Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.

Fundstücke

1) Ökonomen fordern Agenda gegen Populismus

Wissenschaftler in Berlin haben angesichts des wachsenden Misstrauens gegenüber liberalen Demokratien zu einer neuen Politik aufgerufen. Regierungen müssten den gefühlten oder tatsächlichen Kontrollverlust der Bürger angehen, der eine Hauptursache für den Vertrauensverlust in die Demokratie sei. Eine neue Wirtschaftspolitik solle sich auf die Schaffung von geteiltem Wohlstand und sicheren, qualitativ hochwertigen Arbeitsplätzen konzentrieren, anstatt nur auf wirtschaftliche Effizienz. Proaktive Industriepolitik solle regionale Umbrüche unterstützen, statt den Status quo durch Subventionen und Kredite zu erhalten. Eine "gesündere Form der Globalisierung" sei erforderlich, die Freihandel mit dem Schutz der Schwächsten und der Koordinierung von Klimapolitik ausbalanciere. Einkommens- und Vermögensungleichheiten müssten durch die Stärkung von schlecht bezahlten Arbeitskräften und eine angemessene Besteuerung hoher Einkommen und Vermögen angegangen werden. Der Aufruf warnt vor einem Aufschwung des Populismus im globalen Superwahljahr 2024 und betont, dass eine schlecht gemanagte Globalisierung, übermäßiges Vertrauen in die Selbstregulierung der Märkte und Austerität die Fähigkeit der Regierungen, wirksam auf Krisen zu reagieren, untergraben haben. Ein neuer politischer Konsens, der die Ursachen des Misstrauens angeht, sei notwendig, um das Vertrauen in die Demokratie und die Fähigkeit der Gesellschaften, Krisen zu lösen, wiederherzustellen. (Spiegel)

Die wirtschaftswissenschaftliche Monokultur bricht immer mehr auf. Ich habe ja bereits vor einiger Zeit einen Paradigmenwechsel prognostiziert; obgleich ich das konkrete Paradigma völlig falsch eingeschätzt habe, bleibt die Grundidee korrekt: die seit den 1990er Jahren überparteilich anerkannten Paradigmen, die lange Zeit nur die LINKE infragestellte, stehen nun...mehr und mehr in Frage. Was an ihre Stelle treten wird - ein neuer Konsens oder ein Pluralismus - ist noch völlig offen, aber Veränderung liegt in der Luft.

Ob die vorgeschlagenen Maßnahmen konkret den Populismus bekämpfen können, sei einmal dahingestellt. In jedem Fall ist die Analyse wichtig, dass der alte Konsens wesentlich mehr zum Aufstieg des Populismus beigetragen hat, als das gemeinhin anerkannt ist. Es ist weitgegend Konsens, dass die Migrationskrise ein wesentlicher Treiber war (und ist), aber dass die Ungleichheit und wirtschaftliche Lage verbunden mit der ständigen Unmachbarkeitsrhetorik die andere Seite dieser Medaille sind, ist mindestens ebenso wahr.

2) Wo der Postkolonialismus irrt – und wo er recht hat

Der Artikel thematisiert die Herausforderungen und Kontroversen im Zusammenhang mit der postkolonialen Denkschule. Während diese Denkschule wichtige Einblicke in die Verbrechen der Kolonialzeit und deren Nachwirkungen bietet, wird kritisiert, dass einige ihrer Vertreter Israel feindlich gegenüberstehen und das Existenzrecht des Landes infrage stellen. Diese Haltung überschreitet eine moralische Grenze, insbesondere bei propalästinensischen Protesten an Universitäten. Der Autor betont, dass es notwendig sei, die Verbrechen der Kolonialzeit aufzuarbeiten und den Einfluss der Länder des Globalen Südens anzuerkennen. Der Respekt gegenüber diesen Ländern müsse steigen, um ihre Unterstützung in globalen Angelegenheiten, wie dem Ukraine-Konflikt, zu gewinnen. Der Begriff „Entwicklungshilfe“ wird als veraltet und bevormundend kritisiert, was zeigt, wie Sprache westliche Überlegenheitsdenken widerspiegeln kann. Die postkoloniale Theorie wird insgesamt als wertvoll erachtet, jedoch wird die Verquickung mit Hass auf Israel als problematisch gesehen. Die Theorie sollte weiterhin genutzt werden, um globale Machtverhältnisse zu hinterfragen, aber ohne ungerechtfertigte Feindseligkeit gegenüber bestimmten Ländern zu fördern. (Susanne Beyer, Spiegel)

