Warum, fragen sich Leute oft, macht die Politik nicht etwas, von dem alle Fachleute sagen, dass es absolut angebracht wäre? Warum, fragen sich Leute oft, macht die Politik etwas, von dem alle Fachleute sagen, dass es eine echt dumme Idee ist? Beides kommt oft genug vor. Natürlich spielt dabei auch immer die politische Gesäßgeografie eine Rolle. So wundern sich Liberalkonservative, wie die Politik so beharrlich die Rentenfinanzierung ignorieren und durch ständig neue Maßnahmen als Problem perpetuieren kann, während sich Klimabesorgte fragen, wie die Politik weiter so sehr auf den verbrennergestützten Individualverkehr bauen kann oder Personen mit einem starken Interesse an Sicherheitspolitik üblicherweise angesichts der deutschen Mentalität zum Aufbau militärischer Fähigkeiten nur den Kopf schütteln können, um einige Beispiele zu nennen. Häufig darf man dann in Analysen lesen, dass es völlig unklar sei, warum die Politik so entscheide, wie sie entscheidet. Dabei begehen diese Analysen den Kardinalsfehler, die Politik aus ihrer Betrachtung auszuklammern.
Was meine ich damit? Oft genug wird völlig vergessen, dass neben der Sachebene auch eine politische Ebene existiert. Es ist ziemlich irrelevant, welche Sachargumente für oder wider eine Maßnahme stehen, wenn die politischen Mehrheiten anders ticken. Besonders in einer Demokratie muss die Politik zwangsläufig auf diese reagieren. Man sollte übrigens nicht den Fehler machen, anzunehmen, das sei in autokratischen Regimen anders. Die können es sich nur in mehr Fällen leisten, den Mehrheitswillen zu ignorieren, aber auf Kerngebieten werden sie ebenfalls nichts tun, was für Aufruhr sorgt. Selbst die Nazis ließen sich von Maßnahmen abbringen, wenn sie Gegenwind aus dem Volk erhielten; man denke nur an die Aktion T4. Nein, die Legitimität jedes Staatswesens hängt entscheidend davon ab, dass der Mehrheitswille seine Berücksichtigung findet, the experts be damned. Das gilt für eine härtere Gangart in der Migration ebenso wie für staatliche Sozial- und Subventionsprogramme für die Mittelschicht.
Konkret lässt sich das gut an einem Artikel von Patrick Bernau in der FAZ aufzeigen, der fassungslos über den Mietendeckel ist. Unter der Überschrift "Geliebter Mietendeckel" kommt er zu folgenden Punkten:
Die Debatte um die Mietpreisbremse spiegelt eine Kluft zwischen Experten und der Bevölkerung wider. Während Ökonomen wie der Sachverständigenrat die Mietpreisbremse ablehnen und vor negativen Folgen wie Wohnungsmangel und Fehlallokationen warnen, bleibt die Unterstützung in der Bevölkerung groß. Laut einer aktuellen Untersuchung sind für die Befürworter vor allem zwei Aspekte entscheidend: Die Sicherung bezahlbaren Wohnraums für Alteingesessene und die Wahrnehmung von sozialen Gerechtigkeitsaspekten. Dagegen überzeugt der Hinweis auf reduzierte Investitionsbereitschaft und Wohnungsneubau vor allem Gegner der Mietkontrollen. Diese Polarisierung zeigt laut den Forschern, dass reine Faktenvermittlung wenig Einfluss auf Meinungen hat. Vielmehr seien grundlegende Wertvorstellungen ausschlaggebend. Bürger priorisieren oft den Erhalt günstiger Mieten über Effizienzüberlegungen, was sich auch durch Informationskampagnen kaum ändern lässt. Die Studie deutet darauf hin, dass politische Kommunikation und Wissenschaft stärker die Wertmaßstäbe der Bevölkerung berücksichtigen sollten, um wirksam zu sein.
