Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal komplett zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.
Fundstücke
Der Artikel analysiert die politische Landschaft in Polen nach den Wahlen, bei denen die rechtspopulistische PiS-Partei die meisten Sitze gewann, aber keine Koalition bilden konnte. Die Autoren argumentieren, dass der Sieg der Demokratie über den Populismus nicht das Ende des Kampfes markiert, sondern den Beginn eines Prozesses. Sie prägen den Begriff "Post-Populismus", um zu betonen, dass selbst nach dem Ausscheiden von Populisten aus dem Amt ihr Erbe in Form bestimmter Regierungsmethoden fortbesteht. Die Autoren verwenden Israel als Beispiel und zeigen, dass die neue Regierung, obwohl sie sich als anti-populistisch präsentiert, bestimmte populistische Mechanismen beibehält, wie die Spaltung in "wir gegen sie" und die Veränderung von politischen Regeln. Die Schlussfolgerung warnt davor, den Wahlsieg als das Ende des Populismus zu betrachten und betont, dass tiefere gesellschaftliche Probleme weiterhin bestehen. (Yaniv Roznai/Amichai Cohen, Verfassungsblog)
Überhaupt keine Frage. Dasselbe Phänomen sehen wir ja beispielsweise auch in den USA. Die Fäulnis, die durch die Machtübernahme von Rechtspopulisten entsteht, ist ja tief in den Strukturen. Einerseits durch das Personal, das die Leute in wichtige Positionen bekommen haben, und andererseits durch strategische Entscheidungen, etwa wo Mittel hinfließen, welche Abteilungen abgeschafft oder gestärkt werden, etc. Das Personal ist häufig genug für lange Zeiträume fest in der jeweiligen Position (man denke an Richter*innen in den USA oder die Beamt*innenstruktur in Deutschland) und hat selbstverständlich dieselben Arbeitnehmendenrechte wie alle anderen auch, weswegen es nur schwer wieder aus dem System zu bekommen ist.
Die Strukturen indessen sind aufwändig zu ändern, weswegen die Schwierigkeit einer Wiederherstellung liberal-demokratischer Verhältnisse umso schwieriger ist, je länger die Populisten an der Macht waren. Einem Staat wie Alabama oder Louisiana eine funktionsfähige Verwaltung zu geben ist wesentlich schwieriger als in Massachussetts. Die Zerstörung ungenehmer Regierungsfunktionen - etwa die Abschaffung von Gleichstellungsbehörden, nur um ein Beispiel zu nehmen - erfordert ungleich mehr und längere Wiederaufbauarbeit. Dysfunktionale Polizeibehörden sind schwieriger zu rekonstruieren als solche, die "nur" eine Legislaturperiode andere Prioritäten zugewiesen bekamen, etc. Ironischerweise haben die "Defund the Police"-Radikalen das durchaus erkannt, wenngleich ihr Lösungsansatz ebenso kontraproduktiv wie illusorisch ist. Siehe auch Fundstück 5.
Der Artikel thematisiert die Aussage von Joe Biden, dass die "amerikanische Führung die Welt zusammenhält". Der Autor argumentiert, dass diese Vorstellung, die tief in der US-Politik verwurzelt ist, metaphysisch und selbsttäuschend sei. Er kritisiert die Idee, dass die Welt ohne amerikanische Führung auseinanderfallen würde, und betonen, dass Amerika selbst nicht in einem einheitlichen Zustand sei. Trotzdem wird anerkannt, dass die USA eine bedeutende Rolle in der Weltordnung spielen, insbesondere im Finanzsystem und durch militärische Ausgaben. Der Artikel hebt hervor, dass die Rhetorik von Biden und Blinken in erster Linie an Amerikaner gerichtet ist, insbesondere als Reaktion auf die Wahrnehmung von Trump als chaotische Kraft. Der Autor kritisiert auch die US-Blockade in den UN-Verhandlungen über den Klima-Verlust- und Schadensfonds, was darauf hinweist, dass die USA als Störenfried agieren, anstatt zur globalen Zusammenarbeit beizutragen. Der Artikel schließt mit der Frage, wie eine Welt funktionieren kann, in der die USA eine desorganisierende Rolle in bestimmten Bereichen spielen, während sie in anderen eine ordnende Funktion haben. (Adam Tooze, Chartbook)
Ich finde zwei Aspekte an diesem Artikel besonders bedenkenswert. Aspekt Nummer 1 ist, dass die meiste Außenpolitik von westlichen Staaten auf den innenpolitischen Konsum gerichtet ist, was glaube ich auch Branko Milanovics vernichtendes Urteil erklärt. Ich glaube nicht, dass das jemals im Grundsatz anders war, aber zumindest gefühlt ist das schlimmer geworden. Solche Rückkopplungen zwischen Innen- und Außenpolitik bestimmen ja auch viel von der Dynamik des aktuellen Gazakriegs. In demokratischen Gemeinwesen scheint mir da kaum ein Weg drumherum zu führen, und Diktaturen müssen zwar vielleicht nicht mit einer pluralen Öffentlichkeit, aber dafür mit den Argusaugen ihrer jeweiligen Nomenklatura rechnen. Von diesen Erwägungen ist niemand frei.
