Zwischen den Unerfreulichkeiten des Alltags gerät ein simpler, aber wichtiger Umstand schnell in Vergessenheit: Wir gehören zu den Menschen mit dem meisten Glück der Menschheitsgeschichte.

Dankbarkeit ist ein mehrdeutiger Begriff.

Er bezeichnet einerseits eine Empfindung zwischen Erleichterung und Zuneigung, die wir spüren, wenn zum Beispiel dringend benötigte Hilfe angeboten wurde, jemand ein Problem für uns gelöst oder es sich von allein aufgelöst hat.[1]

Diese Dankbarkeit ist genauso ein passives Ereignis in uns wie andere Emotionen auch: Sie wird uns zuteil, wenn die Umstände sie hervorrufen.[2]

Dankbarkeit ist andererseits aber auch die Bezeichnung für eine aktive Praxis: Für das gezielte Suchen nach großen und kleinen Gründen für Zufriedenheit mit der eigenen Lebenssituation.

Diese zweite, bewusste Art von Dankbarkeit soll heute Thema sein.

Foto von Nathan Dumlao / Unsplash

Die kleinen Freuden

Wer - wie ich in der diesem Newsletter angeregt habe - einen methodischen Jahresrückblick vornehmen möchte, wird auf der Suche nach Vorlagen und Inspiration kaum eine Reflektionsfrage so häufig vorgeschlagen bekommen wie diese:

Wofür bist du dieses Jahr dankbar?

Wie ich in meiner letzten Mail darzulegen versucht habe, kann sich eine ausführlichere Jahresabschluss-Reflektion lohnen.

Aber für den einen oder die andere ist eine täglich oder wöchentliche Dankbarkeits-Reflektion womöglich der lohnenswertere Ansatz.

In dem lesenswerten Essay “On Becoming Grateful” schlägt Bullet Journal-Erfinder Ryder Carroll Folgendes vor:

Schreibe einen Monat lang jeden Tag eine Sache auf, für die du dankbar bist.

Hast du das einen Monat lang durchgehalten, erhöhst du auf zwei Einträge pro Tag, einen weiteren Monat später eventuell auf drei Einträge.

Wichtig dabei: Es geht darum, über einen gewissen Übungszeitraum hinweg ein eigenes System zu entwickeln, eine eigene Frequenz und ein eigenes Format zu finden. Entscheidend ist, dass du regelmäßig über deine Dankbarkeit schreibst und die positiven Auswirkungen davon tatsächlich registrierst.

Der rationale Sinn einer solchen sehr regelmäßigen, aber dafür kleinteiligen Reflektion über die erfreulichen Momente und Dinge in unserem Leben ist das Anstrampeln gegen eine unheilige Allianz aus zwei kognitiven Verzerrungen:

  1. negativity bias: Negative Erfahrungen und Beobachtungen haben eine stärkere Auswirkung auf unser Wohlbefinden und unsere Sichtweisen als positive.
  2. confirmation bias (deutsch: Bestätigungsfehler): Für alle unsere Sichtweisen oder Annahmen - auch für die aus Angst oder Verärgerung geborenen - sehen wir überall Bestätigungen, blenden Gegenbeispiele aber aus und nehmen Gegenargumente nicht an.

Ohne Gegengewicht kann diese Schlagseite des menschlichen Denkens in einen Abwärtsstrudel führen. Ein unerfreuliches Ergebnis kann ein Zustand sein, den Carroll “Anti-Dankbarkeit” nennt: Man findet dann sogar in positiven Momenten etwas Schlechtes.

The difference between a grateful and an ungrateful person isn't attitude, or character, or kindness. It's awareness. Whether it's due to indifference or obliviousness, the ungrateful simply aren't aware of the good. […]
(aus “On Becoming Grateful”)

Ein eher emotionaler Grund für eine solche bewusste Praxis liegt darin, nicht nur ein Mensch zu sein, der gelegentlich Dankbarkeit empfindet, sondern einer, der von Dankbarkeit erfüllt ist.

Der Unterschied ist nicht rein rhetorischer Natur: Jeder (gesunde) Mensch ist in der Lage, in konkreten Situationen ein Gefühl der Dankbarkeit zu durchleben.
Es ist etwas völlig anderes, Dankbarkeit für die eigene Lebenssituation zu einem Kernbestandteil der eigenen Weltsicht gemacht zu haben.

Daher die (wissenschaftlich gestützte [3]) Empfehlung, regelmäßig nach immer neuen Dingen im eigenen Leben zu suchen, für die man ehrlich dankbar ist.

Das können auch vermeintliche Kleinigkeiten sein:

Der Duft von frisch gebackenem Brot. Kinderlachen. Eine wunderbare Unterhaltung mit einem guten Freund. Ein Moment des Innehaltens im Sonnenschein.

Celebrating the sunset
Foto von Debby Hudson / Unsplash

Es kostet nicht viel Aufwand, jeden Tag mindestens eine Kleinigkeit zu vermerken, die ein Gefühl von Dankbarkeit hervorruft.

