Ausgabe gelöscht. Woraufhin Martenstein geräuschvoll den Dienst quittierte. Er bleibe bei seiner Meinung, gab er zum Abschied kund. Die feine Linie zwischen Prinzipientreue und Starrsinn ist eben nicht immer sichtbar.
"Es waren die Nazis, die Juden dazu zwangen, den gelben Stern zu tragen, und nicht die Juden, die sich aus Protest gegen die Politik der Nazis den Aufnäher zulegten, damit beginnt bereits die verquere Logik der Querdenker, die auch ein Kolumnist wie Martenstein erkennen müsste." (Ralf Balke)
Sehr schön studieren lässt sich daran jedenfalls, dass keineswegs nur wokes Jungvolk sich auf bloßes Beleidigtsein zurückzieht, wenn es mal Gegenwind gibt. "Andropausenclowns", deren "stets halbvolle Blase [...] permanent aufs Zornzentrum des Gehirns [drückt]" (Hannemann), stehen ihnen da offenbar nur wenig nach. Nichts darf man mehr, Menno! Voll moppelkotze! Wirklich tragisch daran ist, dass jene Coolness und Lässigkeit, die alterndes, zu Wutbürgern mutierendes Mannsvolk gern für sich in Anspruch nimmt, auf der Strecke bleiben.
Vom Winston Churchill ist unter anderem folgende Anekdote überliefert (wenn’s nicht stimmt, dann ist es gut erfunden): Auf einer Dinnerparty war er mit einer anwesenden Dame in Streit geraten. Da Churchill dafür bekannt war, seinen Standpunkt zäh zu verteidigen, meinte die Frau irgendwann entnervt: "Wenn wir verheiratet wären, hätte ich ihnen längst Gift in den Kaffee getan!" Darauf Churchill: "Wenn ich Ihr Mann wäre, hätte ich ihn getrunken." Zack, so geht das!
Zu den ärgsten Ängsten alternder Kolumnenplatzhirsche gehört es, dass ohne ihre regelmäßigen, als 'mutig' imaginierten Beiträge Abendland, Meinungs- und Pressefreiheit bald schon perdü seien. Im Falle Martensteins ist das unbegründet. Er wird - niemals geht man so ganz - als Kolumnist der 'ZEIT' dem Hause Holtzbrink erhalten bleiben. Nicht einmal das Gejammer vom 'canceln' will hier also recht verfangen. Sollte ihm die ZEIT-Kolumne die Rente nicht gebührend versüßen -- die Herren Poschardt und/oder Tichy werden sicher ein entsprechendes Angebot machen.
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