Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann.
Fundstücke
1) „Jahrhundertbeben“ in der Türkei: Es wird geforscht, gewarnt und ignoriert
Was nun laut übereinstimmenden Medienberichten zufolge herausgekommen ist: Fast 300.000 Immobilien in den zehn betroffenen Provinzen, die nicht den Bauschriften entsprachen, wurden in den vergangenen Jahren legalisiert. In der Türkei wird das als imar affı, also „Bauordnungsamnestie“, bezeichnet. Für eine entsprechende Gebühr konnten illegale Bauten also gleichsam freigekauft werden. Magisch erdbebensicherer wurden sie dadurch nicht. [...] Es wurde geforscht, in Fachkreisen diskutiert. Es wurde gewarnt. es wurden Fakten dargelegt. Es wurde dargelegt, was sich hätte ändern müssen.. Nicht allgemein, sondern spezifisch. All das wurde weitgehend ignoriert. Das ist nicht Schicksal. Es ist politisches Versagen mit vieltausendfacher Todesfolge. Es ist ein systemisches – mache sagen auch: ein Mentalitätsproblem. Dass die Beben die Auswirkungen haben, die jetzt sichtbar werden, ist das Resultat, wenn Wissenschaft ignoriert wird. Nicht nur ignoriert übrigens, nicht nur als störend empfunden, sondern von Regierenden als das Böse schlechthin betrachtet. [...] Die Türkei ist ein Erdbebenland. Das weiß man. Man wusste: Irgendwann kommt wieder ein schweres Beben. Man weiß: Es werden weitere Erdbeben folgen. Doch lebensrettende Geräte, Temperatur- und Geräuschsensoren, sie wurden großteils von Hilfsorganisationen anderer Länder mitgebracht. (Milay Cariskan, Tagesspiegel)
An solchen Stellen erkennt man immer wieder den Wert von Bürokratie. Klar nervt sie mit ihren ganzen Regeln und Dokumentationspflichten, aber wenn man eine korrupte, nicht richtig funktionierende Verwaltung hat, rächt sich das in Krisenzeiten schnell ganz brutal. Wir sollten uns im Übrigen nicht der Illusion hingeben, dass das ein rein türkisches (sprich: irgendwie vage ausländisches) Problem ist, das uns nicht treffen kann. Denn gewarnt werden wir ja auch ständig, nur um dann doch überrascht zu werden. Vom Fachkräftemangel über den Zustand der Bundeswehr bis zum Ahrtal reicht eine lange Schlange von Beispielen, und der Elefant im Raum - die Klimakrise - wird uns noch Probleme bereiten, die richtig massiv sind - weil wir jetzt nicht hören wollen.
CDU und SPD bedienen wie populistische Märchenerzähler den öffentlichen Raum mit dem Geraune von der Überwindung der Spaltung der Stadt, vom Mitnehmen aller und ihrer Interessen in die Zukunft. Genau betrachtet ist das aber nichts anderes ist als die verlogene Beschwörung des Status Quo. [...] Die Berliner Grünen haben gegen die auf Angst vor Veränderung setzende Strategie kein Mittel gefunden. Sie reden zwar von der ökosozialen Wende der Stadt, aber genau hingesehen haben sie keine nachvollziehbaren Ideen und pragmatischen Vorschläge dafür, wie die soziale und gesellschaftliche Infrastruktur der ökologischen Moderne in Berlin aussehen soll. [...] Die 18 Prozent Zustimmung, in die sich die Grünen hier seit Jahren eingemauert haben, belegen ein großes strategisches Defizit. Es besteht in der Illusion, dass sich der grüne Klumpen im Zentrum der Stadt von selbst ausweitet, wenn man sich auf ihn konzentriert. Im großen Rest der Stadt hat sich aber genau deshalb das Bild von den Grünen als einer öko-ideologischen und vor allem auf sich selbst fixierten Szenepartei weiter verfestigt. Das sieht man auch daran, dass die Grünen, anders als anderenorts, vom fortschreitenden Niedergang der SPD nicht profitieren. Ohne das ausgeweitete und pragmatische Tableau einer grünen Volkspartei haben die Berliner Grünen kaum realpolitische Perspektiven. Die 18,4 Prozent sind so gesehen die letzte Chance, sich zu besinnen. Das aber werden die Berliner Grünen sich allerstrengstens verbieten. (Udo Knapp, taz)
Ich bin echt kein Experte für die Berliner Innenpolitik, aber mein Eindruck ist immer mehr, dass Berlin schon irgendwie der deutsche Failed State ist. Wir sehen in Fundstück 4 auch noch mal einige Koalitionsspielchen, weswegen ich hier vor allem thematisieren will, wie fundamental festgefahren die Lage in Berlin zu sein scheint. Die Grünen hier gelten ja immer als abschreckendes Beispiel; ich setze sie rhetorisch ja auch gerne als Antithese der baden-württembergischen Grünen, um die Distanzen zwischen den Landesverbänden aufzuzeigen. Aber das gilt ja letztlich für alle Berliner Parteien zu einem gewissen Grad. Die FDP ist so disfunktional, dass sie nicht mal in den Landtag kommt, die CDU schafft es, sich als rechte Protestpartei zu inszenieren und die SPD läuft seit Jahren im "alles scheiße hier, aber das ist irgendwie cool"-Modus. Nicht mal die AfD kriegt ein Bein auf den Boden. Echt merkwürdiges Bundesland.