Der zweite Aspekt ist die Rolle als "spoiler", die Tooze den USA gerade in Klimafragen zuschreibt. Seine Logik bezüglich der verschiedenen Machtblöcke finde ich überzeugend, vor allem, dass ein "neuer Kalter Krieg" in Klimafragen unter diesen Umständen die zweitbeste und vermutlich erreichbarste Lösung wäre. Wenn wir eine Art Wettkampf von Systemen darum hätten, wer am effektivsten das Klima schützt, wäre das mit Sicherheit ein Pluspunkt.
3) The Republican Party’s Culture of Violence
Die republikanische Konkurrenz um den Sprecher des Repräsentantenhauses hat eine neue Phase erreicht, nachdem der Abgeordnete Jim Jordan aus Ohio aus dem Rennen ausgeschieden ist. Neun Männer haben sich zur Wahl gestellt; der Abgeordnete Tom Emmer aus Minnesota ist derzeit der scheinbare Favorit. Von den neun haben sieben für die Anfechtung der Präsidentschaftswahl 2020 gestimmt. Bevor dieses Rennen in die Analyse übergeht, sollten die erstaunlichen Geschichten über die Bedrohungen gegen republikanische Gesetzgeber während Jordans kurzer Kandidatur überprüft werden. Trotz Jordan's Ablehnung solcher Taktiken geben einige seiner Kollegen ihm die Schuld. Die Drohungen während Jordans Kandidatur bestätigen, dass Trumps MAGA-Loyalisten eine gewalttätige Bewegung bilden, die keine demokratische Auseinandersetzung verlieren will, selbst nicht gegen Mitglieder der eigenen Partei. Einige dieser Drohungen können als Ergebnis der Technologie abgetan werden, aber in der Ära Trump sind Drohungen zu einem alltäglichen Bestandteil der amerikanischen Parteipolitik geworden. Trump und seine Anhänger haben diese Verhaltensweisen nicht nur modelliert, sondern auch gerechtfertigt. Es ist besorgniserregend, dass eine bedeutende politische Partei von Paranoia und Gewalt erfasst wurde. Republikanische Gesetzgeber, die während Jordans Kandidatur Bedrohungen erhielten, zeigen sich besorgt, aber es bleibt unklar, wie sie darauf reagieren werden. Es könnte sein, dass die Verhaftungen und Verurteilungen für den Sturm auf das Kapitol am 6. Januar ihre Wirkung zeigen und solche Täter zur Rechenschaft gezogen werden. (Tom Nichols, The Atlantic)
Ich will mich gar nicht groß damit aufhalten zuzustimmen, dass politische Gewalt für die GOP mittlerweile weithin akzeptabel ist, sofern sie sich nicht gegen ihre eigenen Leute richtet. Vielmehr scheint mir auffällig, dass diese Kultur politischer Gewalt in den USA tief verankert ist. Mir war das bis zur Lektüre von "The Field of Blood" (hier kurz angerissen) auch nicht klar. Aktive Gewalt gehört quasi zur politischen DNA der Amerikaner. Das begann bereits beim Terror gegen Gegner der Unabhängigkeit in den 1770er Jahren, es zog sich über die im verlinkten Buch beschriebene Gewalt der Democrats gegen die Whigs im Kongress im 19. Jahrhundert, ging zum Terror des KKK während der Reconstruction, dann zu den Lynchings in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts über. Kein demokratisches Land verzeichnet so viele Attentatsversuche auf hochrangige Politiker*innen wie die USA. Diese Gewalt ebbt auf und ab, und gerade scheinen wir wieder in einem Aufschwung zu sein.
