Es ist dieselbe Geisterbahn wie zu  höchsten Pandemiezeiten: Noch nie wurde von so vielen öffentlich und weitgehend folgenlos über die Einschränkung der Meinungsfreiheit gejammert sowie darüber, in welch brutaler Diktatur man lebe und welchen inkompetenten Tyrannen man schutzlos ausgeliefert sei. Fing schon 2010 mit Thilo Sarrazin an: Da wurde beklagt, wie ganzschlimm verfolgt und mundtot der arme Mann gemacht werde. Dass der Verfemte so viel Medienpräsenz genoss und  Millionenhonorare einstrich wie noch kein Sachbuchautor vor ihm -- der  kleine Fehler auf dem Bild wurde großzügig ignoriert.

Nein, möchte man da kopfschüttelnd immer wieder sagen, die Wahrheit liegt oft nicht irgendwo in der Mitte. Und nein, wenn man eine maximal konträre Gegenposition zu einem (imaginierten) 'Mainstream' einnimmt, hat man damit nicht automatisch recht. Und nein, es ist auch keine politische Kategorie, sich mit einer moralisch besonders leuchtenden Position zu adeln, die jede Form von Gewalt pauschal als inakzeptabel brandmarkt. Und dann selbst in die Propagandafalle zu latschen, russische Gewalt per se zu Gräuelpropaganda zu erklären und alle, die auch nur marginal anderer Ansicht sind, zu Kriegstreibern oder Verrätern an der guten Sache zu stempeln.

Dann das Büllerbü- und  Kleinmäxchendenken mit dem 'Verhandeln'. Noch einmal: Wenn eine  Seite entschlossen ist, Krieg zu führen bzw. dazu, ihre politschen Ziele mit Gewalt durchzusetzen, die andere aber unter keinen Umständen bereit ist, sich schlimmstenfalls auch mit Gewalt zu wehren, dann sind das keine Verhandlungen (die es übrigens, entgegen verbreiteter Denunze, zu Hauf gegeben hat), sondern 'Verhandlungen'. Ein schlechter Witz, den man gleich bleiben lassen kann.

Ferner scheint gerade Mode zu sein, Arthur Posonbys im ersten Weltkrieg entstandene 'Prinzipien der Kriegspropaganda' herauszukramen (meist in der Fassung von Anne Morelli). Wiewohl für Posonbys damalige Beobachtungen durchaus Belege zu finden sind, fallen dabei meist zwei Aspekte unter den Tisch: Erstens, dass derlei Propaganda mitnichten repräsentativ für deutschsprachige, geschweige denn 'westliche' Medien ist. Das fällt den Betreffenden aber nicht auf, da sie grob vereinfachend alle hiesigen Medien für gleichgeschaltete Staatspropaganda halten, sich daher meist auf Hörensagen oder kursorische Lektüre beschränken und sich fast ausschließlich aus 'alternativen Medien' informieren; will heißen: sich selektiv das zusammenpicken, was irgendwie ihr Bauchgefühl bestätigt. Zweitens, dass diese Prinzipien natürlich nicht bloß im Westen zur Anwendung kommen, sondern genauso auch in Russland.

Die russische Variante von Posonbys Geboten sieht etwa so aus:

1. Wir wollen den Krieg nicht.
"Wir führen gar keinen Krieg, es handelt sich lediglich um eine militärische Spezialoperation."

2. Das feindliche Lager trägt die Verantwortung.
"Die russischsprachigen Ukrainer haben uns zu Hilfe gerufen."

3. Der Führer des Gegners ist ein Teufel.
"Die ukrainische Regierung besteht aus Drogensüchtigen und Neonazis. Außerdem ist ihr Präsident Jude. Wird man ja wohl noch sagen dürfen."

4. Wir kämpfen für eine gute Sache.
"Unsere  militärische Spezialoperation dient der Entnazifizierung der Ukraine.  Wir sind Antifaschisten und stehen in der stolzen Tradition der Roten  Armee, die den Hitlerfaschismus besiegte."

5. Der Feind kämpft mit unerlaubten Waffen.
"Die Ukraine lässt sich vom Westen unfairerweise mit Waffen beliefern, anstatt unsere Helden mit Blumen zu begrüßen."

6. Der Gegner begeht mit Absicht Grausamkeiten, wir nur versehentlich.
"Ukrainer kastrieren russische Gefangene! So was würden wir nie tun."

7. Unsere Verluste sind gering, die des Gegners enorm.
"Es  hat da ein paar wenige unerwartete Probleme gegeben. Die  verantwortlichen Kommandeure sind allesamt Verräter und wurden bereits  bestraft."

8. Künstler und Intellektuelle unterstützen unsere Sache.
"Hunderte!"

9. Unsere Mission ist heilig.
"Wir schützen das heilige russische Volk vor weichlicher westlicher Dekadenz und vor allem vor Schwulenparaden, Halleluja!"

10. Wer unsere Berichterstattung in Zweifel zieht, ist ein Verräter.
"Wer unsere militärische Spezialoperation einen Krieg nennt, wandert direkt in den Knast."

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