3) Repair, replace, reimburse: Sustaining a European tank coalition for Ukraine
The German defence industry will play a central role in sustaining Ukraine’s Leopard 2 fleet over the long run. Since European armed forces cut much of their heavy armour following the end of the cold war, European defence industry focused less on producing new vehicles than it did on maintaining and modernising existing stock and refurbishment for international sales. Governments, particularly Germany’s, will need to engage industry to increase production capacity. This is as true for tanks as it is for artillery munitions, cruise missiles, and air defence systems – everything under the sun. It will mean training engineers and mechanics, establishing supply chains for intermediate products and raw materials, and building new factories and storage facilities. Industry has some ability to finance investments out of its own pockets, as some companies have done since 24 February 2022. But for the large-scale expansion necessary to continue supporting Ukraine and rebuild European armed forces, sustained defence-spending increases and reliable long-term contracts are necessary. Only governments can ensure this. [...] The decision to purchase new Leopard tanks would commit its users to the platform for another 30 years – a step few governments take lightly, but one they should certainly consider. There are two caveats, however. The first is political: after all the tussle and delays with Berlin’s decision to make German-produced tanks available to Ukraine, would a purchase be too risky a bet in the ongoing highly volatile security environment? The counterpoint to this is that other suppliers come with their own baggage: Washington also hesitated to deliver armoured combat vehicles, there is no experience in trying to ship South Korean-produced weapons to Ukraine, and Israel refuses even a single Israeli-made weapon to be sent to Ukraine from European stockpiles. As frustrating as the Leopard 2 debate was, Germany has after all become the largest European supplier of military aid to Ukraine. (Gustav Gressel/Rafael Loss/Jana Puglierin, European Council on Foreign Relations)
Angesichts des Diskurses über die deutsche Ukrainekrieg-Politik - in der das Land von Verbündeten und Presse in Bausch und Bogen kritisiert wird, obwohl es eigentlich mehr tut als die meisten anderene Länder, die sich munter an der Kritik beteiligten - kann man sehr gut sehen, dass die deutsche Politik notorisch schlecht in der Selbstinzenierung ist. Vielleicht war das vor Merkel mal anders (ich glaube aber nicht), aber dieses Tiefstapeln und Klappe halten wächst sich langsam echt zum außenpolitischen Problem aus. Das hat die Bundesrepublik mit der EU gemein. Man sollte sich mehr dem Motto "Tue Gutes und rede darüber" darüber verschreiben. Wenn niemand weiß, dass du tolle Sachen machst, wird dich auch keiner dafür belohnen und du kriegst immer die Kritik ab. Ich bin schon lange der Überzeugung, dass die EU an jedes ihrer Förderprojekte in blaues Schild mit gelben Sternen "Sponsored by EU" tackern sollte, und so ähnlich müsste die Bundesregierung auch vorgehen.
4) Schwarz-Grün als Crashkurs für Berlin?