4) Spahn für "Gewalt" bei irregulärer Migration
Der CDU-Politiker Jens Spahn hat Bundeskanzler Olaf Scholz' Äußerungen zur Migrationspolitik kritisiert und betont, dass der Schlüssel nicht nur in der Rückführung, sondern vor allem in der Begrenzung irregulärer Migration liege. Spahn sprach sich sogar dafür aus, "irreguläre Migrationsbewegungen" notfalls "mit physischer Gewalt" zu stoppen. Diese Aussagen erfolgten als Reaktion auf Scholz' jüngste Erklärungen, in denen er betonte, dass Personen ohne Bleibeperspektive "mehr und schneller abgeschoben" werden müssten. Spahn hob hervor, dass die zentrale Komponente einer Migrationsstrategie die Begrenzung illegaler Migration an den EU-Außengrenzen sein müsse. Die Bundespolizei hat bereits mit stationären Kontrollen an den Grenzen zu Tschechien und Polen begonnen, um Schleuserkriminalität und irreguläre Migration einzudämmen. (ZDF)
Dieser Komplex ist ein hervorragendes Beispiel für das, was ich die Sackgasse in der Migrationspolitik nannte. Denn ja klar, Europas Grenzen werden dichtgemacht werden. Da bin ich völlig bei Spahn und Konsorten. Das Thema scheint mir auch weitgehend durch zu sein. Allein, was Spahn hier proklamiert, oder was Scholz' Spiegel-Titel von wegen "Wir müssen endlich in großem Stil abschieben" getan hat, ist ein Überbietungswettbewerb in harter Rhetorik, den nur AfD gewinnen kann. Denn alle demokratischen Parteien haben das Problem, dass diese markigen Sprüche keine Entsprechung in der Realität finden können. Wenn wir nämlich in der Lage wären, Leute mit rechtmäßigem von Leuten mit unrechtmäßigem Asylanspruch direkt an der Grenze zu unterscheiden, so dass wir wie von Spahn gefordert gegen Letztere Gewalt anwenden könnten...dann müssten wir keine Gewalt anwenden, weil wir dann ziemlich leicht Aufnahmeprozesse einrichten könnten, die ersteren Zutritt gewähren. Das Problem ist ja gerade, dass wir das NICHT können, weswegen Spahns Forderung entweder hohle Rhetorik ist (das bessere Szenario) oder ein Aufruf zur Missachtung der Menschenrechte (leider auch möglich).
Dasselbe gilt für die nun beliebten Forderungen, diese Abschiebe- und Gewaltfantasien mit Sanktionen gegen antisemitische Haltungen zu verknüpfen. Die rechtliche Lage ist kompliziert, und entweder man schafft den Rechtsstaat auf diesem Gebiet einfach ab (kein unrealistisches Szenario angesichts der aktuellen politischen Diskurse) oder man rennt immer in das Problem, dass die markige Rhetorik, ich sage es noch einmal, keine Entsprechung in der Realität finden kann. Wie das Andreas Bernard in der Süddeutschen ausdrückt: "Eine neue Empathielosigkeit in Flüchtlingsfragen scheint zur rhetorischen Trophäe zu werden, die der weitverbreiteten Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern der Hamas, in Neukölln und anderswo, letztlich in nichts nachsteht." Der Handlungsdruck der Politiker*innen schlägt sich angesichts der weitgehend festgefahrenen politischen Situation in rhetorischen Volten nieder, gepaart mit einem vulgären Verständnis der jüngeren Migrationsgeschichte, wie dieses Interview mit Patrice Poutros schön darlegt. Auf die Art macht man alles schlimmer, ohne dass irgendwo Besserung eintritt.