Mir ist komplett unklar, wie Bernau so überrascht sein kann. Natürlich fällt die Bewertung von Maßnahmen wie dem Mietendeckel und der politischen Realität auseinander. Die Höhe der Wohnkosten wird als ein Problem betrachtet, und zwar als ein drängendes. Große Teile der Bevölkerung zeigen sich konsistent besorgt darüber, und wenn Menschen sich konsistent besorgt über ein Problem zeigen, erfordert dieses Lösungen, egal, wie ungeeignet diese sind (siehe auch: Abschiebungen, die). Die Wohnkosten aber sind ein Feld, das sich umsetzbaren Lösungen entzieht. Staatliche Bautätigkeit für Sozialwohnungen hilft zwar den unteren Schichten der Gesellschaft, aber Hilfen für die Schwächsten sind politisch notorisch unpopulär. Deregulierung und steuerliche Anreize mögen zwar den Trend leicht modifizieren, tun dies aber nur langfristig. Die grundsätzlich wohl hilfreichste Maßnahme - Förderung von verdichtetem Wohnraum, sprich Mehrfamilienhäuser - ist politisch ebenso unpopulär; niemand will in Mietskasernen wohnen, obgleich das von verschiedenen Gesichtspunkten (auch der Klimaeffizienz her) wesentlich sinnvoller wäre. Ich sage das, während ich auf der zu meinem Einfamilienhaus gehörigen Terrasse sitze.
Und hier kommt ein weiterer Aspekt ins Spiel, den diese Analysen beharrlich ausblenden. Politik muss die Bedürfnisse der Mehrheit nicht nur adressieren, sie muss auch Handlungsfähigkeit beweisen. Es ist eine meiner aktuellen Arbeitshypothesen, dass die ständige Betonung der Handlungsunfähigkeit des Staates in den letzten anderthalb Jahrzehnten maßgeblich zum Legitimationsverlust desselben Staates beigetragen hat. Von der Alternativlosigkeit der Euro-Rettungspolitik zum Unwillen, die Verursacher der Finanzkrise zur Verantwortung zu ziehen über die Aufgabe staatlicher Absicherungsmaßnahmen bei der Migration hin zu ausbleibenden Klimaschutzmaßnahmen, an allen Ecken und Enden war die Botschaft stets die Gleiche: es ist unmöglich, etwas zu tun. There is no alternative. Gleichzeitig entwickelte der Staat aber eine frenetische Handlungstätigkeit, die sich in einem Kleinklein von Maßnahmen und Ausgaben erschöpfte, die einerseits zur Befriedung dienen sollten (man denke nur an die Mütterrente oder die Anpassung des Rentenniveaus; auffällig, dass diese Dinge immer die Rente betreffen) und andererseits mit geradezu lächerlich kleinen Anwendungsgebieten die großen Probleme betrafen (worüber ich als Sandwichproblem der Politik geschrieben habe), was wir etwa im Heizungsgesetz problemlos sehen konnten, das einen winzigen Beitrag zur Bekämpfung der Klimakrise vorsah und gleichzeitig betrachtet wurde, als ob riesige Verwerfungen in der Republik entstehen würden.
Ein weiteres Feld, dem dadurch eine große Prominenz zukommt, ist die Symbolpolitik. Ich meine das gar nicht despektierlich. "Symbolpolitik" als Schimpfwort zu benutzen ist ein weiteres Grundproblem unseres demokratischen Diskurses, denn Symbole sind wichtig. Die Vorstellung, in der Politik ohne Symbole auszukommen, ist apolitisch. Symbole machen Politik überhaupt erst begreifbar, bieten Fahnen, um die man sich sammeln oder die man attackieren und niederreißen kann. Sie sind für die Kommunikation zwischen Politik und Volk von entscheidender Bedeutung. Das verstehen übrigens genau diejenigen, die am lautstärksten gegen "Symbolpolitik" wettern, am besten. Man sehe sich mal an, was Markus Söder und seine CSU in Bayern veranstalten. Ich wage die Behauptung, dass die konsequente und permanente Nutzung von Symbolpolitik ein entscheidender Punkt in ihrem Dauerwahlerfolg ist - neben einem wohlverstandenen Klientelismus.