Während also in Schleswig-Holstein, in Nordrhein-Westfalen, Hessen und Baden-Württemberg routiniert schwarz-grün regiert wird, scheinen in Berlin zwei feindliche Kulturen einander gegenüberzustehen. Hier die Ökos, dogmatisch und lustfeindlich, unfähig zu regieren und angetrieben vom Willen, allen anderen das Leben schwer zu machen. Und dort die Spießer, böse und desinteressiert am Überleben ihrer Kinder und Enkel, beseelt vom Wunsch, für immer billiges Grillfleisch zu bekommen und mit ihren Autos die Luft zu verpesten. Vieles spricht dafür, dass das Projektionen sind, die beim gegenseitigen Kennenlernen verblassen würden. Manches spricht auch dafür, dass diese Beschreibungen die Wirklichkeit nicht ganz verfehlen – was erst recht ein Grund wäre, mit den Verhandlungen möglichst bald zu beginnen. Und dabei beide Positionen zu relativieren. [...] Schwarz-Grün in Berlin, das wäre vielleicht ein Crashkurs. Aber es wäre auch eine Chance. Beide Parteien müssten einander dabei helfen, endlich in der Gegenwart anzukommen. Dann würde Berlin womöglich doch noch eine moderne Stadt. (Claudius Seid, FAZ)
Die Entwicklung der Wahlergebnisse in den letzten Jahrzehnten in Berlin ist schon echt faszinierend. Von der Großen Koalition (korrupt bis ins Mark) zur Bastion von linken Bündnissen (disfunktional bis zur Karikatur) hat das Land schon alles durch. Wäre Schwarz-Grün eine Neuheit, die beide verbohrten Landesverbänden gut tun würde? Vielleicht. Würde das die Berliner Probleme lösen? Zweifelhaft. Wenn man mal 30 Jahre lang seine Verwaltungsstrukturen ruiniert hat, ist ein Umlenken ziemlich schwierig, und es ist ja nicht eben so als ob CDU und Grüne keine Verwurzelung in diesen Strukturen hätten. Ich bin außerdem nicht so hundertprozentig überzeugt, dass sich Gegensätze unbedingt anziehen. Denn die Milieus von CDU und Grünen in Berlin sind ja nicht komplementär wie etwa in Baden-Württemberg. Aber wer weiß, manchmal geschehen ja noch Zeichen und Wunder.
5) Den Wählerwillen gibt es nicht!
Das sollte man im Kopf haben, wenn man, wie es mit Blick auf die Wahl in Berlin gerade geschieht, argumentiert, die eine oder andere Koalitionsoption lasse sich mit dem Wählerwillen begründen. Denn den Wählerwillen gibt es nicht. Das gilt sogar für den einfachsten Fall einer absoluten Mehrheit für eine Partei. Wenn die CDU in Berlin 51 Prozent gewonnen hätte, dann könnte sie eine Regierung bilden. Aber wollen 51 Prozent der Wähler wirklich von der CDU regiert werden? Vielleicht findet ein Teil derjenigen, die der CDU ihre Stimme gegeben haben, das Programm und das Personal der CDU gar nicht so gut. Vielleicht wollten diese Wähler mit ihrer Stimmabgabe nur ihre Unzufriedenheit mit der Politik der SPD und der Grünen zum Ausdruck bringen. Vielleicht hätten sie anders gewählt, wenn sie gewusst hätten, dass die CDU allein regieren kann. Vielleicht auch nicht. Der Punkt ist: Man weiß es nicht. [...] Deshalb die These: Der Wählerwille ist als Argumentationsfigur Ausdruck eines vormodernen Denkens, das die Gesellschaft als eine Art harmonisches Großindividuum begreift. In der wird er von Politikern vor allem für die Rechtfertigung der eigenen Ambitionen benutzt. Doch was der Wähler wirklich will, das weiß nur der Wähler selbst. Und selbst wenn man es wüsste, würde sich daraus wegen der Problematik der Aggregation individueller Präferenzen wahrscheinlich kein klarer Regierungsauftrag ableiten lassen. In einer Demokratie sind die einzig gesicherten empirischen Grundlagen für Koalitionsverhandlungen die ausgefüllten Stimmzettel und das Mehrheitsprinzip. Alles andere ist Spekulation. (Mark Schieritz, ZEIT)
Heute haben wir echt "Vermischtes, Berlin-Wahl Edition". Aber das Geplapper um die Deutung der Wahlergebnisse ist mal wieder unerträglich. Ich bin völlig bei Schieritz und habe das im Umfeld der Wahl auch auf Twitter mehrfach kundgetan. Das Wahlergebnis diktiert keine Koalition und gibt niemandem einen "Regierungsauftrag". Dem Irrtum sitzt auch Söder auf, der gleich den ganz großen rhetorischen Hammer rausholt ("grobe Missachtung der Demokratie"), weil R2G grundsätzlich weiterregieren will. Wenn die drei Parteien eine Mehrheit haben, haben sie eine Mehrheit. Diese Tautologie des Politikbetriebes bleibt wahr, auch wenn sie für gefühlte Wahlgewinner immer schwer zu verdauen ist. Fragt mal Gerhard Schröder anno 2005.
6) Es geht um viel mehr als ein paar Euros
Die Streikenden und Demonstrierenden verlangen nicht weniger als Mitsprache. Mitsprache über ihre Löhne, aber auch über Arbeitsbedingungen, über die Regeln und Umstände, denen sie am Tag bis zu acht Stunden und mehr unterworfen sind. Sie wollen das Versprechen der Demokratie auf Teilhabe und Selbstbestimmung nicht nur an der Wahlurne einlösen, sondern auch in der Arbeitswelt. Ihre Gegner, die Mittelstandsunion oder die britische Regierung, wollen diese Teilhabe hingegen weiter einschränken. Merkwürdigerweise wird diese Dimension in der Öffentlichkeit nahezu völlig übersehen. Die Streiks und Demos werden, wenn sie überhaupt Aufmerksamkeit bekommen, gerade nicht als Auseinandersetzung um demokratische Verhältnisse in einem der wichtigsten Lebensbereiche gedeutet, sondern (vor allem im französischen Fall) als gestrige Folklore, bestenfalls noch als partikularistische Interessenkämpfe um Geld. Ist das nicht merkwürdig? Man sorgt sich ständig darum, wie demokratisch die Welt ist, aber jener Bereich, in dem Erwachsene einen großen Teil ihrer Lebenszeit verbringen, wird dabei meist ausgespart: Die Arbeitswelt ist der blinde Fleck der Demokratie. "Wie Arbeitgeber über unser Leben herrschen (und warum wir nicht darüber reden)" lautet der Untertitel eines Buches der US-amerikanischen Philosophin Elizabeth Anderson aus dem Jahr 2017. Anderson räumt darin mit der Vorstellung auf, dass schon ein liberaler Arbeitsmarkt, auf dem jede und jeder seine oder ihre Arbeitskraft frei verkaufen kann, die Selbstbestimmung der Menschen garantiere: "Man erzählt uns, dass wir die Wahl haben zwischen freien Märkten und staatlicher Kontrolle, während die meisten Erwachsenen ihr Arbeitsleben gänzlich unter etwas Drittem verbringen: der privaten Regierung." Privat heißt hier: Die Regeln, die die Firma setzt, sind der demokratischen Verhandlung gar nicht zugänglich, sie sind nicht Teil der öffentlichen Sphäre, sondern Privatsache des Unternehmens. So werden freie Bürgerinnen und Bürger, wenn sie die Fabrik oder das Büro betreten, zu Beherrschten. (Lenz Jacobsen, ZEIT)
Es ist ein Dauerthema von mir, dass die Demokratie in der Wirtschaft praktisch keine Rolle spielt. Seit den 1970er Jahren findet das aber in der öffentlichen Debatte kaum mehr statt. Das war die Hochzeit dafür, mit dem Betriebsverfassungsgesetz und der Idee, den politischen Kampf "in die Betriebe" zu tragen. Sonderlich erfolgreich warm an damals nicht. Ich habe, obwohl ich die Bewegung grundsätzlich sehr begrüße, auch nur wenig Hoffnung, dass das dieses Mal groß anders sein wird. Jacobsens Darstellung hier scheint mir durch sehr rosafarbene Gläser zu schauen. Letztlich wird, wie schon seinerzeit, das Proletariat sich die Mitspracherechte durch Geld abkaufen lassen, um mal in der rhetorischen Mottenkiste zu wühlen. Sollte sich tatsächlich eine größere Protestwelle für mehr Mitspracherechte formieren, werden die Arbeitgeber sehr schnell mit Zugeständnissen auf der pekuniären Ebene genau diese Welle brechen. Darin haben sie lange Erfahrung, und es spricht nichts dagegen, dass das wieder klappt. Angesichts des desolaten Zustands der Betriebsräte auch verständlich.
The Biden administration hoped that the threat of “unprecedented sanctions” would deter Putin from invading and then hoped that imposing these sanctions would strangle his war machine, trigger popular discontent, and force him to reverse course. Putin went to war convinced that Russia could ride out any sanctions we might impose, and he’s been proved right up till now. [...] Second, Putin correctly judged that the Russian people would tolerate high costs and that military setbacks were not going to lead to his ouster. [...] Third, Putin understood that other states would follow their own interests and that he would not be universally condemned for his actions. [...] Most important of all: Putin understood that Ukraine’s fate was more important to Russia than it was to the West. Please note: It is by no means more important to Russia than it is to Ukrainians, who are making enormous sacrifices to defend their country. But Putin has the advantage over Ukraine’s principal supporters when it comes to being willing to bear costs and run risks. He has an advantage not because Western leaders are weak, pusillanimous, or craven, but because the political alignment of a large country right next door to Russia was always bound to matter more to Moscow than it was going to matter to people farther away, and especially to individuals living in a wealthy and secure country on the other side of the Atlantic Ocean. This fundamental asymmetry of interest and motivation is why the United States, Germany, and much of the rest of NATO have calibrated their responses so carefully, and why U.S. President Joe Biden ruled out sending U.S. troops from the get-go. [...] Recognizing this asymmetry also explains why nuclear threats have only limited utility and why fears of nuclear blackmail are misplaced. (Stephen M. Walt, Foreign Policy)
Mir scheinen all diese Feststellungen weitgehend unkontrovers zu sein. Ich bin mir ehrlich gesagt auch unsicher, inwieweit die oft geäußerte Kritik an der Sanktionspolitik - dass die Erwartung ein baldiger Zusammenbruch der russischen Volkswirtschaft war - nicht eine reine Legende ist. Denn unangenehm sind die Sanktionen für Putin; lebensbedrohlich natürlich nicht. Kuba und Nordkorea funktionierten ja auch unter heftigsten Sanktionen weiter, der Iran genauso. Nein, der Effekt der Sanktionen liegt auf einem anderen, langfristigeren Feld. Der Ostblock unterlag ja auch einem permanenten Sanktionsregime, und dieses Sanktionsregime war es, das seinerzeit maßgeblich mit dazu beigetragen hat, dass der Ostblock so stark auf den neuen technischen Gebieten abgehängt wurde (vor allem Mikrochips). Die immer größer werdende Distanz brachte denn auch langsam, aber sicher das strategische Gleichgewicht aus dem Gefüge, was Reagan mit dem SDI-Programm quasi öffentlich machte. Dazu kommt, dass die Sanktionspolitik ja zu guten Teilen der eigenen strategischen Unabhängigkeit von Russland diente, ein Ziel, das weitgehend erreicht wurde (ein Erfolg dieser Politik, über den in meinen Augen zu wenig geredet wird).