5) Mein rechter, rechter Platz ist frei
Im Bundestag spielt sich regelmäßig ein kaum beachtetes Ritual ab, bei dem die Parteien über die Besetzung des Präsidiums entscheiden. Die AfD wird dabei systematisch von den anderen Fraktionen ausgeschlossen, auch wenn sie regelmäßig Kandidaten nominiert. Der Artikel stellt die Frage, ob es undemokratisch ist, einer demokratisch gewählten Partei das Recht auf einen Vizepräsidenten zu verweigern. Der Politiker Martin Renner von der AfD wird als aktueller Kandidat vorgestellt, und es wird darauf hingewiesen, dass die Partei vom Verfassungsschutz als rechtsextremistischer Verdachtsfall eingestuft wird. Die Abgeordneten anderer Parteien äußern Bedenken und betonen, dass sie keine Vertreter rechtsextremer Positionen im Präsidium haben wollen. Der Artikel endet mit der Feststellung, dass die Macht eines Bundestagsvizepräsidenten begrenzt ist und dass die Demokratie aushalten muss, auch wenn eine solche Position von der AfD besetzt wird. (Mark Schieritz, ZEIT)
Ich tue mich mit dieser Frage sehr schwer. Es erinnert mich an die Debatte, wie wichtig die Besetzung eines Landratspostens durch die AfD in Thüringen ist. Klar, genauso wie der Bundestagsvizepräsident hat ein Landrat erstmal vergleichsweise wenig Gestaltungsmacht. Aber es gilt, was ich in Fundstück 1 besprochen habe: die Fäulnis setzt sich über lange Zeit fest. In diesem Falle stehen zwei schlechte Ergebnisse gegeneinander: einerseits der Bruch demokratischer Gepflogenheiten, dass jede Partei einen Bundestagsvizepräsidenten bekommt. Andererseits aber kann man keine Demokrateifeinde an entscheidende Schaltstellen der Demokratie lassen, selbst wenn sie (scheinbar) nur weitgehend symbolische oder verwaltende Funktion haben. Systemzerstörer nutzen systemische Mittel systemfremd, und diejenigen, die sich systemkonform verhalten, können sich diese Anwendungen oft nicht vorstellen und werden dann eiskalt überrascht. Zudem gibt es hier einen Präzedenzfall: der LINKEn wurde seinerzeit die Wahl Biskys auch vorenthalten; erst, als sie mit Petra Pau eine Kandidatin ohne Stasi-Vergangenheit aufstellte. Niemand hält die AfD davon ab, zweifelsfrei demokratische Kandidat*innen vorzuschlagen. Dass sie das nicht tut oder sich dessen unfähig zeigt, lässt tief blicken.
Resterampe
a) Ich weiß nicht, wie mich diese "cui bono"-Erklärungen für den Aufstieg der Rechten in den Talkshows überzeugen. Die Dinger leben von Quote, und diese Leute bringen Quote. So generieren die Talkshows Relevanz, und Relevanz ist der einzige Grund, warum es sie in dieser Form gibt.
c) Yep.
d) Welt Top: Stellung gegen Antisemitismus beziehen. Welt Flop: Das Ganze mit Hetze gegen nicht genehme Intellektuelle kombinieren.
e) Retrospektive auf die hessische LINKE.
f) Ich teile die Stoßrichtung, aber ich bin immer superskeptisch bei Rufen nach Strafverschärfung.
g) Wie man Terror entschuldigt.
h) Ein weiterer Artikel zum Thema Antisemitismus.
i) Zwei Wege, wie man mit der Rettung eines Luftfahrtunternehmens umgehen kann.
j) FFF hat so fertig. Scheißladen.
k) Was bedeutet Social Media 2023 für Jugendliche?
l) Sehr, sehr lesenswerter Essay zum Nahostkonflikt in der ZEIT.
m) Großartiger Artikel über die linke Sprachlosigkeit gegenüber Israel.
n) Nicht nur die Letzte Generation, auch FFF beweist in Deutschland wesentlich mehr Haltung und Integrität als in anderen Ländern.
o) Faszinierende Analyse, ob die israelische Strategie der Abschreckung erfolgreich ist. Siehe dazu auch dies.
p) In der Zwischenzeit fällt Merz nichts Besseres ein, als für jedes Problem Migration verantwortlich zu machen. Was für eine armselige Pfeife.
q) Auch Toyota steigt aus Wasserstoff aus. Das Thema ist zumindest für Privat-PkW durch. Und für Privatheizungen auch, by the way.
r) Die Rufe nach einer Kriminalisierung propalästinensischer (oder Pro-Hamas-) Äußerungen gerade sind auch etwas verstörend.
s) Interessanter Hintergrundartikel zum Verhältnis von Indien und Israel.
t) Richtig und falsch zugleich.
u) The Decolonization Narrative Is Dangerous and False.
Dir gefällt, was Stefan Sasse schreibt?
Dann unterstütze Stefan Sasse jetzt direkt: