Opernkritik: die Oper von Sergej Prokofiew passt genau in unsere Zeit. Leider wurde in Salzburg zu wenig daraus gemacht.
Der Roman „Der Spieler“ markiert einen Extrempunkt in Dostojewskis Werk. Nach „Schuld und Sühne“ entstanden, dem Ausgangspunkt von Dostojewskis an Dantes „Commedia“ angelehnten Läuterungsweg, bildet der Roman eine Station in den Tiefen des Inferno. Er korrespondiert in gewisser Weise mit Dantes Höllenkreis der „incontinentia“, in dem unter anderem die „Francesca da Rimini“ Episode steht. Jene Spielsucht des Protagonisten Alexej, an der auch Dostojewski selber litt, steht exemplarisch für jene Sünde der mangelnden Selbstkontrolle.
Was an diesem Roman tatsächlich irritiert, ist der unverhohlene Zynismus. Ein Zynismus, der, anders als in den anderen späten Romanen, eben nicht konterkariert und in Spannung gesetzt wird mit idealistischen, sozialen und religiös emphatischen Motiven. Es ist als ob sich Dostojewski noch ein letztes Mal in die eigenen inneren Abgründe stürzte, bevor er sich auf den schmerzhaften Pfad der Läuterung begab.
Dostojewskis Welt
Natürlich ist „Der Spieler“ in diesem Kontext eine Parabel über Macht und Einfluss, über Gewalt und Eros. Doch gleichzeitig bildet der Roman, 1866 entstanden und im folgenden Jahr erschienen, die Machtverhältnisse seiner Zeit ab.
Der Marquis des Grieux repräsentiert Frankreich, eine Weltmacht im Abstieg, die wenige Jahre später, 1870, von Deutschland als kontinentalem Hegemon abgelöst werden wird. Insbesondere dass er Spekulant ist – er leiht dem finanziell in Bedrängnis geratenen russischen General unter horrenden Bedingungen Geld, in der Hoffnung auf das Erbe von dessen steinreicher Tante – ist charakteristisch für ein Land in der ökonomischen Spätphase, in der nur noch mit den Hebeln der Spekulation signifikante Gewinne zu machen sind.
Gleichzeitig bestimmte das Französische immer noch die Kultur Europas, als lingua franca (im Roman wird immer wieder ins Französische gewechselt) und in der Ausrichtung nach Paris als kulturellem Gravitationszentrum. Doch auch im savoir vivre und den modischen Paradigmen. Gerade für Polina strahlt des Grieux immer noch eine entsprechend aufgeladene Attraktivität eines Weltmanns aus.
England war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts das reichste Land der Welt und Mister Ashley ist mit jenem britischen Understatement des Superreichen verknüpft. Deutschland wiederum war im Begriff zur Weltmacht aufzusteigen und ist der Neureiche noch ohne distinkte mondäne Identität, repräsentiert durch das Ehepaar Würmerhelm.
Auch Russland war eine Weltmacht im Aufstieg, doch durch die gesellschaftlichen Reformen, allem voran die Abschaffung der Leibeigenschaft 1861, gewaltigen sozialen Verwerfungen ausgesetzt. Zahlreiche adelige Familien verloren ihr Vermögen während gleichzeitig durch den Abbau von Rohstoffen, insbesondere der Kohle als Motor der Gründerzeit, fantastische neue Vermögen entstanden. Der russische General repräsentiert eben jenen alten Militäradel, der von altem Reichtum zehrt und gleichzeitig hofft durch Geschäfte mit den neuen Aufsteigern seinen Status halten zu können, wobei seine Geliebte Blanche gleichzeitig Gradmesser seines virilen als auch sozialen Status ist.
Neben Dostojewskis eigenen Psychopathologien, jener von der Epilepsie amplifizierten Spielsucht, steht das Kasino Roulettenburg gleichzeitig für jene Welt des entfesselten Kapitalismus, getrieben von Spekulation und Gier. Und wie sich diese Gier mit sexuellem Begehren und narzisstischen Identitätskämpfen zu einem bunt schillernden Fiebertraum vermischt.
Prokofiews Welt
Knapp 50 Jahre später, als Prokofiew zwischen 1915 und 1917 an der Oper schrieb, war die Welt erneut in Aufruhr. Wie 1861 in Russland verspätet das feudale 18. Jahrhundert untergegangen war, so ging mit der russischen Revolution 1917 die bürgerliche Welt des 19. Jahrhunderts unter. Proust in Paris, Musil in Wien und Boris Pasternak in Russland waren die neuen Chronisten eine Welt, die in einem Kataklysmus umgewälzt wurde.
Die Rollen hatten lediglich gewechselt. Deutschland und England waren die Nationen im Abstieg und Amerika die noch gesichtslose aufsteigende neue Weltmacht. Und Russland vollendete sein Schicksal, in dem es sich vollends in das von Dostojewksi bereits vorausgeahnte Chaos stürzte.