8) Plädoyer für die Sechstagewoche für Schüler
Tatsächlich dürfte die Ganztagsschule vor allem Eltern entlasten, die in Vollzeit arbeiten. Ob die Kinder gut aufgehoben sind, gar gestärkt werden, ist eine andere Frage. Die meisten Grundschulen haben weder Küchen noch Mensen; die Kinder müssen in ihren Klassenzimmern das von Fernküchen gelieferte, abgepackte Essen zu sich nehmen. Auch die Frage, wie der Unterricht sinnvoll auf den Biorhythmus der Kinder abzustimmen wäre, findet angesichts der mangelnden Fachkräfte kaum Berücksichtigung; so kommt es, dass Kinder frühmorgens Kunst machen, aber nach dem Essen, wenn ihre Aufmerksamkeit einen Tiefpunkt erreicht hat, Mathe oder Deutsch. Alle Eltern wissen: die Beispiele ließen sich mehren. Doch – das muss wiederholt werden – es ist nicht die Schuld der Schule, die mit den vorhandenen Kräften haushalten muss. Es ist auch nicht die Schuld der Eltern, die arbeiten; viele mit einem schlechten Gewissen. Früher blieben Schulprobleme nachmittags an den Müttern hängen, die sich kümmerten oder nicht; oder an den Großmüttern. Heute müssen und wollen die meisten Mütter wie die Väter arbeiten, und die Atomisierung der Gesellschaft bringt es mit sich, dass die Großeltern oft, ja meistens nicht dort wohnen, wo die Enkelkinder sind. Im Sinne der Eltern wäre es gut, wenn die Kinder nicht nur ganztags, sondern auch am Samstagfrüh betreut werden könnten, wenn die Eltern die Zeit brauchen, die über die Woche angesammelte Hausarbeit, den Einkauf, Reparaturen und dergleichen zu erledigen – vielleicht die Zeit, gemeinsam in Ruhe den Sonntag und die kommende Woche zu planen. Ich habe "betreut" geschrieben, nicht "unterrichtet". Aber auch nicht "aufbewahrt". Was die Schulpolitiker nicht begreifen: Stellt man das Schulsystem auf Ganztagsbetrieb um, muss sich das System ändern. Das beginnt bei Mensen und Küchen – das Essen sollte frisch und unter Beteiligung der Kinder hergestellt werden. Es geht weiter mit Ruhe- und Rückzugsräumen, wo Schulpsychologinnen und Lesepaten arbeiten, Kinder sich erholen können; und es bedeutet, dass die Erziehung in und an der Schule nicht allein Sache der jetzt schon überforderten Lehrerinnen und "pädagogischen Fachkräfte" sein darf: "It takes a village to raise a child." Das von Hillary Clinton zitierte afrikanische Sprichwort bedeutet in diesem Kontext: Die Schule muss das ganze Dorf – die Zivilgesellschaft der Stadt oder des Stadtteils – für die Erziehung einspannen: Sportvereine und Freiwillige Feuerwehr, Tanzschulen, Museen, Malkurse, die – horribile dictu – Bundeswehr und die örtlichen Ausbildungsbetriebe. (Alan Posener, ZEIT)
Als Metabemerkung: Das Framing der ZEIT ist eine Katastrophe. Der Artikel wird in Überschrift und Teaser als Plädoyer für eine Sechstagewoche in der Schule beworben, was in der Argumentation Posensers aber gar nicht drin ist. Da der Artikel aber hinter einer Paywall steht, sind Fehlinterpretationen Tür und Tor geöffnet. Das ist einfach so Kacke. Ich weigere mich auch, die Schuld dafür bei den Konsument*innen zu suchen (ich war nicht der einzige, der dem Irrtum aufgesessen ist; Alan Posener war zum Glück so offen, sich da einem (wenngleich ziemlich bissigen) Austausch zu stellen. Wer Etikettenschwindel betreibt, muss mit dem Echo leben.
Aber zum eigentlichen Thema: ich denke, dass Posener völlig Recht damit hat wenn er fordert, dass es die Räume für Betreuung von Schüler*innen braucht und dass die vermutlich nur im Schulkontext existieren können. Ich habe das ja auch im Podcast mit Maria Tiede diskutiert. Es ist eine logische Konsequenz der Erwerbstätigkeit beider Elternteile, dass die Verantwortung für die Erziehung und Betreuung der Kinder in mehr Hände gelegt werden muss, und in unserer modernen Welt schließt das eine Institutionalisierung mit ein. Die Schulen haben bereits die entsprechenden Strukturen und Räume, um in Poseners Sinn Angebote "aufzupropfen". Da wäre wohl sehr viel mehr möglich.
9) "Diese Kostüme verniedlichen Völkermord" (Interview mit Jürgen Zimmerer)
Gerade beliebte Kostüme wie "Cowboy" oder "Indianer" werden auch damit begründet, dass Deutschland ja keine Verbrechen gegenüber indigenen Nordamerikanern begangen habe. Somit könne es auch keinen Rassismus geben. Ist das ein Argument?
Absolut nicht. Das ändert ja nichts an der Tatsache, dass koloniale Unterdrückungsmechanismen bis hin zur ethnischen Säuberung und Völkermord hinter bestimmten Karnevalsverkleidungen stecken. Kostüme wie "Cowboy" und "Indianer" verniedlichen Völkermord. Stellen Sie sich vor, Sie hätten drei Gruppen in einem Faschingsumzug: Die einen spielen "Cowboy" und "Indianer", die zweiten Juden und SS, die dritten russische Soldaten und ukrainische Zivilisten aus dem aktuellen Krieg. Ich glaube nicht, dass es dann keinen Aufschrei geben würde. Warum also legt man bei "Cowboy" und "Indianern" andere Maßstäbe an?
