In seinem bedeutenden Buch zur Integrationsdebatte (hier besprochen) hat Aladin el-Mafaalani die Metapher eines "Platzes am Tisch" benutzt, der Konflikte überhaupt erst besprechbar macht. Konkret war seine These, dass unsere Debatten über Integration (oder Sexismus oder Rassismus oder oder) ein Zeichen für eine Verbesserung seien: früher, als das alles "kein Thema" war, war es eben tatsächlich kein Thema: es war gar nicht möglich, darüber zu sprechen und es zu kritisieren, lag außerhalb des Overtonfensters. Erst als die betroffenen Menschen auch einen Platz am Tisch verlangten, also Ansprüche stellten und sich beschwerten, wurden sie überhaupt sichtbar. Diese Sichtbarkeit führt oft zum Fehlschluss, dass alles schlimmer geworden sei; tatsächlich, so el-Mafaalani, sei es aber ein Zeichen dafür, dass sich die Zustände verbessert hatten, so sehr nämlich, dass man sie als Problem wahrnahm und in den gesellschaftlichen Diskurs überführen konnte. Ich habe das Gefühl, dass eine ähnliche Dynamik auch für gesellschaftliche Verschiebungen gilt. Wenn eine Seite den gesellschaftlichen Diskurs "gewinnt" - und solche Siege sind in einer pluralistischen, demokratischen, liberalen Gesellschaft immer temporär und werden von einem Schwung auf die andere Seite abgelöst - hat sie das Gefühl, ihn zu verlieren. Die zugrundeliegende Dynamik ist dieselbe.
Ich rede in diesem Kontext über Verschiebungen auf der Rechts-Links-Achse. Mir ist bewusst, wie ausgedient diese Dichotomie zwischen Links und Rechts ist, dass sie unterkomplex ist und dass sie nicht in der Lage ist, alles korrekt abzubilden. Passt alles. Aber wir haben noch keine bessere, griffigere Abkürzung gefunden, und für unsere Zwecke soll die Achse hier daher genügen. In der Mitte dieser Achse ist, wer hätte es gedacht, die "Mitte". Die Mitte ist die Mitte zwischen den Extremen, also kein fixer Punkt.
Das klingt jetzt alles sehr banal, ist es aber nicht. Die Behauptung, dass es etwa keine Mitte mehr gebe, wie es etwa jüngst wieder im Spiegel zu lesen war, findet sich immer wieder. Auch gibt es immer wieder Menschen (meist fortgeschrittenen Alters, weißer Hautfarbe und männlicher Geschlechtsidentifikation, aber nicht ausschließlich), die das Gefühl haben, sie seien "Mitte", aber die Gesellschaft sei wahlweise nach rechts oder links gewandert. Sie sehen sich dann oft als einsame Rufende in der Wüste. "Nicht ich habe die Mitte verlassen, die Mitte hat mich verlassen", oder so ähnlich. Aber das macht keinen Sinn. Wenn sich der gesellschaftliche Konsens bewegt, bewegt sich die Mitte mit ihm. Das ist völlig normal und war auch schon immer so.
Deswegen machen auch die Beschwerden der Zurückgelassenen keinen Sinn. Die Mitte der Adenauerzeit ist heute hoffnungslos im rechtsradikalen Spektrum angesiedelt, während manche Mitte-Links Position dieser Zeit heute im linksradikalen Spektrum zu finden wäre (was übrigens auch deutlich die Grenzen der Links-Rechts-Dichotomie aufzeigt, nebenbei noch einmal bemerkt). Je weiter man in der Geschichte zurückgeht, desto deutlicher wird das. Was heute völliger Mainstream ist - alle Staatsbürger*innen haben eine gleiche Stimme bei Wahlen - war im 19. Jahrhundert die Idee einiger verrückter Radikaler. Was damals Mainstream war - die Regierung durch das Gottesgnadentum legitimierter Dynastien -, würde heute sogar in der AfD verlacht und ausgegrenzt werden.
Wenn also solche Veränderungen stattfinden, wird es immer Menschen geben, die grummeln, weil sie sich ausgeschlossen und verlassen fühlen. Der Umgang mit ihnen und die Sicht auf sie ist ein guter Indikator dafür, wo der Zeitgeist sich hinbewegt. Als etwa Sozialdemokraten in den 1990er Jahren über den Kurs der Liberalisierung und Globalisierung grummelten, galten sie als hoffnungslos veraltete Zeitgenossen, während Konservative, die noch am Blut-und-Boden-Staatsrecht und der patriarchalen Familie festhielten von Angela Merkels Modernisierungskurs erst überrollt und dann liegengelassen wurden.