Prokofiew hatte durchaus den richtigen ästhetischen Instinkt als er sich dieses Stoffes annahm. Dass die Oper erst viel später 1929 aufgeführt werden konnte, hatte vor allem äußere Gründe, da während und nach dem ersten Weltkrieg an aufwändige Operninszenierungen nicht zu denken war. Sie ist durchaus ein Geniestreich, in dem sich jugendlicher Übermut (Prokofiew war erst Mitte 20) mit dem Lärm des Zeitgeistes zu einer faszinierenden Symbiose zusammenfanden.
Prokofiews große Stärke ist das Atmosphärische. Oft gelingt es ihm Stimmungen und Lebensgefühl magisch auf einen musikalischen Nenner zu bringen. Wie er etwa in der orchestralen Einleitung die stampfend übermütige Virilität des auftrumpfenden Orchesterapparats mit einem choralartigen Thema, das gleichermaßen Bangigkeit und Panik vermittelt, virtuos vermischt, ist durchaus großartig. Die spätimpressionistische polytonale Harmonik und die für Prokofiew typischen brutal pulsierenden Rhythmen vermittelt sehr gut dieses Lebensgefühl einer von Maschinierung aufgerüsteten und moralisch aus den Fugen geratenen Welt.
Dass sich trotzdem keine seiner Opern wirklich im Repertoire etabliert hat, ist einerseits sehr schade, da alle voll sind von solch höchst eindrücklichen genial atmosphärischen Fundstücken. Doch gleichzeitig auch verständlich da Prokofiew kein genuiner Musikdramatiker war. Solche denken die Musik von den Figuren her, während andere Komponisten die Figuren in ihre Musik einfügen. So auch Prokofiev. Dass umgekehrt seine Ballettmusiken sich etabliert haben, liegt eben daran, dass dieses Verfahren diesem Genre angemessen ist.
Peter Sellars Welt
Der amerikanische Regisseur der Salzburger Neuinszenierung Peter Sellars hat diese epochale Parallelität von Dostojewski und Prokofiew durchaus erkannt und in die Gegenwart extrapoliert. Sein Roulettenburg steht im heutigen Amerika mit cops und nurses und gemahnt durchaus zutreffend an Las Vegas. Und auch er sieht ganz klar in der Rouletteszene des letzten Aktes eine Allegorie auf den spekulativen Finanzkapitalismus unserer Tage, mit den technizistischen Zukunftsverheißungen von künstlicher Intelligenz und ökologischem Raubbau.
Tatsächlich ist kein Geheimnis, dass sich die Welt von heute erneut in einer großen Umwälzung befindet. Mit den USA als Weltmacht im Abstieg, dem aufsteigenden, kulturell noch gesichtslosen China und den ängstlichen Europäern, die gleich dem General machtlos und verwirrt zwischen diesen Parteien stehen.
In zahlreichen aktuellen amerikanischen TV-Serien, von „Succession“ über „Yellowstone“ bis „The White Lotus“, lassen sich eben jene von Dostojewski beschriebenen Dynamiken der Dekadenz beobachten, wie Macht und Reichtum, und die Angst vor dem Verlust derselben, allmählich alle Hemmungen fallen lässt und die Welt sich wieder in Schafe und Wölfe teilt.
Macht und Eros
Die drei weiblichen Hauptfiguren in „Der Spieler“ sind keineswegs nur Staffage sondern vitale Bestandteile des psychologisch mythischen Gefüges. Die Französin Madame Blanche ist in ihrer weiblichen und mondänen Attraktivität eine Helena Figur, die gleichzeitig Symbol für Status und Repräsentanz ist. Die sich jedoch vollkommen bewusst darüber ist, dass ihre Ausstrahlung eine Reflektion ist, die nach Macht und Geld als primäre Lichtquelle verlangt. Daher wendet sie sich ohne Umstände vom General ab und dem Fürsten Nilski zu als sich die Aussichten verschieben, ähnlich wie sich Helena von Menelaos abwandte und Paris zuwandte.
Polina ist nicht weniger berechnend. Doch während Madame Blanches Mittel der sexuelle Eros ist, operiert sie mit den Mitteln des narzisstischen Eros. Sind beim sexuellen Eros die finanziellen Interessen klar geregelt - die reichsten Männer haben die schönsten Frauen – ist beim narzisstischen Eros Macht und Geld Teil des Spiels.