Was glauben Sie?
Menschen sagen, ich finde diese und jene so toll, deswegen verkleide ich mich entsprechend. Der Genozid an indigenen Gruppen in Nordamerika betreffe sie nicht. Aber man reduziert doch Menschen und Kulturen auf diese Kostüme, die häufig zudem noch ein antiquiertes Bild dieser Gruppen reproduzieren. Und überträgt so rassistische Klischees, etwa das des "edlen Wilden", auf ganze Menschengruppen. So entstehen Zerrbilder. Wir sollten uns stattdessen mit der Lebenswirklichkeit marginalisierter Gruppen in der Gegenwart beschäftigen und nicht an Klischees der Vergangenheit festhalten. [...]
Gerade im Brauchtum wie Fasching hängen viele Menschen an über Jahrzehnte liebgewonnenen Traditionen, meist ohne böse Hintergedanken.
Manche Traditionen sind gut, andere sollten kein Teil modernen Lebens sein. Die Geschichtswissenschaft hat in den vergangenen 40 Jahren herausgearbeitet, wie viele vermeintlich jahrhundertealte Traditionen aus der Hochphase des Nationalismus im 19. Jahrhundert stammen und als ein Herrschaftsinstrument verwendet wurden. Wir haben heute eine Tradition des Rassismus, die sollten wir überwinden. (Jan Voss, T-Online)
So sehr ich bei der grundsätzlichen Kritik einig bin, so sehr finde ich, dass Zimmerer hier in meinen Augen deutlich über's Ziel hinausschießt. Wir legen andere Maßstäbe an, weil es sich um andere Vorgänge handelt (einmal davon abgesehen, dass die Cowboys ja gar nicht die großen "Indianer-Killer" waren...). Das sollte Zimmerer eigentlich auch wissen, der ja normalerweise wesentlich differenzierter argumentiert, gerade was die Frage der Vergleichbarkeit von Holocaust und Kolonialismus angeht.
Was die Faschingsfrage angeht, so liegt die Lösung in meinen Augen auf der Hand: die Kinderliteratur macht es vor. Dort haben wir ja dasselbe Problem in Grün: veraltete Klischees und Stereotype machen viel traditionelle Kinder- und Jugendliteratur beinahe unbenutzbar (ein Beispiel wäre der Papa von Pippi Langstrumpf), weswegen diese auch immer mehr aus der Zirkulation verschwinden und neuen Geschichten Platz machen. Da wir inzwischen ein besseres Geschichtsverständnis haben, sind neue Geschichten auch meist nicht mehr in irgendwelchen Fantasie-Versionen unserer Historie angesetzt, sondern einfach direkt Fantasy. Die Kids verkleiden sich dann eben als Superhelden oder Fantasyfiguren. Spätere Generationen werden das vielleicht dann aus anderen Gründen mal problematisch finden, aber vielleicht sollte man gelegentlich einfach was Neues ausprobieren.