Aber die längerfristigen positiven Auswirkungen einer solchen regelmäßigen Praxis können erheblich sein. [4]


Die Vogelperspektive

Eine zweite Quelle für mehr Dankbarkeit liegt in der entgegengesetzten Richtung: Im Herauszoomen aus dem Alltag und dem Blick über den geografischen Tellerrand.

Die eigene Lebenssituation in ein größeres Gesamtbild einzuordnen rückt so manches Ärgernis des Alltags ein Stück weit zurecht (Stichwort: first world problems).

Man kann durchaus aus dem Blick verlieren, wie gut man es eigentlich hat - und wie schlecht man es haben könnte, hätte der Zufall einem nicht den Jackpot in der Lotterie von Geburtsort und -zeit zugespielt.

“[I]t's easy to take our fortune for granted. When good becomes the new normal, we've become ungrateful.”
(aus “On Becoming Grateful”)

Ich finde es daher richtig, gerade rund um Weihnachten - zwischen viel zu viel Essen, jeder Menge Geschenken und einigen Gelegenheiten zum Ausschlafen - darüber nachzudenken, dass unser akutes Problem womöglich verbale Gefechte mit einem Verwandten sind, während zwei Länder weiter militärische Gefechte toben.5

Dieses kurze Video von Sam Harris bietet eine moderierte Suche nach Dankbarkeit aus der Vogelperspektive. Ich habe mir erlaubt, den Text frei zu übersetzen:

“Mindestens eine Milliarde Menschen auf der Erde würden ihre Gebete als erfüllt betrachten, könnten sie den Platz mit dir tauschen.

Mindestens eine Milliarde Menschen auf der Erde leiden unter lähmenden Schmerzen oder politischer Unterdrückung oder akuter Trauer.

Deine Gesundheit zu haben, zumindest einigermaßen;
Freunde zu haben, wenn auch nur einige wenige;
Hobbys oder Interessen zu haben, und die Freiheit, ihnen nachzugehen;
diesen Tag frei von irgendeiner fürchterlichen Begegnung mit Chaos verbracht zu haben;

all das bedeutet, dass man zu den Glücklichen gehört.

Sieh’ dich um und nimm dir einen Moment, um zu erspüren wie viel Glück du tatsächlich hast: Du kannst einen weiteren Tag auf diesem Planeten verbringen.

Genieße ihn.”

Fußnoten/Anmerkungen:

  1. Dankbarkeit der letzten Art ist besonders interessant: Wem sind wir dankbar, wenn ein Problem von allein verschwindet? Dem Universum?
  2. Manche Emotionen - am relevantesten wohl Wut oder Groll - haben von sich aus eine sehr viel kürzere Lebensdauer, als man meinen könnte. Wir selbst fachen diese immer kleiner werdende Flamme in uns erneut an, indem wir die Situation immer und immer wieder gedanklich durchspielen, die uns initial wütend gemacht hatte.

    Aber selbst dann ist die emotionale Reaktion selbst eine passive Folge der Umstände - in diesem Fall unserer Gedankenkreise und Selbstgespräche.
  3. “Gratitude […] has been associated with better physical and mental health parameters, both in healthy and sick populations.” (Quelle)

    “participants in the gratitude condition reported significantly better mental health than those in the expressive and control conditions” (Quelle)
  4. Zwei Empfehlungen als Starthilfe:

    Wer es analog mag, kommt mit jedem einfachen Taschenkalender aus. Aber natürlich gibt es unzählige vorgefertigte Gratitude Journals. Ich persönlich finde das “Some Lines A Day”-Journal charmant, das einen Zeitraum von fünf Jahren abdeckt.

    Für ein digitales Tagebuch - und damit auch für ein Dankbarkeits-Journal - ist die App “Day One” hervorragend geeignet. Die App “3 Good Things” braucht keinerlei Anmeldung und enthält keine Werbung, sondern lediglich Platz für (bis zu) drei Einträge pro Tag.
  5. Zwei Anmerkungen dazu:

a) Wenn man es mit dem Herauszoomen und big picture thinking übertreibt, kann das so wirken, als würde man die Sorgen und Nöte der Menschen um einen herum nicht ernst nehmen oder herunterspielen.

Natürlich verschwinden unsere Probleme durch den Zoom auf die globale Ebene nicht, und in vielen Fällen der alltäglichen Herausforderungen sind Ärger oder Entrüstung sicherlich gerechtfertigt.

b) Für manchen mag sich der moralisch aufgeladene Scheinwerferstrahl auf Dinge, für die man eigentlich dankbar zu sein hätte, wie ein Vorwurf anfühlen.
Keine Dankbarkeit für Selbstverständlichkeiten wie warmes Wasser in beliebiger Menge, Strom oder eine zuverlässige Internetverbindung zu empfinden, macht einen nicht zu einem schlechten Menschen. Es zeigt lediglich, dass man (dankenswerter Weise) keine genaue Vorstellung davon hat, wie es einem ohne solche Annehmlichkeiten gehen würde.


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