Die Überschrift postulierte Prämisse ist etwas sinnlos; "den" Postkolonialismus gibt es nicht. Wir schreiben ja auch nicht "wo die VWL irrt, und wo sie Recht hat", dafür ist das ein viel zu breites Feld. Unstrittig sollte dagegen der eigentliche Artikel sein: selbstverständlich wird unter dem Schlagwort des "Postkolonialismus" und seiner ideologischen Nachbarschaft viel Unsinn erzählt, gerade wo Israel betroffen ist. Aber gleichzeitig ist er eben auch eine fruchtbare neue Art, über bestimmte Dynamiken nachzudenken und Erklärungsansätze zu bieten. Beides kann gleichzeitig wahr sein und ist es üblicherweise ja auch. Siehe auch Jürgen Zimmerers Artikel zum Thema.

3) Germany in Europe 2024 - From reluctant hegemon to policy vacuum

Der Artikel beleuchtet die zahlreichen Herausforderungen, denen Deutschland und Europa derzeit gegenüberstehen. Europa sieht sich in verschiedenen Bereichen gefährdet: Der Krieg in der Ukraine, die amerikanischen Wahlen, die Konkurrenz durch chinesische E-Autos und eine mögliche wirtschaftliche Stagnation. Besonders betroffen ist Deutschland, dessen strategisches Modell stark bedroht ist. Deutschland leidet unter den Folgen von COVID-19, dem Krieg in der Ukraine und Veränderungen im chinesischen Wachstum. Zudem stehen Migration und die Bedrohung durch rechtsextreme Parteien im Fokus. Eine zentrale Frage ist, warum Berlin, trotz der erkannten Krisen, nicht stärker reagiert. In der deutschen Politik fehlt es an entschlossener Führung. Olaf Scholz' Regierung wird von internen Konflikten und mangelnder Einigkeit behindert. Finanzminister Christian Lindner blockiert weitere gemeinsame Schuldenaufnahme, was die notwendige europäische Zusammenarbeit erschwert. Zudem mangelt es an einer klaren Verteidigungs- und Energiepolitik. Der Artikel schließt mit der Feststellung, dass Deutschland, trotz seiner zentralen Rolle in Europa, oft zögert und sich in politischen Blockaden verliert. Die Fähigkeit der Scholz-Regierung, diese internen Spaltungen zu überwinden, könnte entscheidend für die Zukunft der EU sein. (Adam Tooze, Chartbook)

Ich stimme der Analyse vollständig zu. Andere Länder haben natürlich ähnliche Probleme mit Koalitionsregierungen (oder Flügelstreit), der effektive politische Strategie unmöglich macht. Die Weigerung, sich strategisch zu verhalten, ist in Deutschland allerdings schon fast pathologisch, und andererseits ist das Land einfach zu groß, als dass unsere innnpolitischen Blockaden nicht große Effekte haben würden. Wenn Belgiens Regierung sich selbst blockiert kann man über Flandern und Wallonen lächeln; wenn Deutschland das tut, hat das teilweise verheerende Auswirkungen auf ganze Regionen. Dass es auch in unserem Interesse wäre, endlich aufzuwachen und im nationalen Interesse zu agieren - zu dem im Übrigen auch eine Wertebasis gehört - geht da auch ständig unter.

4) Understanding the real threat generative AI poses to our jobs

Elon Musk prognostiziert, dass KI bald die meisten Arbeitsplätze übernehmen wird. Bei einer Konferenz in Paris äußerte er, dass bald "wahrscheinlich keiner von uns mehr einen Job haben wird". Diese Ansicht teilen auch andere Tech-Experten wie Geoffrey Hinton und Sam Altman. Trotz dieser Befürchtungen gibt es zahlreiche Berichte über die Unzulänglichkeiten von generativen KI-Systemen wie Google’s 'AI Overview', das viele falsche Antworten liefert. Gleichzeitig zeigen Studien und Berichte, dass generative KI möglicherweise mehr Arbeit schafft, als sie spart. Viele Unternehmen erkennen, dass KI häufig unzuverlässig ist und rechtliche sowie Sicherheitsfragen aufwirft. Der Artikel betont, dass KI eher als Druckmittel von Managern genutzt wird, um Arbeitskosten zu senken und mehr Produktivität zu verlangen, als dass sie tatsächlich Jobs ersetzt. Besonders in kreativen Berufen wie Illustration und Marketing führt KI bereits zu Jobverlusten. Arbeitnehmer sollten sich organisieren und gegen eine unüberlegte Einführung von KI am Arbeitsplatz wehren, um ihre Arbeitsbedingungen zu schützen. Der Einsatz von KI könnte kurzfristig zu großen Störungen führen, selbst wenn die Technologie langfristig nicht die erwarteten Vorteile bringt. (Brian Merchant, Blood in the Machine)

Ich finde den Artikel sehr interessant, weil er einen recht realistischen Blick zwischen Utopie und Dystopie auf die KI hat. Ob die Entwicklung tatsächlich zeitnah ein Plateau erreichen wird, kann ich nicht abschätzen, dafür fehlt mir die Fachkenntnis. Unzweifelhaft aber sind die disruptiven Wirkungen. Merchant konzentriert sich hier natürlich nur auf das Negative, aber dass in vielen Bereichen die KI Druck ausüben wird, ohne direkt die ganze Branche zu gefährden, ist sicherlich korrekt, ebenso dass die Freiberufler*innen am härtesten getroffen sein werden. Ich bin gespannt, welche Auswirkungen das in meinem eigenen Berufsfeld haben wird. Die Vorstellung, dass Lehrkräfte partiell überflüssig werden und so eingespart werden könnten, hat sich ja bereits mit einigen technischen Innovationen zerschlagen (erinnert sich noch jemand an "Sprachlabore"?).

5) Demokratie per Gesetz fördern? Für FDP und Union eine Provokation

An einem windigen Samstag im Februar verteilt Lisa Paus, die Bundesfamilienministerin, Flyer in Berlin-Wilmersdorf. Sie unterstützt den Sonderwahlkampf zur Wiederholung der Bundestagswahl in einigen Wahlbezirken. Zu dieser Zeit beschäftigt die Gesellschaft die Angst vor rechtsextremen Feinden der Republik. Nach Berichten über ein Geheimtreffen von Rechtsextremen demonstrieren viele Menschen gegen die AfD und für die Demokratie. Paus plant, später an einer Großdemonstration teilzunehmen. Ein junger CDU-Anhänger bittet Paus, ihr Bestes gegen die AfD zu geben. Sie strebt ein Demokratiefördergesetz an, das langfristige finanzielle Sicherheit für zivilgesellschaftliche Projekte bieten soll. Doch dieses Gesetz stößt auf Widerstand, insbesondere von Liberalen und Konservativen. In den Koalitionsverhandlungen von 2021 gab es bereits Zweifel an dem Gesetz, doch es war kein großes Streitthema. Ziel des Gesetzes ist die langfristige Förderung von Projekten zur Demokratieförderung. Ein Problem sind die bisherigen befristeten Förderungen, die Unsicherheit schaffen. Trotz Zustimmung des Kabinetts und einer beinahe Einigung zu Jahresbeginn lehnt die FDP das Gesetz weiterhin ab. Der Streit um eine Extremismusklausel und die Zuständigkeit des Bundes erschwert die Verhandlungen. Liberale befürchten, dass das Gesetz linke Ideologieprojekte fördert. Grünen und Sozialdemokraten setzen weiterhin auf Verhandlungen, um die FDP ins Boot zu holen. (Rasmus Buchsteiner/Milena Hassenkamp/Ann-Katrin Müller/Jonas Schaible/Marejke Talea Tammen, Spiegel)

Ich kann beide Seiten verstehen. Dass die meisten dieser Projekte eher in die progressive Richtung gehen und deswegen bei bürgerlichen Parteien auf nicht allzuviel Gegenliebe stoßen dürften, liegt in der Natur der Sache. Wenn man Pluralismus und Demokratie fördern will, passiert das praktisch automatisch, und Gruppen und Aktivist*innen, die sich auf dem Feld engagieren, sind nun mal überwiegend progressiv. Liberale oder konservative Gruppierungen sind meist völlig anders organisiert und eher privat finanziert als dass sie staatliche Mittel beantragen würden. Gleichzeitig ist es völlig legitim, radikalere Elemente da raushalten zu wollen. Wenn die FDP tatsächlich einen Effektivitätsnachweis verlangt, ist das natürlich hanebüchen. So was kann unmöglich erbracht werden, das wäre einfach nur Blockade. Umgekehrt sehe ich nicht, warum die Grünen sich so für Radikale in die Bresche werfen müssen. Eigentlich sind sich ja alle einig, dass das Ziel gut ist, man streitet sich hauptsächlich über Details, bauscht die aber zu Grundsatzfragen auf. Das scheint mir auch so eine Grundkonstante der Ampel zu sein.

Resterampe

a) Guter Artikel zum Thema Kunstkritik.

b) Die Wirtschaftswoche (!) argumentiert gegen das Verbrenner-Verbot-Aus.

c) Was Bob sagt.

d) Ich sag es immer wieder, man muss die AfD inhaltlich stellen. Aber es passiert einfach zu wenig.

e) Erwin Huber will Heiner Geißler beerben, scheint's.

f) Auch ein Klassiker jedes Wahlkampfs: Regierungspartei macht Wahlwerbung, wird davon von ihren Konkurrenten kritisiert. Ich bin echt unsicher, inwieweit das ein Problem ist.

g) Tribalism.

h) Vorschläge, Kino wieder attraktiv zu machen.

i) Einladungsmechanismen bei Talkshows.

j) Realistische Chinapolitik.

k) Die Menschen erkennen, dass sich mit der AfD kein Staat machen lässt. Hoffen wir es.

l) The rise and fall of the six-foot rule.

m) Machtmissbrauch in der Musikbranche – „Row Zero“ von Lena Kampf und Daniel Drepper.

n) Mannheim: Olaf Scholz verlangt eine hohe Strafe, Friedrich Merz spricht von »Terror«. Dieser dämliche Reflex, immer hohe Strafen zu fordern. Wie schrecklich wäre es, wenn solche Forderungen Konsequenzen hätten? Gewaltenteilung und so...

o) Wie gesund ist Milch? Der Trend geht zum (mitunter inkonsequenten) Verzicht. Für mich ist dieser Bedeutungsverlust von Milch ein interessantes Artefakt gesellschaftlicher Trends. In meiner Kindheit wurde das immer als super wichtig und gesund gepusht, das macht niemand mehr.

p) Why Biden isn’t getting credit for crushing inflation.

q) Texas governor pardons racist murderer. Das ist so, so krass.

r) Kolumne zur Kampagne gegen das Verbrenner-Aus. Mich wundert ja echt, wie 2024 noch sowohl CDU als auch Springer so blöd sein können, Online-Umfragen zu schalten und sich dann zu wundern, dass da nur Mist rauskommt. So inkompetent agiert normalerweise eher das Grünen-Wahlkampfteam.

s) Essay von Bernd Ulrich zur Klimakrise.

t) Die Zeit hat einen kleinen Essay zu Donald Ducks 90. Geburtstag.


Fertiggestellt am 09.06.2024

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