Und das ist ein weiterer Punkt, den die heutige Politik in ihrem Bestreben nach sachrichtigen, objektiven Lösungen mit Expertise unterfütterten und empirisch untermauerten Maßnahmen vergessen zu haben scheint: das Schmiermittel jeglichen politischen Systems ist Klientelismus. Der Klientelismus eines demokratischen Staatswesens unterscheidet sich von dem eines autokratischen vor allem in der Breite und der Transparenz, aber nicht in seinem Vorhandensein. Frühere Generationen der Politik haben das noch verstanden. Man denke nur an die kommunalpolitischen Einweihungen von neuen Schwimmbädern, Bibliotheken, Parks und anderen Einrichtungen, die konkrete Verbesserungen für die Bürger*innen bedeuteten. Wenn ich heute die Frage stelle, was die SPD konkret für mich getan hat, kann ich leider keine angepasste Version des Monty-Python-Sketches anbieten, sondern bleibe ratlos. Aber genau das ist auch wichtig für konkrete Bindung von Wählenden und Partei. Der Rückgang des Klientelismus unter dem Banner der Transparenz und Korruptionsbekämpfung, mit dem Projekt einer Rationalisierung von Politik, korreliert auffällig mit dem Niedergang der Volksparteien und mit der rapide schwindenden Parteiloyalität der Bevölkerung, der Auflösung von Stammwählendenmilieus. Es wird immer rarer, dass ein Abgeordneter eben mal einen Anruf tätigt und Hindernisse für den örtlichen Verein beseitigt oder für jemanden beim Amt etwas erwirkt. Das macht das System rechtsstaatlicher, transparenter und fairer, führt aber andererseits zum Eindruck der Handlungsunfähigkeit und in den Fällen, in denen das eben doch passiert - man denke etwa an den großen Lobbyismus - zu einem Grundmisstrauen. Wenn ich ständig gesagt bekomme, dass für mich, leider, leider, die Finanzlage, die Gesetze, Sie verstehen, nichts getan werden kann, aber dafür dann bei der nächsten Bankenrettung plötzlich alles geht, dann kann man da noch so viele sachlich richtige Argumente bringen, das wird nichts nützen.
Und damit kommen wir zurück zum Mietendeckel. Denn was der Mietendeckel kann - und was die ganzen Fachmeinungen, die Patrick Bernau so entrüstet wie verwirrt ins Feld führt, ignorieren - ist, dass ein Mietendeckel Handlungsfähigkeit beweist. Er ist eine politische Symbolhandlung, gepaart mit einer konkret wahrnehmbaren und vor allem verständlichen Konsequenz. Wenn ein Mietendeckel verabschiedet wird, steigt meine Miete nicht über den Mietendeckel. Das ist konkret und verständlich. Dass das langfristig ausbleibende Investitionen in die Bausubstanz bedeutet, dass Vermietende vermutlich andere Wege finden werden, die Miete über Umwege zu erhöhen, dass dies ein Hemmnis für den Bau neuen Wohnraums bedeutet - das sind alles gute, sachlich fundierte Argumente, mit großer Ernsthaftigkeit von Fachleuten vorgetragen. Nur berühren sie keine konkrete Lebensrealität.
Deswegen passt die Überschrift von Bernaus Artikels auch so gut. Die Leute lieben den Mietendeckel. Trotz der Kritik von Fachleuten daran, trotz dessen, dass er wohl negative Kollateraleffekte hat. Er ist symbolisch wirksam. Der Staat tut etwas, indem er Mieten begrenzt, die zu hoch sind, weil die Vermietenden zu viel kassieren. Das ist verständlich. Ursache, Wirkung. Und bevor sich jetzt zu viele Leute empören, diese Mechanismen finden sich überall. Ich habe schon öfter die Abschiebungen erwähnt. Auch hier ist völlig klar, dass die nicht in einem Umfang realisierbar sind, der irgendwie in Relation zu den Zahlen derjenigen Migrant*innen steht, die man nicht hier haben möchte. Aber das ist egal, denn das Symbol kann nicht ignoriert werden. Wie viel mehr Handlungsfähigkeit kann ein Staat zeigen, als Menschen verhaften zu lassen, die nicht legal hier sind, und sie per Flugzeug außer Landes zu schaffen? Dass die Kosten riesig sind, dass es oft die Falschen trifft, dass es manchmal rechtswidrig ist; who cares? Es ist symbolisch wirksam und demonstriert Handlungsfähigkeit, wo alle Alternativen bestenfals langfristig und indirekt wirken und deswegen unattraktiv sind. Nicht zu vergessen, dass sie oft genug politisch unattraktiv sind und eben keine Mehrheiten haben.
Jede Analyse, die diese Logiken ignoriert, wird immer verwunderte Beobachtende wie Patrick Bernau zurücklassen, die sich nicht wirklich erklären können, weswegen so unlogische, unsachliche, irrationale Entscheidungen getroffen werden.
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