Viel spannender aber ist der gegenteilige Effekt: Leute, die meckern, wenn sich der gesellschaftliche Trend in ihre Richtung bewegt. Und hier wird der Verweis auf el-Mafaalani und sein Integrationsparadox wieder relevant. Denn ich bin der Überzeugung, dass das offene Grummeln und Meckern und vor allem seine positive Rezeption erst möglich sind, wenn der gesellschaftliche Trend in die entsprechende Richtung läuft. Ich will das an einem Beispiel aus der Vergangenheit deutlich machen, bevor ich auf den Moment unserer Gegenwart komme.
Meine politische "Reifezeit", in der ich ein politisches Bewusstsein aufbaute und dieses sich dann weiterentwickelte, begann in den 2000er Jahren. Oszillierte ich anfangs noch am rechten Rand herum, vor allem mit einigen wenig reflektierten, vor allem provozierenden und revisionistischen Haltungen, wie sie in dem Alter immer attraktiv sind, radikalisierte ich mich Mitte der 2000er Jahre rapide in Richtung links (ein Prozess, der übrigens ab 2006 ziemlich lückenlos über das Archiv des Vorgängerblogs "Oeffinger Freidenker" nachverfolgbar ist, als Hinweis an meine künftigen Biografen). Es war die Hochzeit der Reformära: Quasi über alle Medien hindurch bestand der Konsens, dass es nur eine alternativlose Politik gäbe, die neoliberaler Reformen. Deregulierung, Sozialstaatsabbau und Steuersenkungen waren das Gebot der Stunde. Wer sich dem entgegenstellte, wurde mit großer Aggression attackiert. Man sehe sich nur damalige Interviews aus den Öffentlich-Rechtlichen mit Leuten wie Wagenknecht, Lafontaine oder Schreiner an.
Das aber änderte sich Ende der 2000er Jahre schleichend. Vermutlich war die Finanzkrise der größte ausschlaggebende Faktor, aber auch eine bis dahin bestehende fast 15jährige Dominanz dieser Politik (man kann den Anfang in die frühen 1990er Jahre setzen, spätestens mit der Ruck-Rede), die, wie eingangs erwähnt, immer von einer Gegenentwicklung abgelöst wird; kein Trend hält ewig, irgendwann setzt immer Ermattung bei den Gewinnern an, wittern die Verlierer Morgenluft. Eine Dynamik, die sich immer wiederholt. Nur: aus den Äußerungen von Linken hätte man das nicht entnehmen können. Die harsche Kritik an Angela Merkel nahm nicht ab, die Finanzkrise galt als Beweis der weiterbestehenden Dominanz des Systems, und so weiter. Dass der aggressive Ton der Berichterstattung und der Interviews abgenommen hatte; dass die FAZ unter ihrem Herausgeber Frank Schirrmacher eine weithin gefeierte kapitalismuskritische Feuilleton-Serie auflegte; dass an realen politischen Handlungen seit 2009 effektiv keine neoliberale Politik mehr gemacht worden war - all das wurde übersehen.
Und damit kommen wir zu meiner großen These: aktuell erleben wir einen Rechtsruck der Gesellschaft und der Politik. Ich würde den Beginn auf Sylvester 2015/16 setzen, als die Stimmung bezüglich Migration und Flüchtlingen massiv und irreversibel umschwang, eine Umschwung, der in den Anschlägen von Solingen 2024 seinen sichtbarsten Niederschlag fand, als die uniforme Forderung nach schärferer Asyl-, Abschiebe- und Migrationspolitik den besten Zeiten gleichförmiger Forderungen nach Klimapolitik oder neoliberalen Reformen entsprach. Etwas weniger eindeutig an Ereignissen festzumachen ist die "anti-Woke"-Bewegung, aber geht man nach der Verwendung des Wortes in Deutschland, liegt das zwischen Mai 2021 und dem Frühjahr 2022. Da das Wort in Deutschland nie von denen gebraucht wurde, die für die damit verbundenen Konzepte eintreten, sondern nur von seinen Gegner*innen, ist die entsprechende Suche nach seinem Gebrauch instruktiv.
Denn auch hier braucht es ja wieder überhaupt die Sprache und das Konzept, den Resonanzraum, um das sinnvoll politisch verwenden zu können. Wie Cancel Culture (Höhepunkt der Verwendung sicherlich nicht zufällig ebenfalls im Mai 2021) war auch "woke" ein reiner rechter Kampfbegriff und US-Import; sehr erfolgreich in beiden Fällen, übrigens. Aber der Punkt hier sei noch einmal gemacht: die Beschwerden über Wokeness und Cancel Culture fielen in eine Zeit, in der das kritisierte Phänomen bereits auf dem Rückzug war. Es war gerade seine Schwäche, nicht seine Stärke, die den allumfassenden Diskurs überhaupt erst ermöglichte. Dass das ganze Land Wokeness-Kritik diskutiert und über Gefährdungen der Meinungsfreiheit durch Wokeness schwadroniert und sogar erfolgreiche "Komödien" produziert, ist nur dadurch möglich, dass ein tiefergehender Rechtsschwenk bereits vorher eingesetzt hatte. Die Performance der Ampel war vielleicht auch deswegen so mies, weil sie ihren Moment eigentlich verpasst hatte. Die Stimmung hatte sich bereits gegen ein linksliberales Projekt gewandt.