Und so verwundert überhaupt nicht, dass es zwischen Alexej, Polina und dem Marquis vor allem darum geht, wer wem mit welchen Motiven Geld gibt, und wer wem dieses Geld mit Verachtung wieder ins Gesicht schleudern kann. Demütigung und Unterwerfung sowie Erhöhung und Idealisierung sind die eigentlichen Essenzen dieses narzisstischen Spiels. Bei Alexej vermischen sich diese erotischen Spiele mit dem kataklysmischen Charakter des Glücksspiels. Jenes alles auf eine Karte setzen und gewinnen ist der ultimative narzisstische Höhepunkt, der stellvertretend mit entsprechenden sexuellen Dominierungsdynamiken korreliert.
Polina verfügt als Raubtier auch über entsprechende Instinkte, etwa wenn sie das deutsche Ehepaar Würmerhelm für Alexejs Provokationen auswählt, in vollem Bewusstsein, dass diese mit ihrer Naivität leichte Beute sind.
Die Großmutter wiederum ist eine Juno-artige Figur, deren saturnalisch zerstörische Energien vor allem darauf gerichtet sind, die auf den finanziellen Transaktionen gebauten erotischen Beziehungen zwischen der Protagonisten aus persönlicher Eifersucht zu vernichten, um Polina, für die sie ganz offensichtlich ein Faible hat, für sich zu haben.
Verlorene kulturelle Relevanz
Leider erweisen sich moderne Operninszenierung inzwischen meist als Frusterlebnisse. Als sei man begriffsstutzig, wird einem alles vorgekaut dargereicht. Alle allergorischen Implikationen müssen aufgelöst und als „Deutung“ auf einem Tablett präsentiert werden. Der Text muss von den Sängern pantomimisch in Großbuchstaben übersetzt werden. Zur moralischen Beruhigung muss immer glasklar gemacht werden, wer die Opfer und Täter sind.
Es ist jedoch vor allem das aktionistische Herumgehampele von Sängern und Komparserie, mit dem viele Regisseure glauben ihre deutende Arbeit beglaubigen zu müssen, das einem nach einer Weile furchtbar auf die Nerven geht. Das schlimmste daran ist, dass den Sängerfiguren damit überhaupt kein Raum gelassen wird, durch Gesang und Haltung eine Aura zu entwickeln. Wenn man keine der Figuren wirklich ernst nehmen kann, wie sollen sich dramatische Konstellationen und psychologische Interaktionen überhaupt entwickeln.
Bereits an den Besetzungen merkt man, dass die Macher selbst eigentlich überhaupt kein Gespür dafür haben. Sean Panikkar singt ausgezeichnet ist aber als Alexej eine groteske Fehlbesetzung. Mit seiner Sunnyboy-Erscheinung nimmt man ihm die inneren Abgründe dieser Figur, die natürlich auch Dostojewskis eigene Abgründe waren, der Jahre im Gefängnis und der Verbannung hinter sich hatte, nicht eine Sekunde ab. Juan Francisco Gatell wirkt als Marquis des Grieux wie ein Kleinganove, wodurch er aller weltmännischen Aura beraubt wird. Im heutigen Kontext müsste er eigentlich eine George Clooney Figur sein. Auch Peixin Chen als General wirkt zu unspezifisch und wird zu sehr der Lächerlichkeit preisgegeben. Nur bei Michael Arivony passt die darstellerische Blässe auch zur Figur des Mr. Ashley.
Nicht ganz so trübe sieht es bei den weiblichen Darstellern aus. Nicole Chirka ist als Madame Blanche vermittelt sängerisch und persönlich durchaus die nötige Attraktivität. Und bei Asmik Grigorian spürt man eine darstellerische Ausstrahlung, die großes Potential gehabt hätte. Doch leider gibt es in der aktuellen Opernregie diesen zeitgeistigen Reflex aus allen weiblichen Rollen Opferfiguren machen zu müssen. Dabei ist sie am allerwenigsten das Opfer sondern das größte Biest in Dostojewskis Kosmos.
Das sängerische und orchestrale Niveau ist erwartungsgemäß sehr gut, der Dirigent Timur Zangiev hat das Orchester bestens präpariert. Doch während man heutzutage immer weniger falsche Töne und Unsauberkeiten hört, wird die klassische Musik gleichzeitig immer mehr von einem blutleeren Akademismus bedroht. Vom heißen Atem, der brutalen Schärfe und den narkotisierenden Delirien, die diese Musik durchglüht, ist leider nur wenig zu spüren.
Dramatische Kunst war schon immer eine große Herausforderung. Egal ob Theater, Oper, Kino oder Serie, die Vielzahl der Beteiligten und die Breite der Mittel sind immer mit zahlreichen Unwägbarkeiten verbunden. Auch in Kino und Fernsehen gibt es viel Mittelmäßigkeit und Ausschuss, doch scheint es häufiger zu gelingen, den Zeitgeist einzufangen und damit ein Publikum zu fesseln. Das scheint der Oper immer schwerer zu fallen, womit sie allmählich auch an Relevanz zu verlieren droht.
Photo credit: © SF/Ruth Walz