10) The Real Elitists Are at Fox News
According to documents from Dominion’s legal filing, Fox News hosts repeatedly exchanged private doubts about Republicans’ 2020 election-fraud claims. Hannity, in the weeks after the 2020 election, said that the regular Fox guest and top conspiracy-pusher, former New York City Mayor Rudy Giuliani, was “acting like an insane person.” Ingraham had a similar evaluation: “Such an idiot.” And it’s not like Murdoch didn’t share that sentiment: In one message, he said Giuliani and the Trump lawyer Sidney Powell were pushing “really crazy stuff” and he told Fox News CEO Suzanne Scott that their behavior was “damaging everybody.” (Fox reportedly banned Giuliani in 2021, putting up with him for weeks after January 6 and then shutting him down as the Dominion lawsuit gained momentum.) [...] Of course, Carlson wasn’t worried about the truth; he was worried about the profitability of the Fox brand. When the Fox reporter Jacqui Heinrich did a real-time fact-check on Twitter of a Trump tweet about voter fraud, Carlson tried to ruin her career. “Please get her fired,” he wrote in a text chain that included Hannity and Ingraham. He continued: "Seriously…What the fuck? I’m actually shocked…It needs to stop immediately, like tonight. It’s measurably hurting the company. The stock price is down. Not a joke." After the election, Carlson warned that angering Trump could have catastrophic consequences: “He could easily destroy us if we play it wrong.” Murdoch, too, said that he did not want to “antagonize Trump further.” [...] In other words: Our audience of American citizens wants to be encouraged in its desire to thwart the peaceful transfer of power for the first time in our history as a nation. And Bartiromo answered: Yes, let’s keep doing that. As Vox’s Sean Illing tweeted today, Bartiromo’s thirsty pursuit of ratings is a reminder that “no one has a lower opinion of conservative voters than conservative media.” More important, Fox’s cynical fleecing of its viewers is an expression of titanic elitism, the sort that destroys reality in the minds of ordinary people for the sake of fame and money. Not only does such behavior reveal contempt for Fox’s viewers; it encourages the destruction of our system of government purely for ratings and a limo to and from the Fox mothership in Times Square. (Tom Nichols, The Atlantic)
Ich weiß nicht, ob es irgendetwas besser macht, dass FOX News die Demokratie aus reinem Profitstreben zerstört und nicht, weil die Leute von dem Dreck, den sie von sich geben, überzeugt sind. Das Ergebnis ist so oder so das Gleiche. - Über diese Eliten-Thematik habe ich ja im letzten Vermischten bereits gesprochen. Nur dass es bei Hannity und Carlson noch mehr gestellt ist als bei Murdoch oder Trump. Diese Typen hätten ja gerne beides: tagsüber Volksverhetzer, abends anerkanntes Mitglied der gesellschaftlichen Elite. Doesn't fly.
Die Vorstellung, dass das Publikum überhaupt akzeptieren würde, dass es angelogen wird, scheint mir dagegen sehr naiv. Darum geht es ja gar nicht. Truthiness ist das Schlagwort dafür. Im schlimmsten Fall erklärt man einfach alles für einen Witz und lacht dann darüber, dass die dummen Libtards einen für voll genommen haben. Lüge und Wahrheit sind ohnehin wesentlich fluidere Konstrukte, als man selbst immer gerne annimmt. Gefühlte Wirklichkeiten dominieren allerorten, und manchmal mögen sie mit der Realität übereinstimmen. Oft genug tun sie es nicht. Aber sie werden effektiv dadurch real, dass sie von so vielen mit Verve gefühlt werden - ein Paradox, das die Philosophie schon seit Jahrhunderten beschäftigt.
Resterampe
b) Toller Thread zur Nukleartechnologie.
c) ChatGPT löst das bayrische Abitur. Zumindest teilweise.
d) Marcel Fratzscher schreibt zum IRA und warnt vor einem deutschen Alleingang.
e) Guter Punkt zum Glühbirnenverbot.
f) Das kann bezüglich der Katastrophe in Ohio eigentlich auch niemanden verwundern.
g) Diese Beispiele sind schon Wahnsinn.
h) Coole Datenanalyse der Unterstützer*innen des Schwarzer-Wagenknecht-Briefs.
i) Spannender Thread von Rudi Bachmann, warum er nicht nach Deutschland zurück will.
j) Langes Interview mit dem Regisseur von RRR, wen das interessiert. Für mich stellt er sich manchmal absichtlich dumm, aber hey.
k) Mal wieder ein aktuelles Beispiel für Canceln von rechts. Es ist und bleibt ein farbenblindes Phänomen.
l) Dieses Onion-Editorial zur Berichterstattung über Transmenschen trifft den Nagel auf den Kopf.
m) Wir hatten das Thema letzthin schon mal, aber: Die Rodung des Amazonas ging unter Lula gegenüber Bolsonaro um 61% zurück.
n) Spannender Thread zum Grund der römischen militärischen Überlegenheit.
o) Super wichtiger Thread zur Erwartungshaltung von Gewaltbereitschaft beim Klimaaktivismus.
p) Kevin Drum beschreibt den "progressive civil war on trans rights", und oh boy ist mir das alles zu doof. Dieser Radikalismus von Basisaktivist*innen ist einfach nichts für mich. Und leider Gottes haben wir da auch mal wieder ein tolles Beispiel für linke Cancel Culture am Laufen.
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