Aber das ist nur eine Nebenthese. Mein Fokus bleibt auf der Frage, ob sich aktuell eine ähnliche Reaktion beobachten lässt. Dass es aktuell einen Rechtsrutsch gibt, sollte unstrittig sein. Auf praktisch allen relevanten Gebieten hat sich die Mitte verschoben: Klimaschutzmaßnahmen sind wieder unbeliebt wie früher; Emanzipationsthemen gelten als übergriffig, überflüssig und nervig; Migration wird abgesehen vom Feigenblatt der angeblich erwünschten qualifizierten Zuwanderung abgelehnt; Integration wird vor allem als Forderung formuliert; der Sozialstaat steht unter Beschuss; die Bundeswehr soll gestärkt und eine Wehrpflicht wieder eingeführt werden; und so weiter und so fort. Mir fiele kein Thema ein, bei dem in den letzten beiden Jahren die Mitte nach Links gerückt wäre.
Und trotzdem herrscht noch immer eine Opferwahrnehmung bei zahlreichen Konservativen von Ulf Poschardt bis Dieter Nuhr vor. Obwohl wir gerade aus einem Wahlkampf kommen, in dem sowohl SPD als auch Grüne einen weichgespülten, kantenfreien Ansatz wählten ("Mehr für Deutschland" und "Ein Mensch, ein Wort"), während die CDU ein identitätspolitisches Thema nach dem anderen bespielte, herrscht immer noch die Wahrnehmung vor, dass Identitätspolitik hier nicht stattfinden würde, als ob man immer noch im Jahr 2017 wäre und #BlackLivesMatter und #MeToo die dominierenden Themen wären und man immer noch ein Rückzugsgefecht um den Herrenwitz führte. Die gesamte Amtszeit der neuen Bundestagspräsidentin Julia Klöckner ist von solchen Maßnahmen geprägt, ob es der Kampf gegen Verstöße gegen die Anzugsnorm ist oder der Buhei um den ACAB-Pullover Jette Nietzards. Ihr neuester Vorstoß ist es, dafür zu sorgen, dass keine Regenbogenflagge mehr am Bundestag fliegt und die üblichen netten Worte zum CSD nicht mehr gebracht werden. Die Kommentarspalte der Welt jubelt, während selbst die FAZ etwas konsterniert fragt "Was soll der Geiz, Frau Klöckner?" Auch der permanente Kampf gegen die Öffentlich-Rechtlichen, obwohl diese den Rechtsschwenk deutlich mitvollzogen haben, gehört in dieses Gesamtbild eines Gefühls, gegen einen übermächtigen Konsens anzukämpfen, wo man in Wahrheit selbst bereits den neuen Konsens repräsentiert.
Der zentrale Punkt dabei ist, dass diese Schwenks aus Sicht derer, die zu ihnen gehören, niemals weitreichend genug sind. Sie werden immer das Gefühl haben, dass in Wahrheit eigentlich kein Schwenk stattgefunden hat, genug Beispiele finden, die das zu belegen scheinen und mehr fordern. Das ist menschlich und normal, und es legt gleichzeitig die Grundlage für die nächste Erschöpfung, den nächsten Schwenk. Denn die Gegner, die jetzt von ihrer vorherigen Dominanz erschöpft sind, werden durch das ständige, lautstarke Bestehen darauf, dass sie sich ihre ideologische Niederlage nur einbildeten, verärgert, sich organisieren und offener und aggressiver auftreten. Und dann beginnt der Prozess von Neuem.
Nichts davon ist neu oder illegitim. Diese gesellschaftlichen Schwünge, innerhalb derer sich einerseits das Overton-Fenster verschiebt und andererseits die "Mitte" neu definiert wird, passieren immer wieder. Sie werden dann als Links- oder Rechtsrutsch von jenen, die sich plötzlich deplatziert finden, lautstark beklagt. Ich kann nicht behaupten, dass mich der aktuelle Rechtsschwenk glücklich machen würde. Aber es werden wieder andere Zeiten kommen.
Jedenfalls, solange wir eine freie, demokratische und pluralistische Gesellschaft bleiben.
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