Es war keine offensichtliche Krankheit, es war eher eine gegen Nachmittag zunehmende Schwäche, die von ihm Besitz ergriff. Ihm die Beine schwer werden ließ und seinen Atem bei der kleinsten Steigung beschleunigte. Da er zahlen konnte, wies ihn niemand ab. In den einfachen Unterkünften, meist am Rand eines kleines Dorfs, oftmals jedoch mitten im Wald gelegen, aß er mit nur mäßigem Appetit, obwohl das Essen reichlich und kräftig war und oftmals aus Fleisch, einer Art Knödel und etwas Gemüse bestand und dass er mit reichlich Bier hinunterspülte. Sobald er sich zurückzog, kam das Fieber und die bleierne Müdigkeit.  Er schaffte es gerade noch,  die Kleider vom Leib zu streifen und sich zitternd in die Decken zu legen.

Es war immer derselbe Traum, den er in unterschiedlichen Varianten träumte und der sich beim Erwachen in einzelne Fragmente auflöste, die wie Asche im Wind davonwehten. Immer hörte er das perlende Lachen einer Frau und sah den vollen, rotgeschminkten Mund, der einen Namen flüsterte, von der wusste, dass es seiner war, doch den er nicht verstehen konnte. Danach zeriss der Mund einmal, ein andermal floss er auseinander und wurde eins mit dem Blut, das ihn umgab.

Das Lachen und das Bild des Mundes tauchten immer wieder während seiner Wanderungen  in ihm auf. Er hatte es aufgegeben dagegen anzukämpfen. Oder sich zu fragen, was passiert war. Er war nicht René, soviel hatte er verstanden. Wenn er an die fremde Wohnung dachte, die er an jenem Morgen verlassen hatte, packte ihn das kalte Grauen und er roch den kalten Zigarettenrauch, den verschütteten Alkohol und etwas Süßliches. Dann sog er schnell die kalte Waldluft ein und  versuchte nicht weiter daran zu denken.

Die milden Herbsttage waren vorüber. Morgens bedeckte der erste Raureif Felder und Wiesen.  Das Gebiet wurde immer karger und bergiger. In einem der wenigen Dörfer nahm er an jenem Abend Quartier. Doch aus dem Plan, am nächsten Tag die erste Etappe über den Pass zu gehen, wurde nichts. Das Wetter wurde stürmisch und kalt.  Graupel setzte ein und er entschied weitere Tage zu bleiben. Auf den Bergspitzen lag der erste Schnee.

An dem kleinem Bahnhof erstand er am Kiosk eine Tageszeitung und ein Wörterbuch. Im einzigen Kleiderladen, der sich neben dem Bahnhof befand, kaufte er sich eine dicke wattierte Jacke. In der Apotheke, ein winziger Verkaufsraum vollgepackt mit Medikamentenschachteln, bestellte er mit Hilfe des Wörterbuchs schmerz- und fieberstillende Tabletten. Er musste gewappnet sein.

Die Pause tat seinem Körper gut. Das Schwächegefühl blieb aus. Sein Appetit kehrte wieder und auch die Lust mehr zu trinken. Er genoss die Anwesenheit anderer Menschen, denn in diesem Gasthaus war einiges los. Das halbe Dorf schien sich an diesem Abend dort zu versammeln. Nach dem Essen saß er noch eine Weile, betrachtete die einzelnen Dorfbewohner und schlug Wörter nach, die er aufschnappte.  Ein Junge kam zur Tür rein und rief etwas. Die Gespräche schwollen an, Aufregung lag plötzlich im Raum und es wurde still. Ein alter Mann mit Hut, Schnauzbart und Stock betrat mit aufrechter Haltung den Raum.

Ein Summen schwoll an und kurz darauf erklang ein Geburtstagslied aus vielen Kehlen, das  in Klatschen und Hochrufen überging. Der Alte strahlte, schüttelte Hände und ließ sich an das Ende des größten Tischs des Lokals führen.

Er war der Einzige, der alleine an seinem Tisch in der Ecke saß und als er gerade beschlossen hatte, sich in ein Zimmer zurückzuziehen, kam der Wirt und brachte ein  Glas mit durchsichtiger Flüssigkeit, beugte sich zu ihm und wies mit dem Kinn zum großen Tisch.

Als er das Glas anhob, um daran zu riechen, fiel sein Blick auf den Alten, der ihn quer durch den Raum ansah, seinerseits das Glas hob und mit seinen Lippen ein Wort formte.

In dieser Nacht verstand er den Namen, den die roten Lippen ihm wie einem Geliebten zuflüsterten bevor sie zersprangen. Gregor. Keuchend und mit aufgerissenen Augen saß er im Bett. Er war Gregor. Er war jemand. Erleichterung machte sich in ihm breit, doch er sah im selben Moment das Heer von Fragen, das am Horizont zu sehen war und unaufhaltsam auf ihn zustürmte.

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